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An Johanna M., 7. Mai 1997, Immer noch Portland, Oregon

Liebe Hanna! Es ist wie zuhause am Küchentisch, wenn sie funktioniert, diese moderne Technik. Gestern tat sie es, nur dass ich leider ... naja. Da habe ich Dir voller Freude und in typisch Näfscher Ausführlichkeit geantwortet, hab den Brief dann abgespeichert, weil ich jemanden am Telefon hatte, und dann - als ich Dir meine Ausfürlichkeiten emailen wollte ... waren sie weg. Von der Festplatte verschwunden wie das gute alte Rumpumpelstilzchen ... Wenn einer einen PC hat, dann kann er was erzählen!

Jetzt also nochmals von vorn! Danke für Deine Neuigkeiten. Sage mal, was hat den Entschluss, nach Basel zu ziehen, so plötzlich zur Reife gebracht? Ein Mann wird es wohl nicht gewesen sein -, denn erstens ist das Glück uns diesbezüglich ja nicht sehr hold und zweitens -, eines Mannes wegen nach Basel ziehen ...? Nein. Waren es die Gespräche mit Joachim M., die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit der VF-Basel? Wie auch immer. I tell, I freu me sehr much, dass ich Dich dann noch näher habe!!!

Habe ich Dich richtig verstanden, dass Du mich nach meinen eigenen Wohnplänen und damit auch nach meinem Interesse an einem Gemeinschaftsprojekt frägst? (Ich wollte nochmals Dein Email lesenund stelle fest, dass auch dieses sich von der beschränkten Welt  meiner Festplatte verabschiedet hat?. Tja, Hanna. Falls Du  tatsächlich an die Möglichkeit eines gemeinsamen Projektes denkst, so bin ich daran echt interessiert. Geträumt habe ich davon ja schon lange: Gemeinsam wohnen und arbeiten; ein Haus mit viel Platz für Menschen, Aktivitäten und Initiativen ... Platz für Werkstatt, Töpferecke und Webstuhl; Garten; Obstbäume; Platz für (zahlende und nicht zahlende) Kurz- und Langzeitgäste ... Auch wir haben ja schon öfter davon gesprochen: Redaktionsstelle Unterwegs ... Seminare ...

Früher waren es Träume, wenn ich an solche Dinge dachte. Jetzt habe ich erstmals so viel Geld, dass ich auch finanziell zur Verwirklichung eines solchen Projektes beitragen könnte. Ich habe ja ein wenig von meinen Eltern vorgeerbt, und zumindest während der nächsten drei Jahre werde ich auch gut verdienen. Ich fürchte allerdings, dass meine Wünsche unsere Mittel bei weitem übersteigen. Privatraum brauche und will ich nicht viel (ein Zimmer reicht); aber wie gesagt: Platz für Handwerk, für Menschen, für Veranstaltungen etc., das müsste da sein. Ich denke auch an  eine Mehrgenerationenlösung, also nicht nur Menschen in unserem Alter, sondern auch Kinder (und für diese wiederum: Platz zum herumfurzen und leben!!!) und ältere Menschen - evtl. meine Mutter oder mein Vater. Zu den Menschen, mit denen ich über solche Dinge schon geredet habe (Traum-Talk) gehört u.a. mein Bruder mit Frau und drei Kindern - also eben: Platz ...

Man müsste über all das ausführlich sprechen. Es gibt in meinem Umfeld auch noch weitere Menschen, die Interesse haben, und die ich mir beispielsweise gut mit Dir vorstellen kann. So etwa Johanna, die Frau in Reinach, bei der ich vor drei Jahren während eines Jahres gewohnt habe, oder auch Barbara, eine Frau, mit der ich vor 12 Jahren in der WG in Riehen zusammen war ... Zufällig hat auch Thomas R. vor einigen Wochen auf einer Kassette von der Möglichkeit eines Hauses und das Zusammenwohnen gesprochen, Der Gedanke ist also in der Luft ... Aber eben: Welche Vorstellungen hast Du? Was ist realisierbar? Wo wäre evtl. ein gemeinsamer Nenner? Wer käme in Frage und an welche Orte denkst Du - denken wir? - Von mir aus wäre Stadt Basel o.k., doch um in der Stadt ausreichend Platz und Ruhe zu haben sind wir vermutlich nicht reich genug. Da käme allenfalls irgendeine alte Villa in Kleinhünigen oder sonst ein Glücksfall in Frage. Sonst müsste man eben an Laufenburg oder ähnliche Orte denken; auch ans Elsass, wo Grundstücke nach wie vor um einiges günstiger zu haben sind, wobei die juristischen Probleme (Steuern, Schulen, Krankenversorgung) und die mikrigen Angebote in Sachen öffentlichen Verkehrs nicht gerade für das Elsass sprechen, ganz abgesehen davon, dass es dann eben "das Ausland" ist ... Das sind also ein paar Stichworte zu dem Thema von mir aus. Sag doch mal, an was Du konkret gedacht hast, dann kann ich präziser antworten!

Was meine pädagogischen Texte angeht, so ist A-Bulletin Teil zwei gut bei mir angekommen; A-Bulletin Teil eins und Vorwort ABC sind irgendwo im Dschungel meines damaligen Email-Salates verloren gegangen (Schade für Deine Arbeit!). Vorläufig brauche ich jedoch nichts mehr, da ich weder Ruhe noch Lust zum Schreiben habe. Falls die Sache noch einmal aktuell würde, würde ich mich melden; die Chance scheint mir jedoch klein.

Und sonst? Naja. Ich habe schon bessere Zeiten gehabt während dieser Reise. Mein Aufenthalt in Portland ist weniger friedlich und erfrischend als ich gehofft habe.  Ich wusste zwar, dass mein Freund Peter in ziemlich schlechter Verfassung ist, aber irgendwie habe ich mir keine Vorstellung davon gemacht, wie das mein Hiersein beeinflussen könnte. Er hat sich vor zwei Jahren von seiner Frau getrennt (nach 19-jähriger Ehe), hat danach ziemlich mit Depressionen und Angstzuständen zu kämpfen gehabt und hat eine Zeit lang auch viel getrunken. Seit vergangenem Herbst nimmt er irgendwelche Medis, die ihn zwar einigermassen stabilisieren, die ihn aber irgendwie auch ziemlich benebeln.

Er ist oft entweder sehr überdreht oder total müde; wenn wir miteinander reden, dann erinnert er sich einen Tag später oft nicht mehr an das, was wir gesprochen haben, obwohl es ihm im Moment so bedeutsam schien. Er gibt sich unglaubliche Müde, ein guter Gastgeber und überhaupt ein altroistischer Mensch zu sein, doch wirkt seine Freundlichkeit auf mich immer irgendwie erzwungen -, eher als ein Ausdruck seiner Not denn als Ausdruck seiner Kraft.  Er ist ein paar Tage vor meiner Ankunft hier in ein neues (eigenes, sau schön gelegenes) Haus umgezogen, und ich habe mich an sich sehr darauf gefreut, ihm beim Einrichten zu helfen, doch irgendwie funktioniert das Alles nicht. Es fällt mir schwer, mich in dieser Situation zurecht zu finden; oft bin ich eher sauer als verständnisvoll, ärgere mich über ihn, anstatt die Dinge so zu nehmen, wie sie sind ... Also, das ist alles etwas mühsam, und nachdem ich heute erst eine Tasse Kaffee gehabt habe (ja, Kaffee ist wirklich miene Droge, und es ist keiner mehr im Haus!) hat auch die gütige Frau Sonne, die heute früh so mild und lächelnd schien, mich nicht wirklich erheitern können.

Dass ich schon seit Monaten einen Fragebogen des deutschen Studienverlages mein Geheeb-Buch betreffend ausfüllen müsste und ich diese Aufgabe andauernd vor mir herschiebe, und dass die meisten Europasegler - wie ich Inzwischen erfahren habe - die Karibik offenbar im April und Mai verlassen, und es überhaupt schwer sein, so eine Überfahrt zu finden ... naja, diese Dinge sind auch keine energiespritzen! So ist im Augenblick die Lage, also auf Halbmast und es schallt der Ton der Klageweiber weit hin über den Fluss, an dem Peter wohnt und der romantisch da unten plätschert. Man ist wiedermal ein armes Schwein, verdammt "unterwegs" zu sein auf holprigem Pfad ...!

Ich werde vermutlich am Sonntag von hier aufbrechen. Heute Abend treffe ich Scott, den Begründer des "international puppydog movement", einer Bewegung schwuler Männer, die gerne kuscheln und in einer grossen Bett zusammen schlafen wie puppies -, dies jedenfalls mein bisheriges Verständnis dieser Bewegung. Es ist das erste Mal, dass ich hier etwas ohne Peter unternehme, und ich denke, es wird mir gut tun. Dann hoffe ich auch noch ein wenig mehr Infos über Segelmöglichkeiten zu erhalten und mir überhaupt klarer darüber zu werden, was ich in dieser Sache nun tun will: Die Atlantikvariante weiter verfolgen, oder doch übern Pazifik? Oder mich von diesem Stress befreien und ...? Schliesslich will ich auch noch ein paar Briefe schreiben und ein Paket mit überflüssigen Sachen auf den Weg in die Schweiz bringen. Am Sonntag fahre ich dann zurück nach Kalifornien, wo ich die Stationen meiner Reise noch einmal - diesmal aber  von Norden nach Süden - abspulen will, um letzte Besuche zu machen, mich zu verabschieden etc.; hier ist also eine Art Höhe- und Tiefpunkt - der Punkt, an dem ich umkehre und mich auf den Heimweg mache ... - vielleicht  trägt dies zu meiner müden Stimmung bei.

So. Das reicht für jetzt. Mal sehen, wo Peter steckt. Wir wollten eigentlich seinen Rasenmäher inspizieren, denn die Wiese am Flussufer wuchert unziemlich vor sich hin und er ist besorgt wegen der Nachbarn. Vielleicht fahren wir auch noch kurz in die Stadt, um Kaffee und ein paar andere Dinge zu kaufen ... Mal sehen. - Cara Hanna, lass von Dir hören! Bis bald!