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An Amie D., 17. August 2021, Basel

Liebe Amie! Der Familie in der Schweiz geht es gut, no Korona, no other ellnisses. Hans ist jetzt 96, er vergisst mehr und mehr; es ist ein bisschen wie bei mir: Die "Intelligenz" ist unverändert da, aber das Gedächtnis ist lausig!

Weiss du was "lausig" meint? Wenn du "lausig" kennst, dann lade ich dich zu einem doppelten Espresso ein! "Lausig" ist so wie "sehr schlecht". Man kann im Übrigen auch den Kaffee "lausig" finden ... Also das ist das.

Die Brüder sehe ich selten, zwei drei Mal im Jahr, Hans besuche ich ein zwei oder drei Mal pro Woche. Er ist nur 10 Minuten zu Fuss von mir weg, so dass wir ihn auch nur für eine Viertelstunde sehen können, meistens bleiben wir allerdings länger. Immer wieder ist es einfach anregend mit ihm. "Mit ihm" heisst, ich brauche immer einen, der mich begleitet. Das engt mich natürlich mobilitätsmässig ein, aber gut: es ist wie es ist! Den Hirnschlag habe ich auch nicht gewollt; einigen passiert es, anderen nicht. Ich könnte das auch Leben + nennen, aber das ist mir zu kitschig - vielleicht braucht du doch ein Wörterbuch ...?

Mein unendliches Buch der Bücher! Ja ja! Ich habe einige bestochen mir das Buch der Bücher aus den Händen zu reissen und es zu drucken, während ich gefesselt auf dem Boden liege und dem ganzen ohnmächtig zukucken muss! Ernsthaft: Wir sind mit dem Manuskript fast fertig. Wenn ich mich nicht wieder quer stelle und sage; halt, halt, halb, dann ist das Buch in einer Woche fertig, und die Verlagssuche beginnt ...

Ja und du? Hast du das Haus in Davis definitiv verkauft? Lebst du jetzt im Lumbo oder zwischen allen Stühlen! Last in space? Wieso hast du das Buddhistische Zentrum verlassen? Warum? In Colorado zu leben ohne irgendwie eingebunden zu sein und eine Aufgabe zu haben, stelle ich mir hart vor. Ich jedenfalls möchte etwas "sinnvolles" tun, aber was?

Da stehen wir wieder ein bisschen ratlos! Ich schrieb fünfzehn Jahre zuvor das gleiche, nur dass ich fünfzehn Jahre älter und im Rollstuhl bin. „Warum funktioniert das Ding nicht mehr so recht? Ich war doch lange sicher, dass ich nie ohne interessante Arbeit, ohne ein spannendes Projekt und eine faszinierende Idee dastehen würde. Seit einiger Zeit  bin ich mir da nicht mehr so sicher. Im Prinzip "interessante" Projekte, die ich in Angriff nehmen könnte, scheinen mir plötzlich fad. Immer schneller frage ich mich: Wozu. Ich sinke durch eine Schicht vertrauter Träume und Ideen ohne zu wissen, ob dieser Prozess der rapiden Desillusionierung in einem Crash endet oder ob ich von einer neuen Illusion aufgefangen und für ein paar weitere Jahre festgehalten werde." – Ja, so habe ich in Variationen immer wieder geschrieben ...

Jetzt ist Rauchen angesagt und essen! Darum Amie, ist für jetzt Schluss. Hug and kisses, ganz herzlich, Martin