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An Rose C., 28. Juni 1993

Liebe Rosi! So vergeht die Zeit! Ich bin längst aus Prag zurück und wieder tief im hiesigen Alltag ...

Nachdem Hanna den Zug beinah verpasst hat - ich war schon drauf und dran, wieder auszusteigen, um mit ihr auf den nächsten Zug zu warten - sind wir nach guter Fahrt gegen halb fünf Uhr nachmittags in Prag angekommen. In einem alten Taxi mit reichlich eiernden Rädern und freundlichem Fahrer brausten wir bald darauf in Richtung Innenstadt, hin zum Carolinum, dem ältesten Gebäude der Karlsuniversität. Dort fanden wir schon die ganzen Kämpferinnen und Kämpfer für mehr "Freiheit im Bildungswesen" in eifrigen Debatten, Begrüssungsschreie und Neuigkeiten aller Art austauschend, Treppenstufen hinauf und hinabsteigend, Kleider und Schuhe der jeweils anderen begutachtend und neu entdeckte Hände schüttelnd. Leider war der gute Havel verhindert, die Eröffnungsrede zu halten ‑ er sei im Spital, hiess es -, sodass wir mit dem Rektor der Karlsuniversität (der ohnehin auf dem Programm stand) und dem Chef des "europäischen Forums für Freiheit im Bildungswesen" Vorlieb nehmen mussten. ...

Alles ging dann seinen konferenziellen Gang: Reden, Musikdarbietung zum Empfang, Weisswein und Knabberzeug, Essen, Gespräche, Menschen, Menschen, Menschen! Ich habe Jerry Mintz aus den USA kennengelernt, der - typisch amerikanisch! - seiner Magnifizent, dem Rektor der Universität während seiner hochphilosophischen Ansprache immer mit der Videokamera vor dem Kopf herumfummelte und auch sonst von A bis Z sehr engagiert an allem teilnahm. Dann sprach ich einen Abend lang mit einem Lehrer aus Bulgarien, der dort Sekretär eines Alternativschulvereins ist. Ich lernte ein paar Menschen aus Moskau und Petersburg kennen und habe mich weiter in die Innereien der veranstaltenden Organisation, eben dieses europäische Forum, hineingewuselt, höher hinauf in die Regionen, wo Ehr und Infarkt in lächelnder Zweisamkeit auf die Übereifrigen warten. Wenn wir nicht an irgendwelchen Arbeitsgruppensitzungen oder Vorträgen unsere Hinterteile strapaziert haben, dann haben wir uns auf den Plätzen und Strassen des alten Prag der Gefahr der Zerquetschung ausgesetzt, indem wir im Strom der Touristen schwimmend von Restaurant zu Restaurant uns treiben liessen, hie und da ein Stück Glockenspiel oder Jugendstilfassade oder Karlsbrückenromantik oder sonst etwas Kulturelles erhaschend. Heiss war's auch und sehr laut in der Nacht, die wir in einem herrlichen Hotelo verbracht -irgendwo draussen in Richtung Floughafen, 11 Stockwerke hoch zwischen einer der grossen Ausfallstrassen Prags und irgendeiner Eisenbahnlinie schwebend.

Am Sonntag gab's Szenenwechsel, und ich wohnte bis Mittwochabend einer zweiten Konferenz bei: Viel weniger Menschen, eher eine Art Sachverständigengremium mit einigen interessanten Köpfen aus den USA und einigen Personen aus der tschechischen Politik - alles viel gedämpfter, zurückhaltender -, viel besser organisiert, aber zugleich irgendwie auch lebloser. Statt in dem furchtbaren Koloss von Hotel wohnte ich während der zweiten Konferenz in einer kleinen, sehr schön und ruhig gelegenen Pension mit Stühlen draussen im Vorgarten und praktisch keinem Verkehrslärm.

Am Donnerstag früh hab ich mich dann endlich in den Zug gesetzt und bin via München direkt bis Zürich gefahren - ganz froh und zufrieden, wieder zurück in meinen Alltag zu dürfen! Am Abend war ich wieder hier, bei mir.

Allmählich scheine ich nun auch innerlich wieder ganz zurück. Ich sitze bei offenem Fenster, spüre meinen leicht knurrenden Bauch - schon wieder hungrig! -, räume wiedermal meinen Schreibtisch auf und erledige die Dinge, die in den letzten Wochen liegen geblieben oder neu dazugekommen sind. Ich scheine tatsächlich nach dem Prinzip zu leben, je mehr man tut, desto mehr hat man zu tun! - Ideen zu haben ist verheerend, denn sie sind - wenn's dann um die Ausführung geht - immer mit Arbeit und noch mehr Arbeit verbunden!

Vergangene Woche habe ich ein paar Vorferientage mit Renzo zugebracht. Unser ursprünglicher Plan für drei Tage in die Berge zu fahren, ist zwar ins Wasser gefallen, weil's in den Tagen zuvor so viel geregnet hat, dass Wandern ziemlich unsinnig schien, aber wir haben dann immerhin einige kleinere, teilweise jedoch sehr interessante Ausflüge in die Umgebung von Basel gemacht. Vor allem toll war der Besuch in einem Museum für mechanische Musikinstrumente (Spieldosen, mechanische Klaviere und Orgeln, Drehorgeln, mechanische Zittern und Handorgeln etc. etc.). Dieses Museum - ursprünglich eine private Sammlung -gehört heute zum Schweizer Landesmuseum in Zürich, liegt jedoch in einem kleinen Dorf irgendwo hinter Basel. Sowohl die Sammlung selber als auch die regelmässigen Führungen sind ganz grossartig -, wir waren jedenfalls Beide begeistert.

Gestern und Vor gestern war ich dann wieder auf Reisen: Am Samstag in Offenburg, um mit den deutschen Alternativschulleuten über die Umgestaltung von "endlich!" zu einer das ganze deutsche Sprachgebiet umfassenden Zeitung zu sprechen. Gegen Abend war ich dann in Laufenburg - ungefähr 40 km Rhein aufwärts von Basel -, wo ich mit meinem Akkordeon bis zwei Uhr in der Früh zum Dorffest beigetragen und meine Finanzen damit wiedermal auf Vordermann gebracht habe. Gestern war ich schliesslich noch in Bern, um mit ein paar Leuten aus der letztjährigen Theatertruppe über eine gemeinsame Kabarettproduktion zu sprechen, ein vorläufig allerdings noch sehr vages Unternehmen, das vielleicht schon bald als nicht durchführbarer Traum in meine Vergangenheit eingehen muss. Und jetzt sitze ich eben hier, geniesse die Ruhe und die Freiheit eines kaum verplanten Tages. Mein Magen knurrt noch immer, der grosse papierene Lampenschirm schwankt im Wind, und ich denke an die Dinge, die ich heute und Morgen noch tun muss und will.