www.martinnaef.ch / 1.2: Briefe > An Klaus Z. und Barbara M., Anfang Mai 1991
.

An Klaus Z. und Barbara M., Anfang Mai 1991

Liebe Ihr beiden oder Ihr lieben beiden ..! Erstaunt war ich, von Euch solche Post zu kriegen: das Projekt einerseits - die Pilgerfahrt nach Assisi - dann die Form Eures Briefes: wer hat Euch denn den ganzen Text so perfekt in alldeutsche Blinden-Kurzschrift umgesetzt?

Nein. Wie ihr wohl vermutet habt, will ich mich nicht anmelden, um mitzukommen, nur grüssen und Euch Beiden viel Gutes wünschen: eine schöne Zeit in Italiens lieblichen Hügeln und Dörfern (so zumindest stelle ich mir die Gegend um Assisi vor-, teils auch auf Grund des ... na, das ist schon wieder eine Geschichte für sich, wie ich vor 15 oder 16 Jahren in Perugia war, 4 oder 6 Wochen lang im Sommer mit meinem Freund Thomas, und wir an einem Abend per Bus nach Assisi fuhren, um uns ein Konzert anzuhören. Anschliessend fuhr kein Bus mehr und niemand wollte uns zwei Autostoppers mit zurück nehmen zu unserer Signora. So blieben wir denn in Assisi oder besser: wir wanderten vor die Stadt und legten uns irgendwo in ein Feld, um zu schlafen. Romantisch war's - naja, so halb und halb, denn wir hatten weder eine Decke, noch einen warmen Mantel oder so etwas und vor allem gegen Morgen wurde es doch einigermassen feucht und kältlich. Wirklich romantisch war dann der Weg zurück in die Zivilisation am frühen Morgen, das Frühstück in Assisi und die Fahrt nach Perugia ...). - Eine schöne Zeit in Italiens lieblichen Hügeln wünsche ich Euch, aber auch eine schöne, gute, reiche Zeit in und mit Eurem Alltag. Viel Freude an Euch und der Welt um Euch!

Wann werden wir uns sehen, fragt ihr? - Vielleicht noch in diesem Monat; vielleicht noch vor Assisi. - Pina, die ihr ja beide kennt, wird vermutlich gegen Ende Mai in Graz sein, um sich dort ihr zweites Auge hinausoperieren zu lassen (eine schmerzliche Sache für sie!). Ich will sehen, dass ich in der Zeit auch ein paar Tage - vielleicht auch nur einen oder zwei - dort sein kann. Der Aufwand schreckt mich allerdings etwas (man wird träge und bequem auf's Alter!), aber ich denke, dass sie sehr froh sein wird, Menschen, die ihr irgendwie vertraut sind, um sich zu haben, um nicht zu sehr ihrem Schmerz und der für sie schwer zu ertragenden Fürsorglichkeit ihrer Familie (im Grunde tolle Leute!) ausgeliefert zu sein. Dann also: zwischen dem 20. und dem 30. Mai, kurz vor Eurem Take-off könnte es durchaus sein, dass ich plötzlich bei Euch vor dem Haus stehe. Hättet ihr dann vielleicht auch ein Bett oder einen Schlafteppich für mich? Das wäre ganz super! - Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr vielleicht auch ein wenig Zeit und Energie für Pina übrig habt, sofern ihr überhaupt noch in der Stadt seit; der Gedanke, dass sie zwei Leute in Graz kennt, hat ihr in den letzten Monaten (seit sie auf diese Operation zugeht) immer wieder ein wenig gut getan. - Nun. Man wird telefonieren von hier nach dort und von dort nach hier und alles wird Form annehmen, wird sich ereignen und nach und nach entschwinden im Raum, der da heisst: Früher ... Als ich ... Als wir ... - Vergangen.

Ich selbst: oje. Da gibt's viel zu erzählen. Viel Arbeit oder viel Beschäftigung, denn ob's wirklich Arbeit, reelle, sinnvolle, gute Arbeit ist, das weiss ich nicht immer. Ich staune und leide immer wieder an unserer übersättigten, alt gewordenen, fast toten Kultur. Das Leben in unseren Breiten scheint zu 99% aus Sachzwängen, Gewohnheiten und Hemmungen zu bestehen; das meine vielleicht zu 97% - ein Trost manchmal, manchmal aber auch Grund grosser Beunruhigung. - Ich schaffe halt (wie Ihr als erste Nicht‑Schweizer Abonnenten Euch wohl denken könnt) an der neuen Zeitung. Habe gegenwärtig den Kopf voll mit der neuen Nummer zum Thema Home-Schooling; ich denke darüber nach, um was es bei dieser Sache eigentlich geht, versuche mir selbst über meine Einstellung dazu klarer zu werden, organisiere noch fehlende Beiträge, mache mir Gedanken über die "Ausgewogenheit" des Heftes etc. etc. - Dazu übrigens (es spricht Ihr Redakteur!): Sollte Ihr zufällig etwas über die Situation von "Home-Schollern" in Österreich wissen, so teilt es mir doch mit (z.B. wenn ich in den nächsten 14 Tagen mal anrufe). Es soll bei euch ja nicht so schwierig sein, Kinder zu Hause zu unterrichten. Allerdings: besteht wie in der Schweiz eine Unterrichtspflicht oder kann man die Kinder auch ganz frei, ohne Unterricht etc. aufwachsen lassen, so wie es der radikale Flügel der "Home-Schooler" eigentlich will? Das geht in der Schweiz nämlich deshalb fast nicht, weil in den meisten Kantonen jedes Jahr oder all zwei Jahre vom Staate geprüft wird, ob das Kind den Wissenstand hat, den es in der Schule inzwischen haben sollte. Es findet also durchaus "Schule" statt, einfach in individueller, handgestrickterer Form ... für meinen utopischen Geist und mein freiheitsglaubendes Herz etwas kümmerlich ... für die Familien, die diesen Weg wählen, hoffentlich eine gute Sache ... - Ihr seht, ich bin engagiert. Das Leben hat mich. Jetzt will ich versuchen, Roger Auffrand in Paris zu erreichen ... Dann ...

Am Nachmittag werde ich (o Kopf Herz und Hand!) in der Werkstatt meines Bruders ein grosses Bett für mich bauen (zumindest mal damit anfangen). Nachdem die Liebe mich wiedermal aufgesucht hat und (seit einigen Monaten) ziemlich glücklich macht, ist die Sache mit dem Bett wichtiger geworden als auch schon. ... - Also Ihr zwei. Wir werden miteinander telefonieren. Wenn ihr Zeit habt, hört oder lest euch etwas um: Zahlen, Fakten, Meinungen zu Home-Schooling / Privatunterricht / Schulverweigerung in Österreich.

Ganz herzlich gegrüsst von Eurem über die länge dieses Briefes selbst ganz erstaunten und Euch für den eurigen dankenden