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An Klaus Z. und Barbara M., im September 1991

Lieber Klaus und liebe Barbara! Ich sitze mitten in ziemlich viel Arbeit - gute, spannende Dinge - und plötzlich über­kommt mich das Bedürfnis, euch beiden einen kleinen Gruss zu schicken.

Ich stehe ja sehr in Deiner Schuld, lieber Klaus, nicht nur ideell und allge­mein, sondern besonders in Bezug auf eine Schachtel Mo­zartkugeln, die Du am Bahnhof in Graz für Renzo gekauft hast, und die ich Dir nie bezahlt habe ... Dabei haben die Kugeln in meiner Liebe einen solchen Aufschwung er­zeugt, dass sie nachgerade unbezahlbar geworden sind ... Klar, dass mein Schlaf seither nicht mehr ruhig ist - der Schuld wegen, nicht weil Renzo ihn stören würde! - und klar auch, dass ich täglich sinne, wie ich meine Schuld beglei­chen könnte ... Vielleicht -, es steigt in mir, indem ich dieses schreibe, eine leise Ahnung auf wie dies geschehen könnte! Doch o, es fehlt die Zeit und Ruhe, der Ahnung nachzugehen und sie in Taten umzusetzen, die dereinst bis hin zu Euch gelangen ... - Vorerst

nehmt hin das Ahnen meiner Ahnung

und die an mich gerichtete Mahnung,

sie gelte Euch als Hof­fnungsschimmer,

als stilles Licht in dunklem Zimmer.

Ich hör gleich auf, sonst wird's noch schlimmer,

mit der Reimerei natürlich,

die mich manchmal ungebührlich,

kraftvoll in ihr Bannen zieht,

sodass jeder Mitmensch flieht,

um vor dem, was dann geschieht,

sich in Sicherheit zu bringen,

statt wie irre mitzusingen,

eitler Worte tönend Opfer,

hol geword"ner Sprücheklopfer,

hirnverlass'ner Geisteskranker,

ohne Zentrum, ohne Anker!

Ach ihr zwei, 's ist wirklich schlimm,

drum zum Schluss jetzt Bimmel-Bimm Mel-Bimm mel Bimm.

Tut man's nicht, so ist man's Doch,

kriecht hinunter in das Loch,

sagt "mein lieber" zu dem Koch,

und liest hoffnungsarm Ernst Bloch.

Es wird mir eng,

das Herz wird bang,

ich reagier nur noch auf Klang,

ich bin von Kopf bis Fuss Gesang ...

... So jetzt Stopp! Ich trete hart auf die Bremse und steige aus dem dummen Karren aus ... geh, wenn's so ist, viel lieber wiedermal zu Fuss nach Haus ... Vorgestern hatten wir Redaktionssitzung von Endlich, und da tauchte Dein Name wieder einmal auf, lieber Klaus. Jetzt liegen die von Dir ein­geschickten Dinge bei mir und harren der Betrachtung und Auswertung.

Gestern war ich den ganzen Nach­mittag und Abend bei Viktor in Asch, um die Tagung über die freie Schulwahl vom 3. November in Luzern vor­zuberei­ten. Heute habe ich versucht, erste ReferentInnen und Podi­umsdiskussionsteilnehmer­Innen zu gewinnen. Letzte Woche und die Woche davor habe ich während Tagen in relativer Ruhe und insgesamt recht zufrieden an dem Geheeb-Buch geschrieben. Jetzt habe ich den Ein­druck, der Einstieg ins Schreiben ist tatsächlich geschafft ... ein mit Vorsicht zu behandeln­des Gefühl, doch wenn's nun tatsächlich so wäre, so würds mich freuen, denn ich habe nun doch schon seit mindestens zwei Jahren immer wieder an diese Tür geklopft, hab Schreibanläufe unternommen und bin immer wieder entmutigt auf der kalten, leeren Strasse der alltä­glichen Geschäfte gestanden, ohne Einlass ins Hause der Geheebs erhalten zu haben. ... Jetzt also bin ich hoffnungs­froh.

Auch die Arbeit mit "Endlich" macht immer wieder Freude. Schön war's, dass die Zahl der AbonnentInnen im Juli und August auf mir rätselhafte Weise von 120 auf 180 oder 200 gestiegen ist. Gespannt bin ich, ob wir Reaktionen zum Bildungsgut­schein-Thema kriegen und welche. Sehr wertvoll fände ich auch kritische Stellungnahmen, skeptische Einwän­de, denn nur diese bringen die Diskussion im Augenblick weiter. Interessant ist die Fra­ge, wie sich das Gesicht von Endlich in den nächsten Mona­ten entwickeln wird: wir sind uns in der Redaktionsgruppe eigentlich einig, dass wir das 2. und 3. Bein der Zeitung - die Berichte aus der Praxis und die Kurznachrichten, Lese­tipps, Veranstaltungshinweise - noch ausbauen müssen. Wir wollen im Grunde keine Theo­riezeitung werden, sondern eher ein Spiegel und Werkzeug für die Arbeit an der Basis, ein Grass-Root Organ. Ob's gelingt. ... Wie gesagt: viel lustige, manchmal auch lästige Arbeit.

Und Ihr? - Ich denke immer wieder mit viel Dankbarkeit an die Tage in Graz und Eure so schöne, gute Gastfreundschaft zu­rück. Es war toll, Euch beide so näher kennenlernen zu können - Dich Barbara ja ei­gentlich überhaupt erst einmal an-ken­nenlernen -, und natür­lich war's auch sehr schön, dass Pina und ich diese Hilfe und Fürsorge von Euch hatten!

Sie, Pina, war seither in den USA und hat dort, als Hilfsleiterin in einem Ferien­lager für Jugendliche, die ersten Zusammen­stösse mit der Pädagogik, diesem Wolf im Schafspelz, gehabt. Ihr Plan, im Winter vielleicht als Prak­tikantin in die Ecole auf dem Hasliberg oder ins Schlössli Ins zu gehen hat sich nach dieser Erfahrung ganz schnell aus dem Staub gemacht. Das Erwachsenen-Kinder-Verhältnis, das die meisten pädagogischen Orte prägt, ist ihr zu suspekt. Im November und Dezember wird sie noch einmal in die USA fliegen - des einen Freud ist des andern Leid, spricht das Ozon-Loch und sage: ja! Sie will in Esalem einen 4-wöchigen Massagekurs besuchen und anschliessend noch ein wenig in Kalifornien herum­reisen und die Bekann­ten, die sie letztes Jahr dort getroffen hat, aufsuchen. Es geht ihr, seit sie wieder hier in Basel ist (irgendwann muss sie auch wieder was arbeiten) sehr gut. Die "Arbeit" mit den Jugendlichen hat sehr belebend auf sie gewirkt, und die Konfrontation mit dem Erziehungsstil der Erwachsenen war offen­bar ebenfalls spannend, wenn auch zum Teil schwierig. ...

Inzwischen ist Mittag vorbei und ich muss mich bereit machen. Um 15.30 soll ich in Zür­ich sein ... Wieder eine Sitzung! Morgen und übermorgen sind zum Glück freie Tage, d.h. Tage, an denen ich keine Verpflichtungen ausser Haus habe, abgesehen davon, dass ich morgen bei einer alten Bekannten von mir, die ganz nah wohnt, zum Mittagessen ein­geladen bin. - Wäre ich doch schon wieder hier in Basel, in meinem lieben Zimmer, in unserer Wohnung ...

Und ihr? - Mögt ihr einmal ein wenig erzählen? Ich denke immer wieder einmal an Euch und frage mich, wie's Euch inzwischen geht, was ihr seid unseren gemeinsamen Tagen in Graz erlebt habt, wie die Sommerzeit war und was ihr jetzt vor oder in Euch seht? Was ihr hofft und fürchtet? Wenn Ihr schreiben mögt, dann tut's! Und wenn Du, lieber Klaus, uns weiterhin mit Informationen aus Österreich versorgst, so sind wir Dir dafür immer dankbar. Wirklich: so was hilft sehr! Wir können ja unmöglich über alles auf dem Laufenden sein, wenn wir nicht auch regelmässig Informationen erhalten! In diesem Sinn ist Deine Mitarbeit für uns sehr wertvoll! Danke! Ehrlich, gell!