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An die Freie Volksschule Solothurn, 7. Oktober 1997

an alle,  Mädchen und Buben, Frauen und Männer der Freien Volksschule Solothurn! Wann war das bloss, als ich bei Euch war? Vor etwa einem Jahr? Ja, ich glaube. Es war ein schöner, sonniger Herbsttag. Stimmt's? Wir haben in Eurem Versammlungszimmer gesessen und über das Blindsein geredet. Später habt Ihr mir dann ein dickes Couvert mit Post geschickt!  Viele Sachen, die ich mit den Fingern lesen und "anschauen" konnte!

Eure Post habe ich schon lange gekriegt, aber als sie kam, war ich gerade in Amerika. Ich habe nämlich mehr als ein halbes Jahr Ferien gehabt, und da bin ich ein wenig in den USA herumgereist. Ich kenne dort ziemlich viele Leute und habe jetzt wieder Neue kennengelernt! Es war eine spannende Zeit!

Ich bin mit einem Frachtschiff von Italien nach New York getuckert. Das ging ziemlich genau zwei Wochen. Am Weihnachtsabend waren wir in  einem Hafen bei Marseille in Frankreich, und Silvester haben wir auf hoher See gefeiert! Bevor ich auf's Schiff ging, hatten mich alle gewarnt, dass es während dieser Jahreszeit sehr stürisch sei auf dem Atlantik. Das war dann aber überhaupt nicht so! Wir konnten sogar im T-Shirt an Deck herumspazieren, so warm war es. Wir das ist ein Franzose und ich. Der Franzose hiess Richard, und er und ich waren die einzigen Passagiere auf dem riesigen Schiff. An einem Tag haben wir uns den Motor des Schiffes (man sagt eigentlich, die "Maschine") angeschaut! He, ihr glaubt es nicht! Das Ding ist etwa so gross wie ein dreistöckiges Haus! Wenn man in den Maschinenraum runtersteigt, dann geht man wie auf Balkonen immer drum rum, entweder ganz oben oder ein oder zwei Stockwerke tiefer! In der Mitte ist eben diese Maschine! Die macht einen wahnsinnigen Lärm, wobei es zum Teil ganz spannend klingt - wie ein Musikstück für 100 Schlagzeuge! Überall klopft und kanllt und hämmert und bummert und dröhnt es! Die reinste Fabrik! - Der Ingeniör, der uns die Maschine erklärt hat, sagte, wir bräuchten 50 Tonnen Dieselöl pro Tag! 50 Tonnen pro Tag - so riesig war das Schiff! Meine Mutter braucht glaube ich etwa 3 Tonnen Öl, um ihr Haus einen ganzen Winter lang zu heizen! Und dieses Schiff 50 –Tonnen an einem Tag!

Also, das war spannend. Auch der Fehlalarm mitten in der Nacht, und der Übungsalarm, bei dem wir alle in die Rettungsboote mussten! Im übrigen hatte ich eine total luxeriöse Kabine ganz für mich: Mit WC und Dusche, einem breiten Bett, einem Schreibtisch,einem Sofa und einem Clubtischchen davor, einem Kühlschrank und einem Fernsehapparat mit Videogerät. Also wirklich luxeriös!

In New York habe ich einen Schwarzen getroffen ("Neger" soll man nicht mehr sagen), der seither eine Art Freund von mir geworden ist. Der erste schwarzhäutige Mensch, den ich näher kennengelernt habe. Da ich seine Hautfarbe ja nicht gesehen habe, hat es ein paar Tage gedauert, bis ich gemerkt habe, dass er eine schwarze Haut hat! Wenn er es mir nicht gesagt hätte, wüsste ich es jetzt noch nicht. Für ihn ist es jedoch ein grosses Problem, denn er sagt, er werde oft schlecht behandelt, weil er ein Schwarzer sei. Er hatte fast kein Geld, als ich ihn traf, und hat auf der Strasse gelebt. Geschlafen hat er meistens auf einem Schulhof oder sonst wo, wo man ihn nicht gestört hat. Und seine Sachen hat er immer in einem Papiersack bei sich gehabt. Er hat seither versucht, eine richtige Arbeit zu finden, damit er Geld für eine Wohnung hätte, aber ich glaube, er hat noch nichts gefunden. Er hat kürzlich wieder bei mir angerufen, doch war ich nicht hier. Mal sehen, was er jetzt erzählt!

Das ist erst der Anfang meiner Reise! Wenn ich Euch alles erzählen würde, dann würde dieser Brief ein richtiges Buch! Darum sage ich Euch nur noch, dass ich wieder mit einem Schiff zurückgekommen bin, diesmal aber mit einem rihtigen Segelboot -, also noch viel romantischer und abenteuerlicher als auf dem Hinweg! Allerdings haben der Kapitän des Bootes und ich unterwegs irgendwie Krach gekriegt, sodass ich leider schon nach 7 Tagen wieder von Bord musste! Ich glaube, er wollte mich loswerden, weil es ihm zu gefährlich war mit einem blinden Menschen. Naja. Er kennt mich ja nicht und er hatte halt Angst. Aber Schade war's schon! Ich finde Segeln nämlich supertoll!

Ja, und jetzt bin ich wieder hier und beantworte all die Briefe, die während meiner Abwesenheit bei mir angekommen sind! Inzwischen sind ja sicher einige von denen, die ich im letzten Herbst bei Euch kennengelernt habe, gar nicht mehr bei Euch? Überall geht das Leben immer weiter und überall passiert immer irgend etwas!

Wer weiss. Vielleicht sehen wir uns ja wiedermal, oder jemand von Euch hat Lust, mir zu schreiben. Falls Ihr inzwischen auch am Internet angeschlossen seid, so könnt ihr mich auch per Email erreichen, dann schwätzt mir mein Computer vor, was Ihr schreibt. Sehr praktisch! Sonst sage ich für heute einfach mal: Good bye und tschüss und nochmals vielen vielen Dank für Eure Kunstwerke! - Ganz ganz herzliche Grüsse, Martin Näf