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An Gerard C., 3. Dezember 2008, Basel

Lieber Gerard! Pfui! Nun liegt Dein Brief schon über ein Jahr bei mir. Ich hatte ihn sicher ein Dutzend Mal in meinen Händen und immer gab es einen Grund, nicht zu antworten. Es waren keine guten Gründe, es gibt also auch keine Entschuldigung für dieses lange unfreundliche Schweigen auf einen so freundlichen Brief!

Als Dein Brief kam hatte das Jahr in der Ecole eben angefangen. Mittlerweile ist das alles bereits längst vorüber! Ich bin seit Juli wieder in Basel. Im Rückblick verging dieses  Ecole-Jahr schnell. Während ich dort war schien es oft lang. Das Zusammensein mit den Jugendlichen war gut. Manchmal natürlich nervig und mühsam, denn ihre  Lebendigkeit entspricht nicht immer meinem Biorhythmus, doch in all dem Drängen und Wollen und Lachen und Fluchen steckt doch so viel echtes ungebremstes Leben und so viel Wunsch nach Kontakt und Austausch! Das war also gut.

Das Umfeld der Ecole mit den besonderen Erwartungen an mich als Familienhaupt und als Lehrer entspricht mir weniger. Vor allem das Unterrichten behagt mir nicht. Es ging äusserlich zwar ganz gut – viel besser als vor 30 Jahren! -, doch im Grunde komme ich mir dabei immer ein wenig wie ein Betrüger vor – auch in der Ecole, wo das Unterrichten ja in milder Weise praktiziert wird.

Wozu soll ich gesunden 12 und 14jährigen Menschen irgendetwas beibringen? Sollten sie sich nicht in der Welt zusammensuchen können, was sie für ihre Entwicklung brauchen, ganz so, wie sie es in den ersten Jahren ihres Lebens getan haben. Damals, als sie noch ganz klein waren, haben sie ja auch viel gelernt und sich sehr entwickelt! Weshalb soll dies nicht einfach weitergehen? Lernen geschieht durch Handeln, nicht durch "lernen". Die Ecole müsste also eine Art Marktplatz von Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten werden; Kurse wären allenfalls als Ergänzung wichtig.

Als Lehrer in der Ecole kam ich mir immer ein wenig wie der Bauer vor, der abends zum Hühnerhof geht, seine Hühner herbeiruft und sie füttert. Den Hühnern geht's ganz gut; sie können den ganzen Tag in ihrem Gehege herumstochern. Kein Vergleich zu ihren Artgenossen in den Legefabriken, aber gefangen sind sie doch auch. Man sagt, die Welt draussen sei für die Hühner zu gefährlich; sie würden dort kein Futter finden; sie würden überfahren werden oder könnten versehentlich etwas giftiges essen. So sorgt man sich um die Jugend und hält sie im Gehege der Schule, aus Sicherheitsgründen und um ihre Ernährung zu gewährleisten. Unsere Besorgnis ist echt, denn wir kennen längst nichts anderes mehr als diese ängstliche Art der Hühnerhaltung. Auch die Jugend ist grossenteils zufrieden. Sie wirkt zwar etwas gelangweilt und kraftlos, doch gilt das als ebenso normal wie die gelegentlichen Ausbrüche von Aggression zwischen den sonst so friedlichen Hühnern.

Du merkst es. Ich kann mich in der Sache nicht so einfach mit dem Status Quo abfinden. Als PädagogInnen müssten wir viel mehr Gewicht auf die menschliche Gestaltung unserer Lebensräume legen, statt immer mehr Energie in die Perfektionierung von Lehrbüchern und didaktisch methodischen Verfahren zu investieren. Die "menschliche Gestaltung von Lebensräumen" – klingt heute etwas abgehoben und utopisch. Doch zu "unserer Zeit" gab es viele Konzepte dieser Art: Man sprach vom "menschlichen Mass" und von "kleinen Netzen", von "Community reconstruction" und von menschengemässer Technik.

Natürlich gibt es gravierende Probleme, die beachtet werden müssen, angefangen von den Gefahren des Strassenverkehrs und der Anonymität vieler öffentlicher Räume bis hin zu den massiven gegen die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gerichteten Werbeinteressen, doch ich bin sicher, dass die Kinder und Jugendlichen sich auch unter den jetzigen Umständen viel freier in der Welt bewegen könnten als wir es im allgemeinen zulassen, und ich glaube, dass dies auch das Leben an der Ecole spannender machen würde. Es wäre spannend, wenn in der Ecole im Laufe der nächsten Jahre eine Bewegung in der Richtung in Gang käme. Mehr Praxis, mehr eigene Projekte, auch grössere Projekte, mehr Dinge, die auch ausserhalb der Schule geschehen, vielleicht in Gruppen, die für vier oder sechs Wochen irgendwo unterwegs sind, vielleicht im Rahmen von Praktika, nicht nur Schnupperlehren, um möglichst schnell zu entscheiden, welchen Beruf man ergreifen soll, sondern um die Welt kennenzulernen, um etwas zu tun. Also eine nicht direkt zielgerichtete Sache, sondern reine Entdeckerfreude und Neugier. Ich denke an drei Jugendliche, die in einem Pariser Vorort bei einem Pfarrer oder Sozialarbeiter wohnen und diesen in seiner täglichen Arbeit unterstützen, indem sie bei alten oder behinderten Menschen im Quartier mit einkaufen oder putzen helfen, indem sie in überlasteten Familien oder in kleinen Betrieben als HelferInnen einspringen und interessierten Erwachsenen und Jugendlichen einen 4wöchigen intensiven Kurs in englischer Konversation anbieten würden. Danach zurück in die Ecole: Erfahrungen auswerten, Konsequenzen für sich selber, seine schulische Karriere und evtl. weitere Projekte für die Ecole ziehen etc. – Solche Dinge zu entwickeln und zu begleiten entspricht mir mehr als jeden Morgen meine braven Hühner mit ein wenig deutscher Literatur oder Weltgeschichte zu füttern.

Immerhin. Es war ein interessantes Jahr, und ich wusste ja von Anfang an, dass es nach dem Abgang so vieler MitarbeiterInnen im Sommer 2007 darum ging, das schwankende Schiff der Ecole wieder auf ruhigen Kurs zu bringen. Das scheint gelungen. Die Schulleitung war jedenfalls sehr erleichtert über diesen Neuanfang im Herbst 2007. Im kommenden Sommer (2009) werden Sarah, Frédéric und Kathleen aus der Schulleitung  zurücktreten. Hans bleibt als einziger des Fünferteams von 1995 noch für zwei drei Jahre. Für die Abgehenden sind zwei Nachfolger gewählt. Die Leitung soll künftig also wieder aus nur drei Menschen bestehen. Ich hoffe, dass der anstehende Leitungswechsel auch etwas neuen Wind in die pädagogischen Diskussionen innerhalb der Ecole bringt. Spannend wäre es jedenfalls, denn die Ecole hat nach wie vor viel Potential – nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Organisation als eine Art grosser Kommune oder Lebensgemeinschaft.

Aber Gerard. Ich wollte dir eigentlich keine Abhandlung über die Ecole – past present and future – schreiben, sondern mich zunächst einmal für Deinen Brief vom vergangenen November bedanken. Angeregt durch meinen dicken zweiten Geheeb-Band hast du mich darin u.a. gefragt, ob ich evtl. an Deinen Erinnerungen an den Primzahlenkurs von Martin Wagenschein vom Sommer 1949 interessiert sei. Wenn ja, dann würdest du sie einmal zu Papier bringen. Meine Antwort darauf lautet "jein". Ich persönlich bin an den vielen Verästelungen und Details der Geheeb-Geschichte inzwischen nicht mehr so stark interessiert. Für mich würde sich der Aufwand also nicht lohnen. Ich bin auch kein Wagenscheinforscher und kein Didaktikfreack! Ich würde deine Erinnerungen sicher lesen, doch dann würde ich sie in ein Couvert stecken und mit der Bitte an Armin schicken, sie in die Korrespondenz Geheeb-Wagenschein oder einen anderen Ort im Geheeb-Archiv einzuordnen. Dort könnten sie allerdings auf grosses Interesse stossen, denn es kommen ja immer wieder Menschen nach Goldern, um sich mit bestimmten Aspekten der Ecolegeschichte oder der Geheebschen Pädagogik zu befassen, und da spielt der Name Wagenschein natürlich keine unwichtige Rolle. Für das Archiv wären deine Erinnerungen also durchaus wertvoll, denn jener Primzahlenkurs war ja doch etwas sehr besonderes, und ich kenne tatsächlich keinen detaillierten Bericht darüber mit Ausnahme von Wagenscheins eigener, später irgendwo veröffentlichten Schilderung. Wenn du also Lust hast zu schreiben, dann schreib, lieber Gerard, aber schreib nicht für mich, sondern für das Archiv!

Apropos schreiben: Mein Vater hat vor ca. drei Jahren mit der Zusammenstellung eines Buches über die Ecole begonnen. Da ihm die Arbeit etwas schwer zu fallen begann habe ich ihm während der letzten drei Monate bei der Redaktion des Manuskripts geholfen. Vor zwei Wochen sind wir damit fertig geworden. Ich hatte ursprünglich nicht daran gedacht: doch diese Schreib- und Denkarbeit erwies sich als optimale Gelegenheit, meine noch frischen Erlebnisse und Gedanken rund um die Ecole zu ordnen und weiter zu entwickeln. Das Buch soll im kommenden Februar oder März unter dem Titel "Eine menschliche Schule – aus dem Innenleben der Ecole d'Humanité" im Berner Zytgloggeverlag herauskommen. Es enthält vor allem Texte von MitarbeiterInnen, die schon länger in der Schule sind. Viele von ihnen kennst du, sodass du das Buch vielleicht auch gerne lesen wirst.

Jetzt möchtest du vielleicht noch wissen, was ich denn als nächstes mache – nachdem die Ecole wieder einmal hinter mir liegt. Hmmm. Lieber Gerard. Wenn ich das wüsste. Es gibt verschiedene Seelen in meiner Brust: Da ist einer, der gerne forscht und schreibt. Vor allem Historisches. Eventuell liesse sich dieses Interesse zu einem neuen, von irgend einer Stiftung finanziell geförderten  Forschungsprojekt bündeln, z.B. eine "Geschichte der Schweizer 'Normal- und Alternativschulen'" oder so was ähnlichem. Dann gibt's aber einen andern Menschen, der in die Welt hinaus will – aus Abenteuerlust und weil er denkt, er möchte etwas beitragen zu einem stabileren Frieden in der Welt. Das geht in Richtung Arbeitseinsatz in einem Drittweltland. Dann gibt's wieder einen anderen Menschen, der denk, dass wir uns eigentlich zu aller erst um unsere eigenen Nöte kümmern müssen: Also nicht dritte Welt, sondern erste Welt! Politisches Engagement im Zentrum sozusagen ... Da gäbe es  viel zu tun, allerdings sehe ich in der Richtung noch wenig konkrete Ansätze. Reden, Schreiben, polemisieren, politisieren ... Vielleicht zu guter Letzt doch noch eine kleine Karriere als Liedermacher??? –Erinnerst du dich? Wir haben doch einmal einen Kurs in der Richtung angeboten, und in meiner Stube steht nach wie vor ein Klavier und darauf ein Ordner mit ein paar Liedtexten und seit gestern nehme ich sogar wieder Unterricht in Klavierimprovisation ... die Reise könnte also auch in der Richtung weitergehen! Aber eben. Zur Zeit steht die Lokomotive noch im Bahnhof. Die Heizer sind noch mit Vorbereitungen beschäftigt ... Einer von ihnen hat soeben einen längst fälligen Antwortbrief an Gerard Cool geschrieben! Haleluja!

Lieber Gerard, ich hoffe, es gehe Dir und Florence gut – so gut, wie es eben gehen kann, wenn man nicht mehr 22 ist! Entschuldige noch einmal, dass ich Dich so lange habe auf Antwort warten lassen. Ich sollte mich in der Richtung wirklich bessern! - Sei für heute ganz herzlich gegrüsst und grüsse auch Florence von mir! – Martin