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An Walter X., 14. Mai 1998, Basel

Mein Meister! Nachdem Du Dich eine Weile lang nicht mehr gemeldet hast, dachte ich mir, Du willst nicht mehr. Kein Interesse, und ich habe gemerkt, dass ich darüber eigentlich nicht unglücklich bin. Und heute, als Dein  Mail   dann doch bei mir eintraf, da war mein erster Impuls: Einfach löschen und vergessen. Dieses ganze enge SM-Zeug ist nicht meine Sache; ich habe mich geirrt!!

Mit Dir oder damit, dass Du etwas "falsch" gemacht hättest oder ich etwas "gegen Dich " habe, hat das nichts zu tun; ich kenne  Dich ja kaum. Aber bei dieser Art der Begegnung lassen wir (so kommt es mir jedenfalls vor) so viel aus: Unsere "Seele", unsere nachdenklichen und empfindsamen, hoffnungsvollen und resignierten, freudigen und traurigen Anteile, Gefühle, Gedanken. So viel Wollen und Hoffen und Denken und Fühlen ... alles fällt unter den Tisch, wird auf die Seite geschoben, ist nicht da, nur dieses SM-Schema mit Peitsche und Unterwerfung und "o Meister"-Getue, dabei sind wir / bin ich doch so viel mehr! -  Ich bin auch nicht so schmerzgeil, dass ich nur deshalb solche SM-Abenteuer möchte. Meine konkrete Erfahrung ist zwar nicht gross, aber ich weiss doch, dass ich mehr will als das, dass ich neben Gequält- und Gedemütigt werden und anderen, vielleicht wirklich geilen Spielen auch "Liebe", Gespräche, Zärtlichkeit, seelische Nähe,  Gemeinsamkeit im Denken und Fühlen, einfach ein Mehr an Beziehung und  Austausch will.

Das ritualisierte Befriedigen meiner Sehnsüchte über irgendwelche Sexspiele lässt mich letztlich immer leer zurück.  Ich kann es tun - und ich habe den Kontakt mit Dir ja auch deshalb aufgenommen, weil ich gemeint habe, ich wolle es! -, ich kann es tun, tue es auch ab und zu, aber eigentlich will ich es nicht. Dennoch, es hat mich gefreut, dass Du auf mein (Unterwerfungs)-Angebot reagiert hast, und ja - es schien / scheint mir nicht fär, jetzt einfach nicht mehr zu reagieren. Nur eben, Walter, meine Reaktion in Bezug auf SM ist im Augenblick doch eher negativ oder lustlos.

Ich würde Dich sehr gerne mal so treffen, mit Dir reden, vielleicht auch mit Dir auf dem oder im Bett liegen und schmusen, Dich einfach kennenlernen. Ja, das würde ich gern und vielleicht tauchen da auch plötzlich die Peitsche oder die Ketten auf, vielleicht haben wir da plötzlich Lust auf geilen Sex ...  - vielleicht, warum nicht - aber mein aller erstes Interesse sind diese Dinge nicht. Mein aller erstes Interesse wärest Du, Dein "Inneres", Deine Gedanken zum Leben, Dein Körper, Deine glatte Haut oder Deine Runzeln, Dein Schwanz, ja der  auch und Deine Hobbies und Deine Hoffnungen und Wünsche in diesem Leben, Deine Träume oder Deine einstigen, inzwischen vielleicht verlorengegangenen Träume.

Was uns, Dich und mich angeht, so würde ich Dich wirklich einfach gerne einmal kennenlernen, würde gerne eine oder ein paar  möglichst gemütliche, gute Stunden mit Dir verbringen -, Vielleicht an diesem Sonntag oder einem anderen Tag, an dem wir reichlich Zeit haben. Es gibt bei mir einen schönen Balkon, eine gemütliche Küche und ein Bett mit offener Tür zum Balkon, zu frischer Luft und Vogelgezwitscher; es gibt auch Kaffee oder Tee, Musikinstrumente und natürlich mich  ... Ja, ein solches "unverbindliches" sich Beschnuppern und bekucken, Das würde mir gefallen. Ich zögere ein wenig, Dir diesen Brief zu senden, denn ... ja, Mensch, ich erzähl Dir da so viel von mir und habe doch keine Ahnung wer Du bist und  wie  all   das bei Dir ankommt. Und dann habe ich vielleicht doch wiedermal so einen Sex- und Maso-Schub und - naja, ob Du dann noch an mir, einem so unentschlossenen Sklavenkandidaten interessiert bist .. ich bezweifle es ... Ich habe also auch deshalb etwas gezögert, aber jetzt geht die Post dann gleich ab! - Martin