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An Franck W., Anfang August 1989

Lieber Franck! Deine Stimme klingt noch immer nach in mir; ich höre Dich seufzen, höre die Mischung zwischen Trauer, Resignation, Müdigkeit und hilflosem Lachen in Deinem "'s goht" und Deinem "'s isch nid licht zämme! Godverdeggel nomol". - Ich hoffe natürlich, dass Du auch wieder Mal mit mehr Wind in den Segeln, mehr Power im Herzen über das unruhvolle Meer des Lebens segeln kannst, dass das Auf und Ab des Lebens wieder einmal richtig Freude machst und Du im Aufwärtsschiessen wie im AbwärtsstürzenDeine Kräfte spürst und Dich an ihnen freust! Ja, das wünsche ich Dir. ‑ Ich kann sie  natürlich auch gebrauchen, diese Lebenslust, diesen Lebensmut und Innern Schwung!

Naja. Jetzt gerade geht es gut; ich habe kräftig im Leben des alten Geheeb gewühlt heute und kann wieder ein Aktenstück weg- und ein anderes, neues auf den Tisch legen, um mich morgen mit neuer Energie darauf zu stürzen. Wenn ich einmal dran bin, so wie seit etwa zwei Wochen, dann ist dieses an sich ziemlich unkreative Erfassen und Eintippen von Daten und guten Zitaten ganz interessant, und ich merke auch, dass ich weiterkomme, wenn auch nie in dem Tempo, in dem ich gerne weiterkommen möchte.

Bis jetzt habe ich noch keine Ferien gemacht diesen Sommer sondern bin brav dran geblieben; nur Anfang Juli war ich für vier Tage an einer pädagogischen Tagung im Schlössli in Ins, habe dort auch an einer Podiumsdiskussion teilgenommen (als "kritischer Geist" und "Freidenker" sozusagen), habe dort im Rahmen eines Workshops Eurhythmie kennengelernt und verschiedene mehr oder weniger aufregende Referate über Schule, Schulreform (Brrrr!), Wandel in der sozialen Arbeit, humanistische Pädagogik in der Lehrlingsausbildung und so weiter gehört. Das  meiste eher langweilig: für mich too much off the same, too many things I already know or I do not want to know. Das Referat über Sozialarbeit - von einer ca. 60‑jährigen Frau, Sozialarbeiterin in Bern gehalten - war sau gut! Intellektuell und menschlich ganz auf der Höhe: gute, humanistische Praxis, standhaft, kämpferisch und human - eben: gut. Der Rest ... - Nun eben, da war ich Anfang Juli. Und seit- und vorher bin ich also meist am Schaffen, mach höchstens mal einen Tag oder zwei Pause, um irgendwelche Menschen zu besuchen. Vielleicht stürze ich mich in 8 Tagen noch einmal in ein grösseres Ferienabenteuer, denn dann hätte ich nochmals zwei Wochen Zeit am Stück, ohne Termine, bevor in der Ecole dann das Herbsttrimester beginnt. Dann werde ich natürlich dort oben sein und sehen, wie sich meine erneute Mitarbeit - als Turmhausmitarbeiter - gestalten wird. Ich bin sehr gespannt. Gespannt vor allem auch darauf, ob ich wieder an ähnliche Grenzen stossen werde - Grenzen von mir, Grenzen der Institution etc. - und ob ich damit jetzt, zehn Jahre nach meinem letzten Jahr in der Ecole anders umgehen kann als damals: ich denke an die Tabus, die in der Ecole bestehen und der Umgang damit, die unausgesprochenen Machtverhältnisse etc.; ich denke aber auch an meine Beziehungen zu den Kameraden und zu andern Mitarbeitern, an Erotik, Sex, Zärtlichkeit, an Taten und Gespräche in dieser Richtung etc.- alles ziemlich spannend für mich... - Wie gesagt: vielleicht gehe ich vorher noch fort für zwei Wochen; vielleicht bleibe ich auch hier, in Basel, und arbeite die immer noch sehr hohen Kassettenberge weiter ab ...

Andere Dinge: Kurse, Alternativschulzeugs, Artikel, Newsletter und andere Schreibereien kommen zu kurz zur Zeit. Dafür hab ich einfach keine Energie und Zeit übrig; habe auch den Entwurf der Kursausschreibung für unsern für nächstes Jahr geplanten Kurs in Deutschland noch nicht fertig gemacht und abgeschickt. Sie ist noch genauso weit wie vor 6 Wochen, als ich einen kurzen Anlauf in der Richtung genommen hatte. Auch mit Barbara habe ich noch nicht konkret über mögliche Fortsetzungen unseres Juni-Kurses gesprochen; auch das müsste ich in nächster Zeit einmal tun. Im Oktober kommt dann ein weiterer Vorbereitungstag für den Arbeitslosenkurs im November, den ich ja mit Viktor M.  machen werde. Ich habe schon einigermassen Bauchweh, wenn ich daran denke, denke deshalb lieber vorläufig noch nicht daran! - Das Projekt Utopia: Lebens-, Wohn- oder Arbeitsgemeinschaft ist gegenwärtig in einer stillen Phase; ich fühle mich innerlich sehr weit entfernt von der Idee, stecke zu tief in anderen Dingen. Am nächsten Wochenende werden sich jedoch wieder so ein paar Spinner - diesmal vermutlich ca. 20 - in der Nähe von Chur treffen, und da wollte ich eigentlich auch hin, um meine Nase wiedermal in Utopistenluft zu halten. - Neben der Arbeit gibt mir mein unausgereiftes, verstopftes Sex-Life viel zu tun, viel zu denken, zu Stöhnen und zu klönen. In poetischer Richtung hat dieses Hin und Her in den letzten Tagen reiche Früchte getragen:

Mein Gott geh ich manchmal weit für ein Bisschen Zärtlichkeit.

Es soll der Mensch den Menschen ehren, mit ihm nicht nur sexuell verkehren!

Man könnte natürlich den Spies auch etwas drehen und sagen: Mit ihm nicht nur verbal verkehren oder so ähnlich...

Am erfreulichsten, weil so tröstlich, ist die ebenfalls von mir stammende alte chinesische Weisheit die da sagt: Das Erwartete kommt oft unerwartet.

Gespräche mit Urs sind immer wieder gut, meine Grundenergie, bestimmte Dinge mit Lust und Freude anzugehen ist jedoch ziemlich klein; ich bin eher auf Rückzug und Klagen und Selbstmitleid eingestellt, zumindest immer wieder. Es stecken zu viel Schmerzen, zu viel Enttäuschungen und Entmutigungen  in all diesen Dingen - Sex, Erotik, Liebe etc. - als dass ich da einfach frisch drauf los leben und die "Probleme" konfrontieren, die Welt herausfordern könnte ... Manchmal geht es, häufiger geht es nicht. - Aber auch hier, wie in allen anderen Lebensbereichen wird ja wohl noch dies und das geschehen, und dann eben: "Das Erwartete geschieht oft unerwartet!" - Das tröstet vielleicht auch Dich, Franck.

So. Jetzt will ich aber allmählich zum Schluss kommen. Eigentlich wollte ich Dir vor Allem nochmals schreiben, dass ich Dir (wohl vor etwa vier Wochen) Fr. 450.- auf Dein Konto bezahlt habe. Das sind nach heutigem Kurs rund 270 Dollar. Darf ich Dich bitten, diese Summe an Shelley zu überweisen, vielleicht mit der Bemerkung "von Martin für Vorlesen von Diss" oder so ähnlich (ich weiss ja nicht, ob man dazu was schreibt oder die Sache nur per Check und ohne Kommentar geht). Ich schreibe Dennis und Shelley jedenfalls noch heute oder morgen - der Brief an Dennis ist schon längst fällig! -, damit ich die Sache für mich innerlich und äusserlich abhaken kann.

Ja gut. Das reicht für heute. - Ich freue mich mit Dir auf bessere Zeiten, wenn die Winde wieder kräftiger in unsre Segel greifen und wir mit neuer Energie ins Leben hinausfahren und durch sein auf und ab und hin und her! - Falls wir bis September nichts mehr voneinander hören ... - Nein. Wir werden voneinander hören.

Ich lege Dir noch den Bericht bei, den ich über unsern Kurs geschrieben habe. Er ist entsetzlich steiff und paragraphenmässig geraten, ich glaube, weil Barbara gesagt hat, das "Bundesamt für Sozialversicherung" will den Bericht als Erfolgskontrolle gewissermassen. Aber Du hast ihn gewollt und sollst ihn haben!

Lieber Franck, das wär's. Leb wohl. I hug you - one more time - und noch einmal. Ciao. - I love you