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An Eric J., 26. September 1997, Basel

Cher Eric, mein lieber Freund! Wir haben schon wieder recht lange nicht mehr voneinander gehört. In Deinem Fall bin ich da immer etwas skeptisch. Ob Du wohl wieder im Nebel wanderst -, das Leben wie schwere Ketten hinter Dir herschleppend -, bedrückt und traurig und  kraftlos? Das Leben - ein Gefängnis oder, wie es in der Bibel heisst, ein Jammertal ... Dabei hat man uns doch suggeriert, dass es etwas schönes sei, etwas Tolles, etwas, in dem es immer voran und aufwärts geht, wenn man sich nur einsetzt und anstrengt! - Immer voran und aufwärts - - - Und wenn es dann nicht "voran und aufwärts" geht, so suchen wir die Schuld bei uns, meinen, wir müssten anders sein - optimistischer, robuster, kämpferischer. Wenn wir nur anders wären - so klingt es immer in uns / in mir -, dann wäre das ganze Leben anders! Dann wäre es immer schön und spannend und gut und aufregend und voller Abenteuer! Dabei könnte es ja wirklich sein, dass die Menschen im Mittelalter der Wahrheit näher waren, und das Leben eher ein Jammertal  als ein Ort der Freuden und des Glücks ist ...

Abstrakte Philosophie, lieber Eric! Kümmerliche Versuche, das Auf und Ab in unserem Dasein zu begreifen und berechenbar zu machen ... Kümmerliche und sinnlose Versuche, ich weiss, denn weshalb will der Mensch den Lauf eines Bergbaches, das Spritzen seiner Wasser und das wilde Spiel von Strömung und Gegenströmung, die Dynamik der überall entstehenden und vergehenden Strudel berechnen? Weshalb will er es und begreift nicht sofort, dass er unmögliches will?

Mon ami! Wie geht es Dir? - Heute ist hier in Basel wieder ein so schöner Tag! Sonne schon am morgen früh. Auf meinem Hinterhof sind ein paar Arbeiter am Werk; sie streichen das Nachbarhaus, klettern auf dem Gerüst herum, telefonieren per Natel mit irgendwelchen anderen Kunden oder ihrer Frau. Von irgendwo da draussen klingen Kirchenglocken hinein in diesen Frieden, und man hört das weit entfernte Surren des Presslufthammers, der am Eingang meiner Strasse, auf der anderen Seite unseres Hauses, in Betrieb ist. So scheinen alle Arbeit zu haben - der Wirtschaft geht's gut ...

Eric! Ich möchte Dir gerne so viel erzählen, denn es scheint Jahrzehnte, seit wir zum letzten Mal wirklich miteinander gesprochen haben! Hast Du mitgekriegt (as-tu reçu avec), dass ich vom letzten Dezember an ein halbes Jahr in den USA war? Ja. Ich habe im vergangenen Sommer meine Doktorarbeit fertig gemacht ("La vie de Paul Geheeb justqu'a la fondation de la Odenwaldschule en 1910"). Danach hat Prof. O. (Uni Bern) mich überzeugt, doch auch noch den zweiten Teil der Geheeb-Biographie ("Paul Geheeb: Pédagogue célèbre, émigrant, utopist; les annés 1910 - 1961") in Angriff zu nehmen. Nach kurzem Zögern habe ich im September letzten Jahres deshalb einen entsprechenden Antrag beim Nationalfonds eingereicht und, da ich noch etwas Geld übrig hatte, zugleich beschlossen, während der Wartezeit auf Reisen zu gehen: Fort - hinaus aus der Schweiz und ihrer Enge - heraus aus meinem geregelten Alltag, meinem "sozialen Netz" und allen anderen Verstrickungen und Fesseln! Kurz vor Weihnachten bin ich in La Spezia (Italien) aufs Schiff und bin via Fosse sur Mère (France) und Valencia (Espagne) mit vielen bunten Containern, ca. 25 Mann Besatzung und einem französischen Mitreisenden nach New York gefahren. 10 Tage nur Himmel und Wasser, Sonne, Wolken, Sterne, Nebel, Regen, Dunkelheit und Licht und - 10 oder 12 Meter unter uns - die Wellen des Atlantiks. Das Schiff wie eine schwimmende Fabrik - auf der Kommandobrücke Computer und anderes Hightech-Gerät und Metall, Metall, Metall - überall! Morgen, Mittags und abends Essen in der gemeinsamen Messe. Immer Fleisch, von unserem russischen Koch mit viel Sauce und Liebe zubereitet. Dazu der Kapitän, zu dessen Pflichten es gehörte, die Passagiere an Bord zu unterhalten ... Eine richtige Reise! In meiner Kabine habe ich tagsüber jeweils ein paar Stunden an meinem Geheeb-Buch (Geheeb, Teil I) gearbeitet, weil ich den Text für die Veröffentlichung als Buch noch einmal redigieren wollte. Als ich in New York ankam, war diese Arbeit fertig,und ich konnte mich ganz dem Reisen hingeben.

Ich wollte einerseits meine alten Freunde - Freunde aus meiner Studienzeit in Eugene, Oregon, und Freunde aus meiner Zeit in der Ecole d'Humanité - besuchen; andererseits wollte ich auch Zeit für mich verbringen und Neues kennenlernen. Ich hatte schon in der Schweiz von einer schwulen Landkommune in Tennessee gelesen und dort angefragt, ob ich im Januar oder Februar einige Zeit mit leben könne. Nach einer sehr netten Zusage von dort habe ich das denn auch getan. Ich war drei Wochen dort, im waldig-bergigen Hinterland von Nashville. Kalt war's dort, primitiv und sehr natürlich. Kochen und  Heizen mit Holz; alle paar Tage warm Wasser in der von den Kommunarden in den letzten Jahren gebauten Sauna; ab und zu Besuch von irgendwelchen Nachbarn - meist auch schwule Männer, die sich in der Nähe dieses bereits älteren Projektes angesiedelt haben. Dazu Gespräche über das Leben in dieser Kommune und ihre 25-jährige Geschichte ... schön, interessant und langweilig zugleich -, langweilig vielleicht, weil mich das einfache Leben auf dem Land, die Ziegen, das Pflanzen und Ernten von Kräutern und Gemüse, das Kochen etc. letztlich nicht so sehr interessieren. Langweilig vielleicht auch, weil ich zu schüchtern war, mich dort auf mehr als auf "Gespräche" einzulassen ...

Von Tennessee bin ich Mitte Februar weiter nach Houston, Texas, wo ich einen ehemaligen Mitarbeiter der Ecole und seine Familie besucht und ihren Alltag an der Rice University, wo er Professor für Pädagogik ist, kennengelernt habe. Danach bin ich weiter an die Westküste der USA, nach Kalifornien und Oregon, wo ich den grössten Teil meiner 6-monatigen Reise zugebracht habe. Besonders spannend waren dabei drei Wochen in Ojai, dem Ort an welchem Krishnamurti lebte und starb, und ca. 5 Wochen in San Francisco, wo ich  mich in einem billigen Hotel eingemietet habe, um einmal zu erleben, wie es ist, wenn man ohne irgendwen zu kennen in eine neue Stadt kommt und dort Fuss fassen will oder muss. Dabei war ich natürlich besonders daran interessiert, mit dem "schwulen San Francisco" (und damit auch mit dem "schwulen Martin") in Kontakt zu kommen, denn hier ist nach wie vor ein grosser Nachholbedarf, viel Schüchternheit, aber auch viel Neugier und Lust. Ich allein in dieser fremden Stadt -, Du kannst Dir vorstellen, dass das nicht immer einfach und toll und super, sondern manchmal auch langweilig und mühsam war. Alles in allem waren aber gerade diese Wochen höchst spannend und wohltuend! Ich habe viele Menschen - auch viele schwule Männer - kennengelernt, viel geredet, war ein paar Mal im Segelboot auf der San Francisco Bay und habe - als Abschluss dieser Zeit - dort auch die schönste Liebesnacht meines Lebens erlebt! Ja, die schönste Liebesnacht! Mit einem Menschen, den ich vorher nicht kannte, und den ich nicht einmal besonders interessant fand; aber das körperliche Zusammensein mit ihm war wirklich ganz aussergewöhnlich schön, sinnlich, friedlich, tief wohltuend! Richtig romantisch. Seelenproviant für meine Rückreise, die mich noch einmal nach San Diego und (mit einem Zwischenhalt bei einer weiteren schwuen Landkommune in New Mexico) nach Tennessee und schliesslich nach New York führte, wo ich im Januar einen obdachlosen Schwarzen kennengelernt und "adoptiert" hatte. Uff, ja! Jeffrey und meine Zeit bei ihm in New York - das ist nochmals eine Geschichte für sich, eine Geschichte, die auch hier noch weitergegangen ist.

Ende Juni war ich dann wieder zurück in Basel und seither bereite ich mich innerlich und äusserlich auf mein "neues Leben" vor, denn der Nationalfonds hat mein Projekt im März doch tatsächlich bewilligt, sodass ich schon in den USA wusste, dass ich ab September - d.h. seit Beginn dieses Monats - für weitere drei Jahre materiell und arbeitsmässig "versorgt" sein würde! Ja. Ich hatte wirklich sehr viel Glück in den letzten Monaten! Das Schicksal scheint es äusserst gut mit mir zu meinen, wobei mein "inneres Leben" - die Frage nach dem Sinn all dieser Tätigkeiten und mein Liebes- und Sexualleben - nach wie vor ziemlich konfus und alles andere als einfach ist. Überhaupt: Bei aller scheinbaren Klarheit, bei allem scheinbaren Erfolg gibt es so viele Fragen und Themen, über die man sich unterhalten und klar werden müsste! So viele wichtige Themen, die im Alltag zu kurz kommen, so viele Fragen und Gedanken hinter und jenseits des oberflächlichen Funktionierens! Und da denke ich dann an einen Menschen wie Dich, einen weisen, erfahrenen, vielschichtigen Freund, jemand, der dieses Fragen und Suchen kennt, jemand, der den einfachen Wahrheiten und Antworten ebenso misstraut wie ich ...

Mon cher! Wir haben schon oft vom Kanufahren und ähnlichen Dingen gesprochen. Nun, fürs Wasser ist es bereits wieder zu herbstlich, zu kalt. Aber eine Reise nach La Chaux-de-Fonds und eine schöne Wanderung über irgendwelche Jurahöhen - dafür ist die Zeit genau richtig! Lass es uns tun, um wieder einmal Zeit füreinander, für unsere Sorgen, unsere Gedanken und Hoffnungen, unsere Fragen, unsere Träume zu haben! - Wozu hätten wir uns sonst kennengelernt vor nunmehr 10 Jahren!

Ich bin in der kommenden Woche noch ziemlich besetzt, dann aber, etwa vom 5. Oktober an, bin ich wieder freier. Ich werde mich melden! Ich bin gespannt zu hören, wie es Dir in letzter Zeit ergangen ist und was Dich zur Zeit umtreibt, wie es Dir zur Zeit geht und nicht geht! Ich melde mich! - Ganz herzliche Grüsse, auch an Vera, falls sie noch immer in Deiner Nähe ist!