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An Alle, 19. November 2018, Uvira, Ost-Kongo

... Fisherman hat zugestimmt, mit mir auf den See zu gehen. Während wir auf dem See waren, und es stiller und stiller wurde, da habe ich wieder einmal gespürt, was ich nicht mehr kann! Aber ich habe auch gespürt, was ich noch kann, zum Beispiel auf dem Tankanika-See sein, nicht im Rollstuhl, sondern in einer kleinen Piroge.

Da fischen Fisherman und sein Partner Nacht für Nacht. Das ist deren Verdient. Wenn einer "krank" ist, dann ... nein, eine Rente kriegen sie nicht, auch auf eine I.V. oder ein Krankengeld hoffen sie vergebens. Dreieinhalb Meter lang und Einszwanzig Meter breit ist die Piroge. Sie rudern, dann werfen sie ein langes Netz aus und warten. Drei, vier  oder fünf KG fisch machen sie in einer Nacht. - Wenn ich zwei Stunden auf den See gewesen bin, dann reicht's mir eigentlich. Aber ein ganzes Leben? Es gibt doch so viel zu tun. Man muss doch die Welt retten – jedenfalls ein bisschen, oder ...

Ich habe nachgedacht. Jetzt ist Halbzeit für mich in Kongo. In einem Monat werde ich wieder in der Schweiz sein. Was mache ich noch? Ich merke, dass Masemo ganz zufrieden ist, wenn ich ein Mail schreibe oder lese. Dann kann er was anderes machen. Masemo ist Masemo! Er hat bestimmte Projekte im Kopf und die zieht er durch. Er hat sich wieder an sein Leben gewöhnt, obwohl er gesagt hat, er sei immer für mich da. Ich habe ihm von der Schweiz aus geschrieben, dass ich für Betreuung bezahle. Nein, er wolle Nichts. Betreuung, auch das macht er "gratis". Aber jetzt zeigt sich, wer der Stärkere ist. Es ist schon ein bisschen so, dass er sagt, ich gehe kurz weg, und dann verschwindet er für drei Stunden. Also, ich muss mich mehr wehren.

Was will ich noch in Uvira: Praktisches in der Blindenschule regeln, zum Beispiel die Blindenschriftbücher zwischenzulagern. Sie nehmen nur Platz weg für wichtigeres! Dann besprechen was geschieht, wenn es zu Eng im Haus ist. Aussen hat es eine Mauer, die nur andershalb Meter Luft zum Atmen lässt. Das Tor ist immer verrammelt. Im Haus hat es vier Zimmer für alles das ansteht: Schule geben, Essen, Schlafen, spielen, Aufgaben machen und was es sonst noch zu tun gibt. Wenn wir – ich merke, dass ich schon ganz im Projekt stecke! – wenn wir vorhaben, die Blindenschule zu vergrössern, dann ist der Platz relativ bald ein Problem.

Dann habe ich eigentlich vor,   blinde Menschen zu besuchen, die nicht zu den ärmsten Menschen zählen, und mich mit ihnen zu unterhalten. Was machen sie jetzt und in der Zukunft. Wie sehen sie andere blinde? Wie sehen sie sich? Weggehen oder in Uvira bleiben?

Vielleicht gehe ich auch nach Bukavu, um dort politischere Menschen zu treffen, und in Uvira interessantere Unis zu sehen als die UPP, wo ich vor 7 Jahren für ein halbes Jahr Rektor war.

Ich nehme mir vor, morgen früh mit Masemo ins teuerste Hotel zu gehen und dort einen richtigen Kaffee zu trinken!, und Pläne für die nächsten Tage zu machen. Es klingt gut, wenn man nicht mehr weiss wie weiter. Vielleicht gibt's dort auch einen zweiten Kaffee? Nein? Es ist glaube ich nicht so spannend wie in Jats oder in Islamabad. Ich bin wieder einmal von der Realität überholt worden, eine Realität, die viel gravierender ist als ich gemeint habe.

In dem Territorium von Uvira gibt es zum Beispiel Schulen, die wahrgenommen und auch besucht werden bis ... das Geld für eine Schule einfach nicht mehr da ist. Man denkt sich wahrscheinlich die Eltern kommen für das Schulgeld auf, aber viele Kinder verdienen im August durch den Fischfang so viel, dass die Kinder selbst alles oder vieles – die Hefte, die Schuluniform etc - kaufen und das Schulgeld selber zahlen können. Nur eben: Die Eltern sind zu arm und die Kinder haben im Dezember oder Januar auch ausgegeben, was sie gespart haben, also ausgeträumt der Traum in die Schule zu gehen. Wann man wieder in die Schule gehen kann? Im Herbst oder vielleicht in drei Jahren oder nie mehr, wer weiss es! Die Mädchen braucht man für die kleineren Geschwister, weil die Frau auf dem Feld arbeitet und der Mann, wenn er eine Arbeit findet, zum Beispiel in einer so called Uni als Nachtwächter oder als Fischer, hat man es für den Moment geschafft. Wenn die Frau oder der Mann krank wird, dann ... dann geht das ganze wieder von vorne los! Die Kinder können kein Schulgeld zahlen, sie Betteln und – naja, der Lehrer hat erbarmen für einen oder zwei Monate, und dann schickt er sie heim. Er hat auch Hunger und er weiss was es heisst, wenn man hungrig ins Bett geht. Ja, die Kinder betteln, weil sie mitverdienen müssen, nicht weil Betteln cool ist!

In Uvira gehen im Herbst 80 oder 90  Prozent der Kinder zur Schule. Im Januar sind es noch 50 oder 60 Prozent. Vielleicht kommen einige in drei Jahren zurück, und sie machen da weiter wo sie aufgehört haben, sodass sie 25 sind wenn sie das Abitur machen. Das Abitur! Was lernt man, wenn die Leerer nachbeten was vor 20 oder 40 Jahren vielleicht aktuell gewesen ist. Eine Lehre gibt es nicht, und ein Diplom ist sehr sehr wichtig, obwohl ... ja, auch mit einem Diplom oder einem Liz steht man auf der Strasse, denn eine Arbeit ... gibt es nicht.

Die blinden und mehrfach behinderten Menschen sind eine zusätzliche Last. Wer etwas produktives beiträgt, den akzeptiert man als Familienmitglied. Die behinderten verstösst man, oder sie kommen als letztes Glied der Familie zum Zug. Wenn sie noch in der Lage sind zu betteln, umso besser. Wenn sie nicht einmal betteln, sondern nur auf dem Bett – Bett ist ein Euphemismusfür alles mögliche! – also auf dem "Bett" liegen und dösen oder wach sind und ins leere starren dann kümmert sich keiner mehr um sie. die anderen  sind ausser Haus, eine Arbeit zu suchen oder auf dem Feld, primitive Arbeit – aber wenigstens eine Arbeit! Eine Parzelle oder 2 oder 3 haben sie vielleicht, das heisst, pro Parzelle vielleicht 25 auf 50 Meter, um Gemüse und Kartoffeln anzubauen.  Ohne diese wären sie verloren.

Vor drei vier Wochen ist in der Blindenschule die Idee entstanden, wieder einmal in die Öffentlichkeit zu gehen und auf die Situation der Blinden aufmerksam zu machen. Gut, Masemo und ich haben uns vor einigen Tagen aufgemacht, die öffentliche Veranstaltung zu besuchen, die auch mit Masemos hilfe zustande gekommen ist. Aber oh je! Zuerst haben sie  zwei Stunden lang Gott in den Himmel gesungen. Ich bin ja nicht dagegen, dass man Gott lobt und preist, aber hier? Es ging nachher wirklich um die Blinden, aber fast alles – das Singen und die anschliessenden Referate  - gingen unter vor Lärm. Ich hielt es nach einer Stunde nicht mehr aus, und ich  ging raus – noch einmal vier Stunden! Ich möchte, wenn ich mich ein bisschen abgeregt habe, wissen, wer diese Lautstärke verträgt! Ich jedenfalls nicht! Die anderen vermutlich auch nicht, aber man hält es einfach aus. Damas, ein blinder Redner, hat man als einzigen verstanden, und ich habe Freute gehabt an seinem Text.

Man sagt, Kongo ist ein failt State, also gibt es keinen Staat mehr. Das stimmt in Uvira nicht. Man geht zuerst zu der City, also eine staatliche Stelle. Klar, die Administration klagt auch, und meistens muss man unter dem Tisch ein oder zwei Noten, natürlich in Dollars, zahlen. Auch wir haben für die öffentliche Veranstaltung staatliche Stellen angeschrieben und gebeten, einige Worte zu der Versammlung zu sagen. Es ist niemand gekommen. Aber angeschrieben haben wir sie. Also im Sterben liegt der Staat, aber ganz gestorben ist  er noch nicht.

Heute habe ich wiedereinmal ein Gespräch mit Masemo gehabt. Ich habe zuerst gefragt, wie man nach Bukavu, die Hauptstadt von Süd-Kivu, kommt. "Weisst du, man könnte theoretisch im Kongo bleiben und über die Berge in Bukavu ankommen. Aber es würde anstatt 3 12 Stunden gehen, und es wäre wahrscheinlich, dass vor allem der Weisse, also zum Beispiel Du, gekitnäppt wirst. Über Ruanda geht es nur 3 Stunden. - Es würde sich sicher lohnen, einmal die Hauptstadt Bukawus zu sehen, und auch da Beziehungen zu haben. Ja, es gibt auch Schiffe, die über den Kivu-See von Bukavu aus Goma anlaufen.

Dann frage ich weiter: "Was ist mit dem Militär und der Polizei?" "Das ist nicht so leicht zu erklähren. Zuerst kamen wir gut aus mit dem Militär. Sie müssen auch sehen, dass sie einen Lohn haben der reicht zum Leben. Also stehlen sie vor allem Handys und so etwas. Aber eben. Sie haben gewöhnlich Frau und Kinder. 2018 verschlechterte sich die Lage. Da kamen viele neue Einheiten in die Stadt. Es wurde gesagt, sie Schützen die Bevölkerung. Aber das tun sie nicht. Sie können auch Zivilpersonen erschiessen, und das ist einige male geschehen. Auch alte Einheiten sind jetzt anders als vor einem Jahr.

Die Polizei darf von Gesetzes wegen nicht schiessen. Sie hält sich daran. Darum ist die Polizei ganz auf unserer Seite. Sie sind auch Korrupt, aber anders. Sie erwischen zum Beispiel ein Schwein auf der Strasse. Schweine müssen aber eingesperrt sein. Also halten sie das Schwein gefangen bis der Besitzer das Schwein für sagen wir mal 20.000 Kongolesische Franken ausgelöst hat. Dann haben die Polizisten zu essen, und das Schwein ist noch am Leben." – "Und was für einen Wert hat das Geld?"

"Weisst du, wir sind arm. Wenn die Mutter oder der Vater nicht mehr kann, dann hungern wir, vielleicht nicht praktisch aber – man kann sagen, wir hungern auch. Wenn die Ernte gut ist, und auch ich und die Brüder mehr oder weniger gesund sind, dann geht es relativ gut. Aber wenn die Ernte schlecht war und ich krank bin oder keine Aufträge bekomme, dann hungern wir auch. Wir müssen Felder, die wir gepachtet haben, dem Pächter zurückgeben, aber Gottseidank haben wir jetzt Martin. Wenn es ganz schwierig wird, dann müssen wir das Haus verkaufen, und das Geld wieder Investieren. Ich merke, etwas stimmt da nicht. Aber was ich generell gesagt habe, das stimt." – Ja, ich glaube auch, ich bin etwas naiv gewesen, dem Masemo ein Haus finamziert zu haben. Aber gut, sie haben für Uvira ein wirklich gelungenes Haus, und ich wohne, wenn ich in Uvira bin, dort."

"Und die Flusspferde, gibt es die wirklich?" "Natürlich. Der Tankanika-See ist gefährlich. Es sind immer wieder ertrunkene Menschen gefunden worden. Auch Hexen gibt es dort. Sie ziehen Menschen hinunter, und sie tauchen nie wieder auf. Man hat Menschen gefunden, die oben Menschen sind und unten Fische! Ich glaube natürlich nicht daran, ich bin Katholik! aber es ist trotzdem wahr."

Masemo weiss viel und zugleich weiss er erstaunlich wenig. Er kann nicht sagen, wie hoch über dem Meeresspiegel er lebt, oder wie hoch der höchste Berg in der Gegend ist. Aber Fischen in der Nacht und in Feld stehen und Pflanzen, Mauern bauen und Ziment mischen und nebenbei Studieren, das kann er.

Heute habe ich einen Entschluss gefasst. Wir suchen eine Parzelle. Das heisst, die anderen suchen und ich verstecke mich hinter einem  Mäuerchen, und ich schaue heimlich zu. Morgen wird's losgehen. Es wird spannend. - Fortsetzung folgt ... oder nicht!

Ganz gute Zeit – Martin