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An Helmar M., 24. April 1993

Lieber Helmar! Ich habe wiedermal etwas auf dem Herzen, und da's schriftlich besser zu gehen scheint, kriegst Du diesen vermutlich ziemlich überraschenden und auch schwierigen Brief. Vielleicht hilft er, die Verstopfung in der Leitung zwischen Dir und mir zu beheben, denn verstopft scheint mir diese Leitung tatsächlich. Vielleicht hilft er auch nicht.

Merkwürdig: Am Abend vor jenem Morgen, an dem Du mich aus dem Bett geklingelt hast - damals, als ich Dir gleich sagte, ich wolle noch etwas weiterschlafen - am Abend vor diesem vermutlich einigermassen frustrierenden letzten Kontaktversuch von Dir, habe ich mit Pina, einer Freundin von mir, sehr intensiv über Dich gesprochen. Ich habe ihr von meiner Geschichte in Sachen Schwulsein erzählt, von diesem langsamen und schwierigen Prozess, der irgendwann vor ca. 20 Jahren begann. Eine Geschichte von viel Ängstlichkeit, Scham, Schüchternheit, stillen Hoffnungen, Sehnsüchten etc.-, ganz stumm zuerst, alles nur in mir, dann -nach und nach - "öffentlicher". Mit 19 oder 20 sprach ich erstmals in einer Selbsterfahrungsgruppe in den USA davon, dass ich schwul sei und mich so sehr schäme deshalb. Dann, mit 22 oder 23 "gestand" ich diese für mich so schreckliche Sache zum ersten Mal einem meiner Freunde aus dem Gimmi, danach noch einem und noch einem. Da diese jedoch nie mehr auf die Sache zurückkamen und überhaupt ziemlich hilflos reagierten (nicht direkt ablehnend, aber doch so, dass ich das Gefühl hatte, sie wollten von diesen Dingen lieber nichts mehr hören), fiel ich danach wieder in meine Stummheit zurück, widmete mich den Sorgen der andern und behielt die Meinen für mich. So traute ich mich auch lange nicht, irgendwem von meinen Gefühlen gegenüber Michi und (später) gegenüber Dir zu erzählen.

Heute ist es mir klar: Ich war damals (als relativ junger Mitarbeiter in der Ecole) zuerst in Michi K. (den du wohl nur noch sehr am Rande kennengelernt hast) und später in Dich verliebt! Eine im Grunde ganz tolle Sache! Viele ganz tiefe, schöne Gefühle -, für mich aber, weil "verboten" (gesetzlich, vor allem aber moralisch!) und pfui! waren diese Gefühle vor allem ein Problem, das mich mehr und mehr belastete. Irgendwann habe ich mich dann einmal aufgerafft, und die ganze Sache dem Frank W. (damaliger Mitarbeiter, Du erinnerst Dich) erzählt -, was gut war, weil er mir zu verstehen half, was da in mir los war. ...

Nun. Das ist inzwischen vorbei, und es geht mir in Sachen Schwulsein (und überhaupt) heute alles in allem viel besser als vor 15 oder noch vor 5 Jahren. Die meisten Menschen, mit denen ich verkehre, wissen davon, und man hat sich irgendwie daran gewöhnt. Seit einiger Zeit bin ich auch ganz glücklich verliebt-, nicht mehr so heimlich und hoffnungslos wie früher.

Und doch. Irgendetwas ist übrig geblieben aus jener Zeit, etwas, was meine Beziehung zu Dir trübt und zu einem guten Teil dafür verantwortlich ist, dass wir uns seit Jahren nicht mehr getroffen haben, obwohl auch ich im Grunde möchte.

Ich habe Dir von meinem Schwulsein und von meinen Gefühlen für Dich ja einmal ziemlich ausführlich und offen erzählt - irgendwann vor oder nach einer Demo in Bern vor ca. 10 Jahren. Da könnte man doch sagen, die Sache sei erledigt? - Ja, man könnte. Aber es scheint nicht so zu sein.

Als ich Pina von meinem langsamen langsamen "Coming out" erzählte (eine Geschichte, die übrigens auch heute längst nicht abgeschlossen ist!), merkte ich, dass ich innerlich immer noch an jenem Gespräch mit Dir damals in Bern herumknorze. In meiner Erinnerung höre ich Dich sagen, dass Du persönlich nichts gegen mich hast, auch nicht gegen mein Schwulsein, dass Homosexualität gemäss der Bibel aber eben doch eine Sünde sei, und Du es deshalb besser finden würdest, wenn ich versuchen würde, davon wegzukommen ... - Wir haben ein wenig hin und her geredet und die Sache schliesslich als etwas beiseitegelegt, wo wir offenbar verschiedene Auffassungen haben. - Ich wollte die Sache wirklich vergessen, wollte Deine Vorbehalte akzeptieren und Dir das Leben nicht durch weitere Gespräche über dieses Thema "schwer" machen.

5. Sept. 1993: ... Wollte Dir das Leben durch weitere Gespräche über dieses Thema nicht "unnötig" schwer machen, sondern ... Da bin ich vor mehr als 4 Monaten stecken geblieben, halb, weil ich nicht mehr recht weiterwusste, nicht wusste, was ich mit diesem Brief nun eigentlich will, halb, weil das Leben mich wieder erfasst, vom Computer losgerissen und den Strom der Zeit hinuntergespült hat: Vorträge, Musikstunden, Artikel schreiben, Meldungen redigieren -, dazu 10 Tage Prag, ein paar Tage Lötschental, neue Artikel, Auftritte, Besuche, Sitzungen ...

Ja, was will ich mit diesem Brief? - Dir mein Herz ausschütten? Klarheit schaffen, damit Du meine Halbherzigkeit und Zögerlichkeit Euch und Dir gegenüber nicht falsch verstehst und die Ursachen dafür bei Dir suchst, während sie eigentlich, das glaube ich, ganz fest in mir liegen? Klarheit, damit -, damit wir vielleicht wieder neu zusammenkommen können oder damit einander innerlich endgültig lebe wohl sagen können, damit wir wissen, woran wir miteinander sind und waren? Vielleicht. Vielleicht. Ich weiss es nicht recht. Ich weiss nur, dass dieses Gefühl einer Liebe, die nicht O.K. ist, noch immer in mir steckt und mich hemmt, mich stumm und ängstlich macht, und wenn jemand (meist ohne es zu wissen) daran rührt, dann wacht eine tiefe Sehnsucht auf, all die Dinge sagen und tun, ausdrücken und ausleben zu dürfen, die ich so sehr zurückzuhalten und zu kontrollieren gelernt habe, um mich nicht zu blamieren, nicht abgelehnt, ausgeschlossen und zur Schnecke gemacht zu werden. Oft lebe ich gut und empfinde diese Erniedrigung, diese innere Scham nicht, aber eben, es gibt Situationen und Momente, in denen ich über diesen Teil in mir nicht hinwegsehen und hinwegspielen kann, in denen ich nicht einfach "Kumpel" oder "Abenteurer" oder was auch immer sein kann, obwohl ich möchte. Natürlich gibt es Situationen, in denen ich bereit bin, Theater zu spielen, weil es eben "sein muss". Aber gegenüber Menschen, die meine Freunde sind oder es werden könnten, will ich mich nicht so verleugnen und vergewaltigen müssen. Du denkst vielleicht, "warum "müssen" -, er muss doch nicht. Er kann doch sagen, was er denkt und empfindet und möchte, solange er einem nicht gerade vergewaltigt!" - Sicher, dieses Gefühl, nicht zu dürfen steckt vor allem in mir. Aber die hilflosen, ungewollt (und gewollt) ablehnenden Reaktionen meiner Umwelt (auch Deine Reaktion damals), das Ganze in unserer Gesellschaft bestehende Negativbild von Schwulen belasten mich und verstärken das Gefühl, mich verstecken und vergewaltigen zu müssen, auch wenn ich vielleicht wirklich nicht müsste ... Irgendwie muss ich da noch mehr innere Arbeit tun als ich bisher getan habe, um in dieser Sache freier und mutiger zu werden. ...

Und jetzt? Was soll jetzt werden? Ich weiss es nicht. Vielleicht ist unsere Beziehung mit diesem Brief äusserlich zu Ende. Vielleicht beschäftigt Dich das, was ich geschrieben habe, und Du reagierst einmal darauf. Vielleicht "traue" ich mich wieder zu Euch zu kommen, nachdem ich Dir und Evelin all das anvertraut habe, ohne dass wir gross darüber sprechen brauchen. Vielleicht ...

Was auch immer passiert, Helmar! Ich schicke Dir ganz herzliche Grüsse und viele gute Wünsche für Dich und Euch Alle! Kraft und Gesundheit und Lebensmut und Glück und Alles, was zu einem frohen Leben gehört! Du bleibst mir als warmherziger, friedfertiger und liebevoller Mensch in Erinnerung! Lass Dir diese Eigenschaften, die ich immer als so wohltuend und schön erlebt habe, vom Leben nicht verderben oder abluxen und studier Dir wegen dieses Briefes den Kopf nicht kaputt! Wenn Du reagieren magst, dann tu's, sonst ... wir werden ja sehen, wo das Leben mit uns noch hin will! - Ganz herzliche Grüsse auch an Evelin, für die dieser Brief auch ist.