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An Hans R., Ende Dezember 1989

Es kommt mir ein wenig so vor, als ob ich mich auf's Altenteil, in's Privatleben zurückgezogen habe, während Du noch "draussen" -"im Leben" - stehst. Ich denke an Dich wie an einen alten Kampfgenossen, mit dem man einiges durchgefochten hat, aber eben: damals war's, ja damals. Was strudelt das Leben uns so unfreundlich weiter!? Nicht einmal Zeit Abschied zu nehmen oder wieder einmal nach dem Andern zu sehen! Zu kucken, was er so tut und denkt und wie es ihm so geht ...

Dabei geschehen ja auch hier bei mir Dinge, und Arbeit habe ich mehr denn je. Weshalb ich mir so zurückgezogen, so privat und ausserhalb des Lebens vorkomme weiss ich nicht recht: vielleicht weil ich eben drei ganz stille und zurückgezogene Tage hatte, in denen ich mich ganz ins alte Geisa zurückgezog, dort mit den Leuten über die Feuersbrünste 1858 und 1883 sprach, und mir die evan­gelische Schule an der Alleestrasse anschaute, die der kleine Paul besuchte lange ehe er der ausgewachsene Paul Geheeb mit Bart und Legende war. Ach ja: Geisa! Verschlafen, provinziell, das war es wohl. In den 1880erjahren meinte man ja eine Weile lang, es würde nun die Eisenbahn nach Geisa kommen, aber es wurde dann doch nichts aus den Plänen und die Korkfabrik, die kurze Zeit einige Arbeit gegeben und einen Hauch von Industrie ins Stadtchen gebracht hatte war ja auch sehr bald wieder eingegangen. Ach Geisa: "Das Eldorado der Abgeschiedenheit", verloren, steckengeblieben, schon seit dem 18. Jahrhundert im Abseits. Damals hatte sich der Gemeinderat ja eindringlich dagegen gewehrt, dass die neue Landstrasse von Frankfurt nach Leipzig durch ihr Städtchen ge­führt werden sollte. Das Bisschen Verkehr und Handel, das man sich von so einer Strasse allenfalls erhoffen konnte, schien die Unruhe und den Lärm, den diese Strasse bringen würde, nicht wert, und dann: wer wusste schon genau, wie lange die alten Häuser den Erschütterungen der schweren Lastwagen standhalten würden! Nein, Geisa ist Geisa, und man hat ja seine Vieh- und Krammärkte, seine Zünfte, seine Traditionen.

Ja Geisa! - Und dann mein Besuch in Jena! Zuerst die Schwärmerei jenes ewigen Studenten, der mir mit verklärtem Blick die Stadt zeigte und all die Keller und Hinterstuben, in denen sich die alten und jüngern Landsmannschgaften, die Corps und die Verbindungen - die Arminia und die Saxonia und die Thüringia und wie sie alle hiessen - getroffen haben, um zu trinken, zu singen, zu blöffen, zu politisieren und zusammen zu sein! Hier ein Fest, dort eine besondere Feier und Zechgeschlage und Duelle überall, innerhalb und ausserhalb dieses Jenas mit seinen zahlreichen Tafeln und Täfelchen an allen Hausecken, die an die erinnerten, die damals, in der grossen Zeit dieser Stadt, dort gewohnt und gewirkt hatten. Jena mit seinen Burgen, dem hellen Saaletal, den umgebenden Hügeln! Und nachher der jüngere Bericht, die Darstellung eines modernen Autors aus der DDR, der Blick in die gewerbliche und industrielle Entwicklung der Stadt: Zeiss-Werke, Otto Schott's glastechnisches Laboratorium, Ernst Abbe, die Carl-Zeiss-Stiftung, die der al­tersschwachen, stagnierenden Universität unter die Arme Griff, Institute und andere Gebäulichkeiten errichten liess, alles immer halb der Weisheit und halb dem Profit dienend. Der Fleiss, der Fortschrittsglaube, das imperialistisch-kapitalistische Denken, welches die Professoren und Studenten des alten Jena mehr und mehr ergriff, der Patriotismus, die grosse Naivität in politischen Dingen, die Deutschlandbegeisterung 1914 und der Widerstand gegen die Novemberrevolution 1918, die rote Fane auf dem Dach des jenaer Rathauses ...

Vielleicht fühle ich mich deshalb so weit ab vom Strom des heutigen Lebens ...

Dabei, wenn ich überlege -, meinen Kopf hebe und um mich herum blicke, dann ist da auch heutiges, aktuelles Leben zu sehen: da sind Menschen, Pina, Urs, Lukas, Barbara, Monika, Michael, Franck, Du, Anja ..., und Termine und Aktivitäten ... Man will - ich weiss nicht, ob Du davon schon gehört hast - eine zweite Auflage der "Alternativen Schulformen" drucken, im März soll ich in St.Moritz sprechen, im Dezember war ich im Seminar Muristalden in Bern, im Januar wird sich unsere Alternativschul-Arbeitsgruppe, die wir im Oktober in Ins ins Leben gerufen haben, wieder treffen, um über das Treffen 1990, die Idee einer evtl. Verbands- oder Vereinsgründung (der alternativen Schulen), die Kontaktaufnahme mit anderen Kreisen, Gremien und Institutionen und über mögliche gemeinsame Projekte, Projekte, bei denen "wir" und Andere, der Verband der Schweizer Privatschulen oder die Arbeitsstelle der katholischen Schulen der Schweiz oder ... dabei sind, zu sprechen ... - Kürzlich war ich in Zürich und habe die Gründer und Leiter des (privaten) IPP (Lehrer Aus- und Weiterbildungskurse) und den Koordinator der "Lernschule" (Beratung und Begleitung, Unterstü­tzung und Förderung von Schülern aller Art und aller Alter) kennengelernt ...

Ja, Mensch, lieber Hans. Arbeit über Arbeit. Schöne Arbeit häufig, oft auch langweilige, mühsame, vor allem rund um Geheeb: viel unergiebige Sucherei nach guten oder bisher noch nicht entdeckten Quellen, nach brauchbaren, d.h. kurzen und informativen Hinter­grundstexten (siehe oben) zur Belebung meiner geschichtlichen Kenntnisse und Gefühle. Dabei immer wieder - sehr interessant! - die Realität der heutigen Ecole, auch die Realität von konkreten Erziehungssituationen ...

Aber wo bleibst Du in all dem!? Wo bleibt die Zeit, die Ruhe, die Gelegenheit sich wieder einmal zu sehen, ein wenig zu reden, zu hören, gemeinsam nachzudenken? - Innerlich habe ich schon einige Male mit Dir konferiert, hab Dich auch schon ein paar Mal getrof­fen in irgend einer Beiz seit wir uns äusserlich zum letzten Mal gesehen und gesprochen haben, aber wo bleibt die Realität zum Anfassen, die sinnlich wahrnehmbare?!

Da wäre also ein Wunsch an das neue Jahr, auch ein Vorsatz: ich wüsste wirklich gerne, was sich bei Dir innerlich und äusserlich so getan hat in letzter Zeit und was bevorsteht! Da die Gelegenheit nicht einfach so kommen zu wollen scheint oder dies jedenfalls noch eine ganze Weile dauern könnte, werde ich Dich, wenn Du Dich nicht furchtbar wehrst, im Januar halt einmal besuchen kommen, mehr oder weniger ausgiebig, so, wie es unsere Zeit erlaubt und unsere Neugier will. Und Sonst? Weitere Wünsche? - Du sollst Dich möglichst gesund fühlen im nächsten Jahr und Freude haben am Leben, an der Arbeit, am Zusammensein mit Rosemarie und mit andern Menschen, die Du gern hast. Das wünsche ich Dir von Herzen. Ich bin wirklich gespannt, was Dir das kommende Jahr und die, die danach hoffentlich noch kommen, noch alles bringen, wie Dein Leben weiter geht, was Du noch alles anpacken wirst, und wohin das bereits begonnene noch führen wird. Viel viel Freude und Zufriedenheit wünsche ich Dir!

Uff! Ein geschwätziger Brief, so richtig von einem, der, wenn er einmal will, immer alles, oder doch mindestens drei Sachen auf's Mal will: einen richtigen Brief schreiben, schon damit fertig sein, sich in der Küche ein Glas Wein holen, sich noch einmal, ehe er ins Bett geht, an die Arbeit setzen will, um noch ein wenig weiter zu kommen in den Auszügen aus der "Deutschen Sozialgeschich­te 1914 bis 1945", die momentan im Kassettengerät stecken ...

Lieber Hans: ganz herzliche Grüsse und vielen Dank für Alles, was Du in diesem und in den letzten Jahren für mich und / oder mit mir getan hast! Ich hoffe es gehe Dir gut und, wie gesagt, ich rufe an! - Liebe Grüsse auch an Rosemarie.