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An Ursi T., Reisemagazin "Globus", 1. Dezember 1998, Basel

Liebe Frau Trösch! Irene T. von der Beratungsstelle für Sehbehinderte und Blinde an der Missionsstrase in Basel hat mit Ihnen kürzlich über die Möglichkeit gesprochen, dass ich in einem der von Ihnen betreuten "Reisemagazine" einmal über meine Erlebnisse als (blinder) Reisender berichte. Auf Ihren Wunsch hin schreibe ich Ihnen heute kurz, was ich in dieser Sache "zu bieten"  habe. Gleichzeitig will ich diesen Brief dazu benützen, mir selber klarer darüber zu werden, was ich  selber von der Möglichkeit einer solchen Sendung halte.

Zu meinen Reisen: Ich habe in den 70er Jahren 2 Jahre in den USA gelebt und studiert. Danach habe ich die USA zweimal etwas eingehender bereist: Zuerst für 7 Wochen 1987, dann für ein halbes Jahr 1997. 1997 bin ich per Containerschiff (Italien / New York) in die USA gereist und wollte per Segeljacht nach Europa zurück, ein Unternehmen, das nur halb geklappt hat (ich wurde auf den Bermudas wegen "Androhung von Meuterei" von Bord gestellt!!!). - Natürlich habe ich auf diesen Reisen einiges erlebt: Ich habe die USA sicher 5 mal per Gray Hound durchquert, war 1997 für drei Wochen Gast im "Short Mountain Sanctuary", einer interessanten Kommune von 16 (schwulen) Männern, habe dann ca. 4 Wochen in Ojai, dem Ort, an dem Krishnamurti die letzten Jahrzehnte seines Lebens zugebracht hat, und in San Francisco verbracht. - Auch in Europa war ich während der letzten Jahre immer wieder unterwegs: Polen, viel Deutschland, einmal England, einmal Rumänien ...- Während ich in den USA eigentlich immer allein gereist bin, bin ich in Europa in der Regel mit  Freunden unterwegs gewesen.

Zu meiner "Eignung" für das Reisemagazin "Globus": Weder meine Reiseziele noch meine Reiseerlebnisse erscheinen mir als besonders spektakulär. Was andere Menschen aber natürlich immer wieder interessiert, das ist die Frage, wie ich als blinder Mensch denn auf all diesen Reise überlebe, wie ich es mache, in der grossen weiten Welt nicht verloren zu gehen und - diese Frage finde ich besonders interessant: Was ich eigentlich von diesen Reise habe, wo ich all die Naturschönheiten etc. nicht sehen könne. - Gesprächsstoff gibt es also wohl, auch wenn ich nicht zu Fuss über die Anden gewandert oder sieben Jahre im Amazonasbecken gezeltet habe. Aber ich weiss nicht recht, ob diese Themen in das von Ihnen betreute Reisemagazin passen. Was ich an sich gerne verständlich machen würde ist für eine Sendung wie die Ihre vielleicht zu abstrakt, zu philosophisch. Es geht mir nämlich eher darum, dass andere an Hand des konkreten Beispiels meiner Reiserei miterleben können, wie ein Mensch so in seine "Behinderung"  hineinwachsen kann, dass solche Dinge möglich sind. Das Motto wäre hier "mit meinen Mitteln und auf meine Weise meinen (Lebens)-Weg gehen". Mein Reisen ist dann nur die Veranschaulichung dieses irgendwie für alle Menschen geltenden Mottos. Eine Sendung über meine Reiseerlebnisse würde, so gesehen, nicht nur etwas darüber sagen, was "Blinde" alles tun und können, sondern es würde auch sichtbar werden, dass das Erlebnis des Unterwegsseins (sei es im übertragenen Sinn des gesmaten Lebensweges oder im konkreten Fall der Reise) letztlich für mich ganz ähnlich ist wie für Sie oder irgend einen "nicht  behinderten" Zuhörer. Es geht um Mut, um Neugier, um die Fähigkeit, mit unvorhergesehenem  umzugehen, um Vertrauen, um Kontaktfähigkeit (zu sich selber und nach aussen) etc. etc. ... Aber eben. Ich fürchte, dies ist für eine Reisesendung zu abgehoben und zu Allgemein. ...

Ich bin also unschlüssig: Ich finde meine Reisen etwas Besonderes und ich finde sie nichts Besonderes. Ich will, dass sie als Besonders wahrgenommen werden und gleichzeitig will ich, dass sie als nichts Besonderes akzeptiert werden. Dies alles spiegelt die zwiespältigen Empfindungen und Gedanken wieder, die ich in Bezug auf mein Leben in dieser Gesellschaft habe:  Als blinder Mensch bin ich tatsächlich etwas ziemlich exotisches und gleichzeitig bin ich doch auch etwas stink normales ... - Also, was tun?

Was tun? Ich weiss es nicht. - Vielleicht haben Sie eine Idee? Vielleicht sehen Sie, wie man aus meinen Erlebnissen und dem philosophischen Drum und Dran, das ich eben anzudeuten versuchte, etwas ansprechendes zusammenbrauen kann. Vielleicht sehen Sie auch ein anderes Sendegefäss, in das ein solches Geköch passen würde ... Vielleicht sollten wir auch einmal miteinander telefonieren, um die Sache ein wenig zu entwirren.

Ich schicke diesen einigermassen unentschlossenen Brief zur Kenntnisname auch an Frau T.. Vielleicht wird aus der Sache ja trotz meiner Zögerlichkeit noch etwas -, vielleicht auch etwas ganz Anderes, als wir jetzt denken! - Mit herzlichen Grüssen, Martin Näf