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An Heidrun L., 11. Juni 2017, Basel

Liebe Heidrun! Also du bist auch in Basel gewesen, als ich die Wohnung aufgegeben habe und vor hatte, zu einer richtigen Welt-Reise aufzubrechen! Das Klavier hatte ich schon weggegeben, es stand nur noch da, weil Christian noch einen Lieferwagen auftreiben musste. Also war ich schon halb weg, auf der Reise!

Es war ein schöner Abend! Aber einiges stimmt trotzdem nicht! zum Beispiel dass wir am nächsten Tag einen Ausflug auf den Weihnachtsmarkt gemacht haben. Das muss ein anderes mal gewesen sein, denn – da bin ich mir sicher –, ich habe die Wohnung Ende Sebtenber (2010) gekündigt! Aber ja: wir hatten's gut zusammen!

Ich habe immer wieder das Gefühl, dass ich innerlich leer bin, und ich mich nie mehr 'erholen' und 'Ganz' werden kann. Ich warte und es geschied nichts! Ich probiere, aber immer wieder falle ich zurück in die 'Leere', ich bin nicht tot, aber ich bin auch nicht lebendig! Das ist schlimm, vor allem 'seelisch', weil ich eigentlich was tun möchte, aber das Tun stellt sich nicht einfach so Ein! Ich bin dran, mich aufzurappeln, und dann falle ich wieder in das Loch, das ich nicht beschreiben kann, denn es ist wirklich ein 'Loch'. Ich bin nicht depressiv oder traurig –, doch: ich bin traurig, immer wieder traurig ... Ich bin immer noch nicht über den Verlust hinweg, den Verlust des Reisens, den Verlust der Mobilität, des Sprechens, des Begreifens ...

Es geht alles viel langsamer als früher, nicht nur körperlich, ich laufe viel langsamer, ich taste mit einer Hand über den Tisch und finde nichts und ich weiss, wenn ich zwei Hände hätte, dann ... Schreiben ist auch langsamer, vielleicht weil das Begreifen auch langsamer von statten geht, aber ich habe auch viel mehr Mühe, weil mir nur noch eine Hand zum Schreiben bleibt, und zum ersten Mal vermisse ich die Augen, denn sie könnten so vieles ausgleichen: ich müsste nicht ein-händig über den Tisch tasten, denn ich hätte Augen! Ich ... - Weisst du, ich höre lieber auf, einer hat einmal gesagt, zehn Minuten darfst du pro Tag Traurig sein, und dann musst du probieren, das Leben anzunehmen, wie es JETZT ist! Gut. Ich probier's! - Ganz liebe Grüsse auch dem Jürgen, Martin