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An Freunde, Bekannte und Verwandte, Mitte Juli 2010

15 Jahre sind genug! Am 7. Juli habe ich meinen 55. Geburtstag gefeiert. Ich habe mir bei dieser Gelegenheit selbst ein ganz besonderes Geschenk gemacht, ein Geschenk, bei dem das Auspacken allein ein grosses Abenteuer ist, und bei dem auch der Schenkende nicht weiss, was er da eigentlich verschenkt! Dazu hat das Ding nichts gekostet, also der optimale Tipp für alle, die nicht recht wissen, womit sie sich (oder andere?) überraschen können. Und was war dieses Geschenk"?

Nun, nach 15 Jahren habe ich meine Wohnung an der Ramsteinerstrasse gekündigt. Ende  September ziehe ich hier aus und das besondere dabei: Ich habe keine Ahnung wohin ... Ich setze mich also gewissermassen selber auf die Strasse. Es ist eine drastische Massnahme, da habt ihr recht, aber sie war nötig, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, in all der Ramsteiner Gemütlichkeit langsam zu vergammeln. Ich habe zwar viele Ideen, was ich tun könnte und tun möchte, doch konnte ich mich nie entschliessen: Für ein Jahr nach Berlin? In Basel ein Haus kaufen und mit anderen Menschen projektorientiert, sozial-chaotisch zusammenwohnen? Oder doch wieder eine grosse Reise? Nach Afrika diesmal oder per Segelboot rüber nach Südamerika oder vielleicht doch die WELT retten: DAS ultimative Buch schreiben? Als Freiwilliger nach Palästina? Als Eremit und Denker ins schottische Hochland ... DAS Karussell der Möglichkeiten dreht sich seit Jahren in meinem Kopf, ohne dass ich mich für die eine oder andere entscheiden konnte, bis ich allmählich zu fürchten begann, in der Fülle zu verhungern, wie Goethe schreibt. Diese Gefahr ist also vorerst gebannt. Ich WERDE mich für etwas entscheiden, und ich freue mich sehr auf dieses etwas, was es auch sei! Die meisten von euch kennen ja Hermann Hesses bekannte Verse zu dem Thema:

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen.

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise,

so droht Erschlaffen.

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Man könnte auch sagen: Selbst in der besten Bratpfanne brennt das Essen irgendwann an.

Leider muss ich alle, die jetzt hoffen, meine Wohnung evtl. erben oder an eine Cousine oder einen Neffen vermitteln zu können, enttäuschen. Ich dachte ja, dass für solche Geschäfte noch genug Zeit bleibt, doch da habe ich nicht mit der Fixigkeit der Hausverwaltung gerechnet. Kaum hatte man dort meine Kündigung in Händen wurde die Wohnung im Internet angepriesen, und ich wurde von einer Flut von InteressentInnen  regelrecht weggespült. Immerhin. Vorläufig ist noch nichts entschieden. Wir könnten also vielleicht noch etwas deichseln, aber ihr müsst euch schnell mit mir in Verbindung setzen!

Mehr Zeit haben diejenigen, die zB

einen etwa 5 Jahre alten Kühlschrank suchen oder

mein Klavier in Pflege nehmen oder

den alten Glasschrank meiner Krienser Grossmutter,

das durchgesessene Sofa meiner Eltern (modell anno dazumal),

ein paar Prunkstücke aus meiner Küche oder

den gelben Teppich in der Stube erben oder

sich zu einem letzten Nachtessen auf meinem Balkon oder

zu einem fröhlichen Pack- und Putztag anmelden wollen.

All dies und mehr ist möglich. Am Montag, dem 20. September ab 17:00 wird zudem Gelegenheit sein, von meiner Wohnung hier an der Ramsteinerstrasse Abschied zu nehmen. Ich denke nicht an eine laute Party, sondern an einen ruhigen Abend mit ein paar nostalgischen Gesprächen bei einem Glas Wein,  vielleicht ein wenig Musik, wenn das Klavier dann noch da ist, oder mit hektischen Last-Minute-Aktionen wie damals, als ich nach Indien aufbrach!

Damit lebt wohl für heute! Habt's gut und geniesst die Hitze! - Bis früher oder später einmal - und: don't worry. Ihr werdet von mir hören, auch wenn ich weg bin. Ich werde euch von meinen Abenteuern schreiben und wenn's ne neue Adresse oder Telefonnummer geben sollte, dann werdet ihr's erfahren! Ganz herzliche Grüsse

Gilles Hangartner, 22. Januar 2011, Vaga Dugu   Fao

Hallo Gilles und Nico du junger Mensch! Ja, ich bin immer noch in Ouagadougou, das heisst, ich bin wieder hier, denn zwischendurch war ich mit Moussa in Gibo. Gibo ist von hier aus nördlich, in Richtung Mali. Es ist eine kleine Stadt, in der es noch keine einzige geteerte Strasse und kein Haus gibt, das mehr als ein Stockwerk hoch ist. Also alles flache Häuser mit einem Hof und überall gibt's Ziegen und Schafe und Esel.

Wir haben dort bei zwei Freunden gewohnt, die wir im Bus kennengelernt haben. In ihrem Hof haben sie eine Grashütte. Dort haben wir geschlafen. Ich habe die ganze Nacht den Eseln zugehört. Die schreien wie blöd, wenn sie Sex miteinander haben, das heisst, die Männchen schreien und die Weibchen sind ganz still. Den Männchen gefällt es offenbar. Ob es den Weibchen auch gefällt weiss ich nicht.

Wir waren auch in den Dörfern und auf dem Land. Es ist jetzt überall sehr trocken und überall laufen Kühe und Schafe herum und fressen das letzte Bisschen grün, was sie noch finden. Weil's so viele Kühe hier gibt wachsen fast keine neuen Bäume, denn sobald ein Baum zehn Zentimeter gross ist kommt eine Geiss oder eine Kuh und frisst den Baum weg. Das ist blöd, aber die meisten Leute nehmen es einfach hin wie ihr Schicksal. Fast alle sind total arm. Sie haben keine Arbeit oder höchstens einmal Arbeit für einen Tag oder zwei und dann wieder fünf Tage keine Arbeit. Sie machen sich dauernd sorgen, wo sie das Geld für das nächste Essen herkriegen oder wie sie die Schulbücher für ihre Kinder bezahlen können. Weil sie diese oft nicht bezahlen können oder weil die Kinder keine richtigen Kleider haben, gehen viele Kinder nicht zur Schule, oder sie gehen eine Zeit lang und dann verlieren sie den Mut und gehen nicht mehr.

Die Leute in den Dörfern sehen nur  selten weisse Menschen wie mich. Ein paar sind deshalb auch weggelaufen wenn Moussa und ich gekommen sind.

Moussa ist mein Sohn, natürlich nicht richtig, aber in seinem und in meinem Herzen. Er ist 25 Jahre alt und ist ebenfalls sehr arm. Jetzt allerdings nicht mehr, denn ich habe ihm etwas Geld gegeben. Er will zuerst seinen alten Vater besuchen, um ihm seine Frau und seine vier Monate alte Tochter vorzustellen. Bis jetzt konnte er die Reise nicht machen, weil er kein Geld für die lange Busfahrt hatte. Wenn er wieder in seinem  Dorf ist, will er einen Esel und einen Eselkarren kaufen. Damit wird hier vieles transportiert: Steine zum Bauen, Brennholz, Hühner, die man auf den Markt bringt und einfach alles. Wer so einen Esel und einen Karren dazu hat ist schon fast reich. Moussa hofft jedenfalls fest, dass er damit genug Geld für seine Familie verdienen kann. Er will auch ganz dringend Lesen und Schreiben lernen, denn als Kind ist er nie in die richtige Schule gegangen und da auch seine Eltern nicht schreiben und lesen können hat er's auch zuhause nicht gelernt. Das tut ihm sehr weh, weil andere ihn manchmal wie einen Trottel behandeln, wenn er etwas fragt. Sie sagen dann, "kannst du eigentlich nicht lesen oder was ist los". Dann geht er fort und ist traurig, anstatt zu sagen: Du blöder Trottel, weisst du nicht, dass die Hälfte der Leute in unserem Land nicht lesen können ...

Jetzt sitzt Moussa neben mir. Wir trinken Tee und rauchen - was nicht gesund ist, aber irgendwie angenehm. Morgen sind wir noch einen Tag hier in Ouagadougou und übermorgen früh fliege ich nach Burundi, das heisst das Flugzeug fliegt zuerst nach Adis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien. Dort schlafe ich und am nächsten Tag fliege ich dann nach ... nach Burundi. Es ist die Hauptstadt dort, doch den Namen vergesse ich immer. Von dort ist es ganz nahe nach Uvira im Osten von Kongo, wo ich drei Monate leben und arbeiten will. Ich freu mich schon darauf. Es wird sicher wieder sehr spannend. Aber gleichzeitig bin ich auch traurig, von hier wegzugehen und Moussa hier zu lassen. Ich hab ihm schon versprochen, dass ich wieder komme ... vielleicht kommt ihr dann ja mit?

Er schaut mir jetzt übrigens beim Schreiben zu, und immer wenn ich Moussa schreibe, sagt er ganz zufrieden: "Moussa". - Damit ist für heute Schluss mit dem Afrikareport. Kannst du das alles lesen, Nico, oder sind die Sätze zu lang? Wenn du mal schreiben oder was wissen willst, dann mach's. ich freu mich schon jetzt drauf! Also. Gute Nacht ihr zwei alten Schweizer. Lebt wohl und grüsst Claudia und Luna von mir und Moussa! - Martin