www.martinnaef.ch / 1.2: Briefe > An Anja M., im August 1989, Basel
.

An Anja M., im August 1989, Basel

Liebe Anja! Vielen Dank für Deinen letzten Brief, den Urs mir soeben vorgelesen hat. - Was an meinem müden, verqueren Nachtprodukt ernst gemeint, und was nur so dahingesagt, gesponnen, gejuxt ist, das ist auch für mich ganz schwierig zu sagen. Bedeutung kann ich natürlich in jeden Satz hineinsehen, da wir von so viel "Bedeutung", so vielen Gedanken, Gefühlen, Situationen, Bezügen erfüllt und umgeben sind. Jeder noch so blödsinnige Satz könnte etwas bedeuten, zu jedem könnte ich Dir etwas wirklich ernsthaftes sagen, auch wenn ich ihn damals, vor zwei oder drei Wochen wirklich bloss so hingeschrieben habe. (Und dies war bei den meisten Sätzen jenes Nicht-Briefes der Fall, da mich, wie das Wiesel im berühmten Bachgeriesel mehr der Klang der Worte und weniger ihr Inhalt faszinierte). Dass Dein Brief ernst gemeint war und ist, ziemlich ernst von A bis Z, das habe ich dagegen stark und ohne Zweifel gespürt.

Ja der Mensch: Nach oben Katzbuckeln und gegen unten treten! Jeder ist sich selbst der nächste! Dem Tüchtigen gehört die Welt! Lassen fallen, wer da fällt, denn das ist gut so! Das Fressen kommt vor der Moral! Homo homini lupus ... - Ist es die Erziehung, die die andern Seiten des Menschen so sehr verkümmern lässt, die diese andern Seiten so sehr einschüchtert und aus dem offiziellen Menschen, der offiziellen Gesellschaft und Kultur gewissermassen verbannt? - Dass da andere Seiten sind - der Wunsch gut und fär zu sein, der Wunsch, einem Andern nicht weh zu tun, Freude an Liebe, am Lieben und am geliebt Werden -, dass Menschen manchmal wirklich uneigennützig, grosszügig, liebevoll etc. sind, das glaube ich schon; ich glaube es und hin und wieder erlebe ich es auch an mir: Da meinte ich, bestraft oder zurechtgewiesen zu werden weil ich dies oder jenes nicht gebracht habe, und plötzlich sagt mein Gegenüber: "ist schon o.k. - macht nichts" oder "nimm's dir doch nichts so übel, Mensch!" Solche Erlebnisse sind für mich gewissermassen wie das kurze Aufblitzen oder Herausgucken des Menschen, den Du, wenn Du so um Dich und in die Weltgeschichte schaust, so sehr zu vermissen scheinst.

Pestalozzi hat anscheinend einmal gesagt, jeder Mensch habe den Wunsch gut zu sein; böse werde er nur dann, wenn sich diesem Wunsch Hindernisse in den Weg stellen, die er nicht zu überwinden vermag. - So denke ich selbst, glaub ich, nicht, aber wohl ganz ähnlich. Ich glaube ganz sicher, dass alle Eigenschaften an Menschen, die ihn oft so abstossend machen, all die Eigenschaften, die wir meist als "negativ" bezeichnen, dann hervortreten, wenn ein Mensch in Bedrängnis ist, wenn jemand sich unwohl fühlt. Und das, was jemand im Laufe seiner Kindheit und Jugend zu Hause, auf der Strasse und nicht zuletzt in der Schule mitgekriegt hat, das kann, meiner Meinung nach, durchaus eine Art dauernden Unwohlseins erzeugen, ein ständiges, mehr oder weniger bewusst empfundenes Gefühl, irgendwie daneben und bedroht zu sein, bedroht, weil man eben nicht o.k. ist. Wenn Du als Kind immer zurechtgewiesen wurdest, weil Du Deine Schuhe schon wieder nicht ordentlich hingestellt oder den Deckel schon wieder nicht auf die Zahnpastatube geschraubt oder Deine Hausaufgaben schon wieder nicht gemacht oder auf dem Pausenplatz mit einem andern Mädchen oder einem Jungen rumgeschmust oder gegähnt hast, ohne die Hand vor den Mund zu halten, dann wird durch diese Art der gefühlsmässigen Umgebung sicher ein anderes Selbst- und Lebensgefühl erzeugt, als wenn Du erlebt hast, dass man Deine Lebensäusserungen ernst nimmt, dass man versucht ihren Sinn zu verstehen, dass man dir nicht nur ein- sondern, wenn's sein muss, auch zwei- oder sieben Mal erklärt, warum man das oder jenes gerne hätte, statt mit dir gleich so zu sprechen, als ob du aus Bosheit und Gemeinheit dies oder das "schon wieder nicht" gemacht hast. -Im einen Fall entsteht das Grundgefühl: meine Lebensäusserungen sind, sobald von der Norm abweichen, nicht legitim; ich muss sie unterdrücken, oder ich muss den andern verdammtnochmal eins auf die Rübe hauen, weil ich nähmlich auch jemand bin und das Recht habe, so zu fühlen, so zu denken oder Handeln! (Also Unterwürfigkeit, ein selbverständlicher Anpassungsreflex gepaart mit einem ziemlich beträchtlichen Agressionspotential). Im Andern Fall entsteht das Grundgefühl, das sagt, ich bin o.k. - du auch, und wenn's Konflikte gibt, dann müssen wir halt kucken, was dahinter steckt (bei dir und bei mir) vielleicht auch an Missverständnissen etc.; auf die Rübe hauen brauchen wir uns deshalb noch lange nicht, denn es ist ja für beide Platz auf der Welt. - Im einen Fall gibt's bei Konflikten nur "sich fügen" oder "sich durchsetzen", gewinnen oder unterliegen. Für solche Menschen, die in ihrem Leben eher erfahren haben, dass Platz ist für sie, dass sie nicht zu kämpfen brauchen, um in dieser Welt zu bestehen etc. ist diese Grundannahme fast unverständlich; sie reagieren bei Konflikten nicht mit zusammenklappen (selbstaufgabe, blindem sich Anpassen) oder mit dreinschlagen, sondern eher mit Interesse und mit Neugier. Sie beschäftigt nicht die Frage, "wer gewinnt", sondern sie versuchen herauszufinden, weshalb das Leben, das gegenseitige Gespräch plötzlich blockiert scheint und wie der beidseitige Frust, das Gefühl nicht verstanden zu werden etc. wieder zu beidseitiger Zfriedenheit werden könne. Nachgeben, auf den andern Eingehen etc. heisst dabei nicht gerade "verlieren" und zu kurz kommen.

Natürlich sind das Typisierungen von zwei Grundstimmungen, die in jedem Menschen immer beide vorhanden sind, die sich in uns immer mehr oder weniger beide regen, sich ineinander verschlingen, sich ablösen und hin und her gehen, einmal ist mehr die eine, einmal mehr die andere Stimmung im Vordergrund; aber ich denke doch, dass es Menschen gibt, bei denen die eine und Menschen bei denen die andere Stimmung eher vorherrschend ist. Und ich denke, dass die Kinder- und Jugendzeit doch recht wichtig ist, wenn natürlich auch spätere Erlebnisse und die momentane Situation einen grossen Einfluss auf die Stimmung eines Menschen haben und dessen Grundstimmung auch in späteren Jahren sich noch verändern kann.

Unser Bildungswesen, unsere Schule interessieren mich deshalb so besonders, weil hier eine Auffassung vom menschlichen Miteinander, die eher vom bösen, kleinlichen, egoistischen Menschen ausgeht, institutionalisiert ist und systematisch und flächendeckend weitervermittelt und damit ständig reproduziert wird. Mit dieser heute anscheinend vorherrschenden, gewissermassen "offiziellen" Auffassung des Menschen bin ich jedoch nicht einverstanden, und dies nicht, weil ich weiss, dass ich mit meiner (optimistischeren) Auffassung "Recht" habe oder weil ich etwa denke, dass sie moralisch "höherstehend" wäre oder so. Nein, ich will zu diesem Menschenbild nicht ja sagen, mich ihm nicht fügen, weil mir meine Auffassung besser gefällt, und ich keine Lust auf eine Welt habe, die auf Sätzen wie "der Mensch ist nun mal ein Egoist" und solchem Mist beruhen. Ich will nicht in einer Welt leben, in der eine Art Dauerkrieg zwischen allen Menschen als normal anerkannt oder womöglich noch als unumgänglich verehrt wird. - Dabei kommt's mir so, wie Du in Deinem Brief auch geschrieben hast: lieber an diese Möglichkeit, diese Welt glauben und mich für sie einsetzen, als resignieren und mich der "Realität" ergeben - auch wenn mein Engagement ganz aussichtslos scheint. Natürlich ist es schön, "Erfolge" zu haben, zu sehen, wie die Welt allmählich aufwacht, wie der heute ständig angeheizte Bürgerkrieg allmählich zu Ende geht, wie hie und da Insel des Friedens auftauchen, Menschen plötzlich wieder Lachen, ohne Grund, einfach so, - natürlich ist es schön, das zu erleben; aber auch wenn ich das Gegenteil erleben würde, was hätte ich davon, meinen Glauben an den Menschen über Bord zu werfen? Gerade wenn die Zeiten schlecht sind würde ich damit doch das über Bord werfen, was mich einzig noch am Leben hält, das Gefühl, das Bewusstsein, die Gewissheit, dass es anders sein kann, dass Menschen, auch ich unter bessrn Umständen anders, besser, liebevoller, offener, fröhlicher sein können! - Dass ich mich weigere, meinen "Glauben" (und es handelt sich dabei letztlich tatsächlich um einen Glauben im religiösen Sinn) über Bord zu werfen, das bedeutet nicht, dass ich nicht oft ganz mutlos oder resigniert und müde bin, und meine Kräfte gerade nur noch dazu ausreichen, einen schützenden Blumentopf oder sonst etwas über meinen "Glauben", dieses merkwürdige, hartnäckige Etwas in mir zu stülpen, damit er die Dürre, die Hoffnungslosigkeit überlebt. Auch meine Kräfte sind beschränkt, sehr beschränkt und ich kenne das Gefühl der Resignation gut; ich hoffe nur, dass ich mich nie dazu hergeben werde, zu Sätzen wie "die Menschen sind nun halt mal schlecht" etc. und vor allem zu der dahinter liegenden Haltung ja zu sagen und meinen innern Widerspruch und Widerstand dagegen, mag er auch noch so hilflos, so zaghaft und geschunden sein aufzugeben.

Sprechen müssten wir darüber - Du hast schon recht -, die Einwände, die wenn's und aber's ausdiskutieren, die möglichen praktischen Konsequenzen, das was grundsätzlich und allgemein, und das, was in dieser oder jener Situation konkret allenfalls "machbar" ist (z.B. in der Schule, aber auch an allen andern Orten unseres privaten und gesellschaftlichen Lebens) ins Auge fassen, das müsste man. Bewähren tun sich solche Überzeugungen ja immer nur in konkreten Handlungen ... Und, wer weiss, vielleicht würden wir im Gespräch, bei genügend Zeit und Ruhe, nicht nur auf Gegensätze, sondern auch auf Gemeinsamkeiten stossen, vielleicht würde ich zu Deinen Bedenken mehr als Du vermutest ja sagen, und vielleicht würdest Du zu meinen in der Ferne schwebenden Ideen mehr als ich vermute ja sagen ... Ich schicke euch, Dir und Michael in den nächsten Wochen vielleicht einmal einen Text, den ich vor einigen Monaten entworfen habe. Vielleicht hast Du Lust, diesen Text, den "Traum eines Anarchisten", dem Michael vorzulesen, und vielleicht hat er Lust, zuzuhören. Ich habe allerdings noch immer das Gefühl, dass ich ihn vorher noch einmal überarbeiten und etwas straffen müsste ... aber wer weiss.

In diesem Brief ist's mir jetzt also auch richtig ernst gewesen, vielleicht schon fast etwas übermässig ernst! Ich hoffe, Du liegst jetzt nicht ganz k.o. in der Ecke oder hast, falls das doch der Fall sein sollte, noch viel Kräfte übrig, Dir in einer halben Stunde oder in wzei Tagen nochmals den einen oder andern Satz in diesem Brief anzusehen; vielleicht lässt er sich so allmählich sogar ganz verdauen.

Von "äussern Dingen", Aktivitäten, Erlebnissen, Plänen etc. will ich jetzt nicht mehr schreiben, denn ich spüre, wie mich plötzlich wieder diese und jene Pflichten zu rufen beginnen: du solltest noch dem Herrn X anrufen - der Frau Y schreiben - dann müsste ich noch (oder will ich es tun) das Treppenhaus staubsaugen, den Herd putzen, das Konzept für einen "Individualvorlesedienst für Blinde und Sehbehinderte", das Hans F. mir geschickt hat, überarbeiten, der B. noch die Termin für den Kurs "Mensch zwischen Emanzipation und Anpassung" durchgeben etc. etc. .... In die Ferien will ich schliesslich auch noch, bevor der Ernst des Lebens mich wieder ganz in seinen Armen hält! - Zu einem Besuch von mir bei Euch wird's in nächster Zeit vermutlich nicht kommen. Wenn ihr Zeit und Lust auf Luftveränderung habt, so wär't ihr mir in der Woche vom 27.8. bis zum 2. oder 3.9. auf dem Hasliberg sehr willkommen. Ich bin in dieser Zeit erst locker verpflichtet und eingebunden dort oben und hätte zwischendurch (nicht dauernd) durchaus Zeit und Lust, mit euch zu sein, zu schwätzen, zu wandern oder doch zu spazieren, vielleicht auch mal Eis zu essen oder Musik zu machen etc. - Platz ist in der Zeit auch noch, da die Schüler dann noch nicht in der Schule sind, sodass ihr gut ein Zimmer für euch (mit Balkon) haben könntet! - Man kann dort oben auch gut (dies ein Spezialtip für Dich, liebe Anja) arbeiten, z.B. Hausarbeiten schreiben etc. ... Überleg's euch, und wenn's grundsätzlich in Frage käme, so ruft doch an, damit wir die Sache noch im Detail bereden könnt. Da ich in nächster Zeit ziemlich viel unterwegs bin, müsst ihr vielleicht dem Urs sagen, er solle mir, ich solle euch zurückrufen; das geht dann jedenfalls irgendwann.

So. Jetzt ist aber endgültig Schluss. Nochmals, liebe Anja, vielen Dank für alles was Du geschrieben hast! Ich hoffe, die Quälerei mit der Arbeit dauert nicht mehr allzu lange; vielleicht wird das Unternehmen gegen Ende sogar plötzlich und unerwartet noch richtig erfreulich - zu gönnen wär's Dir auf jeden Fall!!! - Grüss mir bitte auch Michael ganz herzlich von mir, und wenn ihr Muttern seht oder Vater oder die alte Oma, dann grüsst auch sie. Tschööö und bis bald,