Auf dem Weg nach Marrakech
Vom 27. November bis zum 3. Dezember fahre ich weiter über Fes und Merzouga bei Rissani nach Marrakech. Den grössten Teil der Reise mache ich mit Onur, einem klugen, humorvollen und interessierten Studenten aus der Türkei, der sich zu seinem 22. Geburtstag 6 Tage Marokko geschenkt hat. Wieder ist die Zeit voller Begegnungen und Gespräche: Kivenbela,ein marrokanischer Sozialarbeiter und unser Gastgeber in Fes, der uns darüber aufklärt, dass er uns eigentlich gar nicht bei sich beherbergen darf. Dann Kersh, der junge Berber, der mir erzählt, wie er, der nur einen Tag in seinem Leben in die Schule ging, lesen und schreiben gelernt hat, und last but not least Onnur selbst, der mir viel über seine Erlebnisse an seiner Uni in Ankara, seine Erfahrungen als Erasmus-Student in Rom und den Islam in der Türkei erzählt hat. Auch das "touristische" kommt diesmal nicht zu kurz!
Fes, die Ausländer und die Disziplinierung der Eingeborenen, mittelalterliches Handwerk und ein Irrenhaus
Fes war gut. Kivenbela, der von Abdelkader vermittelte Couchsufer, stand schon im bus hinter mir, als ich noch meinen rucksack einpackte. Er ist ein freundlicher Mensch, etwas be- und zerdrückt, eine Art lebendig begrabener Philosoph, aber ein Philosoph nichts desto trotz - stumm, und doch sehr ausdrucksstark. In seinem 28jährigen Leben hat er im Rahmen einer marokkanischen Entwicklungsorganisation einige Jahre als Organisator in medizinischen Hilfsprojekten mit Nomaden im Süden des Landes gearbeitet. Im Augenblick unterrichtet er im Dienst derselben Organisation in einer eine oder zwei Stunden ausserhalb von Fes gelegenen Schule.
Während wir auf Onur, einen Couchsurfer aus der Türkei, warten, erzählt Kivenbela mir ein wenig von der Arbeit, seinem Leben und seiner Philosophie. In seinem Couchsurfing-profil hat er "Mensch" als Beruf angegeben. Neben seiner Arbeit an der Schule, einer Landschule für die umgebenden Dörfer mit offenbar sehr armer Klientel, studiert er. Sein Hauptinteresse ist die Psychologie. Dieses Fach sei in Marokko noch kaum bekannt und bis vor kurzem hätten sie eigentlich für alle universitärren Gebiete Professoren aus Europa anstellen müssen, doch inzwischen komme Marokko auf die Beine. Sie hätten immer mehr eigene Leute, die im ausland studiert haben und jetzt hier unterrichten. Inhaltlich wird offenbar ganz ähnliches Unterrichtet wie in Europa: Entwicklungspsychologie, Piaget, mentale krankheiten und derlei Dinge. Ich frage ihn nach seiner Motivation, im eigenen Land Entwicklungsarbeit zu leisten. Was er sagt klingt nach einer Mischung zwischen persönlicher Sinnsuche und religiöser Pflicht. Er ist ein Freigeist, doch anders als Abdelkader ist sein Luftschiff noch immer auf der Erde vertäut. Er erzählt von einem gesundheitlichen Problem, einem vor einigen Jahren festgestellten Herzfehler. Damals habe er begonnen, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Ich würde gerne mehr mit ihm sprechen, doch dann taucht Onur auf, und wir fahren zu dritt zu Kivenbela heim. Der Abend und der nächste Tag mit den beiden ist gemütlich, obgleich Kivenbela nicht ganz glücklich wirkt. Sein jüngerer Bruder, der mit ihm zusammen in einer verhältnismässig grossen Wohnung wohnt, ist mit dem ganzen Couchsurfing-Zeug scheinbar überhaupt nicht einverstanden. "Diese Leute nützen uns und unsere Gastfreundschaft doch nur aus", meint er, und ich denke, dass er damit ein Stück weit recht hat. Abdulla, so der Name des skeptischen menschen, begrüsst uns kühl und zieht sich gleich wieder in sein Zimmer zurück. Er studiert irgend etwas technisches. Auch die Essenssuche ist nicht ganz frei von Komplikationen. Kivenbela will uns beiden offenbar etwas gutes vorsetzen, doch als wir endlich zum Einkaufen auf die Strasse gehen, sind die meisten Geschäfte geschlossen. Schliesslich bekommen wir nur noch Brot, ein paar Eier und Tomaten. Als Onur und ich vorschlagen, in ein Restaurant zu gehen, ist die antwort unklar: "Ja", sagt der Mund, doch die Beine suchen weiter nach einem Geschäft, welches evtl. doch noch Fleisch anbietet. Vielleicht sind Restaurants für Kivenbela zu teuer. Vielleicht gehört es sich, seine Gäste zuhause zu bewirten ... Ich weiss es nicht. Am nächsten Tag erwähnt Kivenbela die kümmerliche Mahlzeit des Vorabends. ich sage, es sei doch gut gewesen und wir seien alle satt geworden, doch er ist nicht zufrieden: "Eier! Weisst du, Eier, das ist doch eine Schande. Das kann man seinen Gästen bei uns nicht vorsetzen. So etwas billiges". Ich versuche ihn zu beruhigen, indem ich ihm erkläre, dass Europäer so etwas überhaupt nicht empfinden würden. Für uns sei es schön gewesen, zusammenzusitzen und zu reden und dabei am Ende auch satt zu sein. Im übrigen habe es sehr gut geschmeckt. Ob meine Beruhigung den Philosophen beruhigt hat weiss ich nicht.
Am Sonntag will Kivenbela uns die berühmte Medina von Fes, laut irgend einer Webseite die grösste autofreie Innenstadt der Welt, zeigen. Doch will er wirklich? Wir stehen spät auf. Onur und ich haben sicher noch bis 3 Uhr in der früh geredet. Doch kommt der Tag auch dann nicht in Gang. Frühstücken? Rausgehen und draussen einen Kaffee trinken? Ja? Nein? Doch nicht? Zuerst in die Medina, dann zurück zu Kivenbela, das heisst zweimal ein Taxi für jeweils 10 oder 15 Dirham, ein Euro oder ein euro fünfzig ... Etwas klemmt. Schliesslich wird es klarer: Kivenbela erklärt uns, dass er als Marokkaner mit uns eigentlich nicht in die medina dürfe, da wir nicht offiziell als seine Gäste registriert seien. ich staune. Die Regierung hat diese Gesetze erlassen, weil es Zwischenfälle mit Touristen gab, die sich durch einzelne Marokkaner bedrängt fühlten. Ich denke an die Zäune, durch die man die Zoobesucher davor geschüchtzt hat, von einem Tiger angefallen zu werden. Er dürfe uns eigentlich auch nicht bei sich schlafen lassen. Wenn wir ihn besuchen wollten, hätten wir dies bei der einreise angeben müssen: Adresse, genauer Name und irgend eine Identifikationsnummer. Wir würden keine Schwierigkeiten bekommen, aber für ihn könne es schwierig werden. Ich versuche zu verstehen: Um die Touristen vor zudringlichen Marokkanern zu schützen wird das ganze Volk unter Generalverdacht gestellt? Ja so ungefähr sei es. Das klinge vielleicht hart, doch sei es eben nötig, denn jeder Zwischenfall mit einem touristen oder einer Touristin, der in die presse käme, schädige das Geschäft. Man müsse da sehr vorsichtig sein. Wie gesagt, der Freigeist ist noch an die Erde gebunden. Er protestiert nicht, sondern gibt sich gelassen und ist es vielleicht auch. Ich dagegen bin empört. Man verbietet MarokkanerInnen den näheren Kontakt mit AusländerInnen, nur weil es hie und da tatsächlich zu Diebstählen und anderen Übergriffen kommt! Man behandelt sie also alle als potentiell kriminell, als Vergewaltiger und Diebe und Menschen wie Kivenbela lassen sich dies widerspruchslos gefallen! Ich verstehe es nicht, doch so scheint es tatsächlich zu sein. Jedenfalls bestätigt Aziz in Marrakech ein paar Tage später, dass es so sei. Das Gesetz bestehe. Man könne sich darüber hinweg setzen, und wenn man gute Beziehungen zur Polizei und zur Brigade Touristique habe, so würden die auch ein Auge zudrücken, aber im Grunde sei es ihm beispielsweise auch nicht erlaubt, irgend einen ausländer bei sich zu beherbergen, und eine seiner bekannten, eine Genferin, die öfter bei ihm zu Besuch ist, ergänzt: "Ja. Aziz geht mit seinen ausländischen Freunden deshalb auch nur sehr sehr selten und ungern in die Medina". Naja, die Tiere im Zoo müssen sich auch einige Einschränkungen gefallen lassen. Dafür stimmen die Besucherzahlen und wenn nichts dazwischen kommt, reicht es neben den Gehältern für die Direktion auch noch für ausreichendes Futter. Man kann nicht alles haben! Also, ihr Marokkaner: Macht eure Bücklingge und schluckt euren Stolz hinunter. Schliesslich sind wir diejenigen, die das Geld ins Land bringen!
Allmählich kommt unsere Expedition doch in Gang. Kivenbela hat Onur instruiert, hinter uns herzugehen ohne uns zu kennen, bis er ihm ein Zeichen gibt. Vor allem an den Toren zur Medina sei die Polizei sehr wachsam. Danach entspanne sich die Lage. Wir verbringen ein paar Stunden im Gewirr der Strassen, Gassen und Gässchen des alten Fes. Kivenbela wirkt nach wie vor etwas gestresst. Zeigt uns dies und das, doch ich habe das Gefühl, dass er eigentlich keine Zeit hat. Vielleicht will er auch so schnell wie möglich wieder aus dieser heissen Zone raus.
Ein vor sechs- oder siebenhundert Jahren gegründetes, erst 1945 aufgegebenes Irrenhaus - ein stiller, von vielen einzelnen Räumen umgebener, durch zwei Tore von der Welt draussen erreichbarer Innenhof - beeindruckt mich. Heute ist der Hof ein Markt; die Zimmer oder Zellen der Irren sind zu Läden geworden. Ich denke an die Menschen, die hier über Jahrhunderte gelebt haben. Irre und Verrückte, Heilige und Besessene. Ich stelle mir ihre Geschichten und das Leben vor, welches sie hier gelebt haben.
Beeindruckend sind auch die vielen Handwerker, die hinter ihren Ständen sitzen und arbeiten, während sie auf neue Kundschaft warten. Hier wird noch selbstverständlich von Hand produziert, was wir längst nur noch als uniforme undd anonyme Fabrikware kennen. Von Kleidern und Möbeln bis hin zu Töpfen und Pfannen wird alles vor Ort hergestellt und dies nicht aus nostalgischen Gründen oder als besondere touristische Attraktion. Ausserhalb der Medina gäbe es natürlich auch moderne Geschäfte mit fabrikmässig hergestellten Möbeln und Pfannen - viele Dinge aus China. Doch viele menschen kämen noch immer lieber hierher, wenn sie eine Pfanne oder sonst etwas suchen. Allerdings würde das nicht mehr lange so bleiben. Diese Handwerker verkörperten eine zu Ende gehende zeit.
Eine Weile bleiben wir auf dem Markt der Pfannenmacher stehen. Wie man einen Tisch aus Holz herstellt kann ich mir vorstellen, aber eine Pfanne? Einen Blecheimer oder Topf? Ich bitte einen Mann, der ein Blech zu bearbeiten scheint, mir zu zeigen, was er tut. Er erklärt etwas in einem mir unverständlichen arabisch französischen Mischmasch. ich zeige auf meine Augen und meine Hände. Ich will anfassen, um zu begreifen. "Puis-je toucher". Er scheint nichts dagegen zu haben, doch scheinen wedr er noch die anderen Umstehenden zu verstehen, was ich eigentlich will. Jemand zeigt mir einen Topf. Eigentlich wollte ich aber das Rohmaterial sehen. ich frage danach und greife suchend irgendwohin in der Hoffnung, zu finden was ich sucche. Man zeigt mir einen andern Topf. ich suche nach Nähten, um zu verstehen, wie diese grossen Töpfe gemacht werden. "Für Gusgus, wissen sie. Traditionell in Marokko". Ich vermute mehr als ich es weiss, dass ein Topf aus einem langen und einem Runden Blech hergestellt wird. Das lange Blech wird rund gehämmert und die beiden Enden des so entstehenden Rings werden miteinander und dieser danach mit dem Boden verlötet oder verschweisst. Ich weiss zu wenig von Metallverarbeitung um mir ein sicheres Bild von allem machen zu können. Wie forrmbar sind die benutzten Bleche? Wie entstehen die Bauchungen und die nach aussen gewölbten Kanten und Abschlüsse? Was für Metall wird benützt? Gilt Kupfer eigentlich auch aus Metall und ist dies hierr vielleicht alles Kupfergerät? Wenn ich doch nur etwas besser französisch könnte, so könnte ich fragen, aber so ...
Während ich mich an das Klopfen und Hämmern auf jenem Markt erinnere, denke ich an Nachnamen wie Kupferschmid, Blechschmid, Pfännler oder Kessler und an Berufsbezeichnungen wie Kesselschmid oder Kesselflicker. All diese Namen und Worte weisen in eine Zeit zurück, in der es in den Städten des alten Europa vermutlich ganz ähnlich zuging wie noch heute in der Medina von Fes. Ich habe den Prozess im einzelnen nicht begriffen, doch ich habe wieder einmal oder vielleicht zum ersten mal erlebt, dass auch Pfannen und Töpfe hergestellt werden, dass sie nicht schon seit altters her in ihrer heutigen Form auf den Regalen unserer Warenhäuser standen.
Onur und ich schlafen in einem Riad mitten in der Medina. Da Kivenbela am Montag früh wieder in seine Schule fährt, hat er uns dort untergebracht. Gegen elf verabschieden wir uns von ihm und gegen sechs Uhr früh schlafen wir beide.
Onur ist ein interessanter, feinfühliger und humorvoller Mensch. Wir sprechen die ganze Nacht über Gott und die welt. Er will Reisegeschichten von mir hören und erzählt mir seinerseits vom rätselhaften Verschwindn seines Tagebuches und davon, dasss er seither nicht mehr schreiben könne. Wir haben schon am Abend zuvor beschlossen, bis auf weiteres, vielleicht die ganzen sechs Tage, die er in Marokko sein wird, zusammenzubleiben.
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Am Montag verbringen wir noch einmall einige Stunden in der Medina. Sie scheint diesmal viel entspannter und heiterer. wir haben einige sehr angenehme und spassige Begegnungen, verhandln über den Kauf eines Schafes und landen kurz vor Torschluss noch auf dem Dach einer der grossen Gerbereien der Altstadt.
Der Abstecher in die Wüste und eine frohe Botschaft für alle Menschenfreunde!
Um halb neun Uhr fährt der Bus nach Rissani, wo Onur und ich leicht verschlafen gegen fünf Uhr morgens ankommmen und von einem vorher kontaktierten Führer sofort in Beschlag genommen und zusammen mit zwei anderen Touristen in einem Minibus nach Merzouga verfrachtet werden. Dort holen wir zuerst ein paar Stunden Schlaf nach und brechen gegen Abend dann in die Wüste auf. Nach langem Gerede ist es uns geglückt, den etwas unangenehmen Chef unserer Herberge davon zu überzeugen, dass wir wirklich zu Fuss und nicht per Kamel in die Wüste wollen. Während der etwa anderthalb Stunden, die wir unterwegs sind, denke ich oft an Schnee. Die Oberfläche des Sandes ist so unterschiedlich wie ich es von dort her kenne. Manchmal so weich, dass die Füsse kaum halt finden; manchmal so hart, dass ich darauf gehen kann wie auf einer Teerstrasse. Auch der Sand, der uns zwischendurch kräftig ins Gesicht geblasen wird, erinnert an Schneetreiben. Es war schon den ganzen Tag ziemlich windig gewesen und zwei drei heftige Böhen fühlten sich schon beinahe wie Sandsturm an.
Zum Glückk legte sich der Wind nach Sonnenuntergang, sodass wir einen friedlichen Abend im zelt verbrachten. Zwei 20 bis 25jährige Berbermänner haben uns bekocht und unterhalten.
Am folgenden Abend habe ich Johanna davon geschrieben. Hier meine leicht redigierte Erzählung:
"Mittwoch, 1. Dezember 2010, Hoi Johanna! (...)Gestern haben Onur und ich in einem Zelt in der Sahara übernachtet. Eine etwas fantasielose touristische Aktion, ich gebe es zu, aber die zwei jungen Männer, die mit uns im Zelt waren, waren trotzdem interessant. Beides Berber, die sich als Nomaaden verstehen und diesen Lebensstil weiter führen wollen, so wie's heutzutage eben geht: Kamele und Schafe züchten und zugleich mit Touris arbeiten. Ich habe die Gelegenheit ergriffen und Kersh, den älteren der beiden, nach seinen Schulerfahrungen gefragt. Schulerfahrungen? Er überlegte. Doch, er sei einmal in die Schule gegangen, einen Tag lang. Die Lehrerin sei jedoch so unfreundlich und streng gewesen, dass er seinen Eltern danach gesagt hat, er wolle da nicht mehr hin. Er sei da wohl neun oder zehn Jahre alt gewesen. Sie sagten, er solle trotzdem weiterhin hingehen. Er sagte nein. Daraufhin meinte sein Vater, "Gut: es ist dein Leben. Geh wieder hinaus und hüte die Kamele und Schafe." Dann, nach einer Pause fügte Kersh hinzu: "Natürlich kann ich trotzdem lesen und schreiben und auch rechnen." Als ich ihn fragte, wie er dies gelernt habe, sagte er, von Freunden. "Naja, die konnten das eben, und ich wollte wissen, wie es geht. Da hab ich sie gefragt und sie haben es mir gezeigt". Ob er heute hie und da etwas lese, eine Zeitung oder ein Buch? Doch, ja. Vor allem Dinge, die mit der Geschichte der Berber zu tun haben. Und ja, Gelehrte gäbe es bei ihnen auch, die würden einfach anfangen, Bücher zu lesen und weil sie gern lesen und nachdenken werden sie allmählicch richtige Gelehrte, die man bei ihnen dann auch als solche anerkennt."
Natürlich habe ich Kersh's Lese- und Schreibfähigkeiten nicht getestet und ich habe auch die Beschreibung seiner Schulkarriere oder das, was er über die Gelehrten der Berber gesagt hat, nicht überprüft, doch du kannst dir vorstellen, dass mir das, was er erzählt hat und die Art wie er erzählte, gefallen haben. Am liebsten würde ich ihn einmal mit an eine Uni in der Schweizz nehmen, denn dass man lesen lernen kann, weil es einem fasziniert und man es können will, so wie Scateboard fahren oder Jonglieren ist wirklich eine frohe Botschaft, verblüffend in ihrer Einfachheit, aber im Grunde doch einleuchtend.
Vor drei Jahren hat Kersh seinen Eltern gesagt, er wolle jetzt in eine Wüstenstation, wo Touristen kommen, damit er die fremden Sprachen lernen kann. Und sie hätten gesagt, gut, gehe. - Jetzt spricht er so gut englisch, dass wir uns über all das und mehr unterhalten konnten. "Weisst du, ich kenne einige, die in der Schule lange englisch und andere Sprachen gelernt haben, und sie können es weniger gut als ich." wie zur Bestätigung dieser Feststellung traf ich im Gemeinschaftstaxi, welches uns heute gegen Mittag wieder nach Rissani gebracht hat, einen Japaner, der drei Wochen auf Ferienreise durch Spanien und Marokko ist. Er studiert in Japan und ist nächstes Jahr fertig. Dann wird er Lehrer an einer Mittelschule. Sein englisch war erbärmlich; eine Unterhaltung mit ihm kaum mögllich. Nein, englische Bücher lesen könne er eigentlich nicht. Ja, er habe englisch in der Schule gelernt und an der Uni, alles in allem wohl 8 Jahre .., aber es fehle eben an Übung." Soweit mein Mail an Johanna, und soweit mein Bericht über meinen ersten Kontakt mit einer richtigen Wüste!
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Zerbrechliches Aid-Ben-Haddou, kein Entkommen aus Tabora und am Ende schliesslich doch noch Marrakech
Nach unserer Nacht in der Wüste versuchen Onur und ich zuerst von Rissani per autostop weiter zu kommen. Wir lassen uns am Ortsausgang am Fuss einer dicken Palme niedr. Viel ermuntertes "ça va" und "bonjour" von vorbeifahrenden Radfahrern. Viel freundliches Winken aus vorüberfahrenden Autos. Hie und da jemand der anhält, der aber in eine andere Richtung fährt. Schliesslich nimmt uns ein Bus für wenig Geld bis zur nächsten Stadt, wo wir Anschluss nach Ouarzazad haben. Dort kommen wir gegen Acht Uhr abends an. Wir wollen zuerst noch weiter bis Ait-Ben-Haddou, suchen dann aber doch ein Hotel und brechen erst am nächsten Vormittag nach dorthin auf.
Ait-Ben-Haddou ist eine alte Burganlage. Ich weiss nichts von ihrer Geschichte, ihrer Bedeutung oder von der Landschaft, in der sie liegt. Onur hat sie auf die Liste der Orte gesetzt, die er gerne sehen wollte. Für mich befindet sie sich in einem unwirklichen Niemmandsland zwischen Hügeln und Bergen, nahe bei einem von der Welt vergessenen Dorf. Ein Taxi bringt uns von Taborat hin. Taborath? Nein, vielleicht hiess der Ort anders, doch wir sind dort umgestiegen! Am Ende des Dorfes, vor welchem unser Taxi uns abgesetzt hat, wird es schnell sehr ländlich und wunderbar still. Wir überqueren ein breites Flussbett, indem sich ein zahmes Bächlein schlängelt und beginnen drüben mit dem Aufstieg auf den Burghügel. Es gibbt ein paar breite Treppen mit grossen, ausgetretenen Stufen, dann geht's durch irgendwelche kleinern Tore hinein in einen Hof. Dort sitzt ein Wächter, dem wir 10 Dinhar bezahlen. Als wir nach einem prospekt oder anderem Infomaterial zu diesem doch recht bekannten Ort fragen, geht er in sein Büro und kommt mit einem französischen Photoband wieder, in dem wir die Eckdaten zu dieser seltsamen Burg, nach denen wir suchen, auf die Schnelle nicht finden. Der Wächter hatte uns auf die Frage, wie alt diese Anlage sei, nur sagen können, "oui, vieu" und auf die Frage, ob hier einmal eine grössere Stadt gewesen sei meinte er "Oui pourquoi pas, In Sha'Allah".
Die Mauern und der ganze Burgaufbau wirken irgendwie schäbig. Als ob die Burg aus Sand und nicht aus Steinen gebaut wordn wäre. Alles sehr bröckelig und keine dicken Türme oder breiten Tore wie man sie in europäischen Burgen findet.
Nach dem ersten Innenhof kommen weitere Gänge. Auf einem Mauersims liegen ein paar Armbänder und daneben auf einem wackeligen Stuhl einige Versteinerungen und ein kleiner Teetopf. ob dies historische Gegenstände sind? Hier, so unbewacht? Weiter hinten in dem Gang wieder ein Sims mit etwas Schmuck. Dann eine Art Miniaturbalkon, von dem aus man über die Umgebung und runter zu dem breiten Flussbett sieht. Dann öffnet sich der Gang und plötzlich stehen wir in einer Gasse mit lauter kleinen Läden. Vor jedem sitzt ein Mann und wartet auf Kundschaft. Wir gehen an fünf oder sechs dieser Geschäfte vorüber und werden von jedem der fünf oder sechs Ladenbesitzer freundlich gebeten, uns doch seine Sachen anzusehen. "Berberkunst - kommen Sie, sehen Sie, nur ansehen!"Bei einem Laden machen wir halt und kucken uns an, was es dort zu kaufen gibt. Als wir wieder rauskommen - gekauft haben wir nichts - schauen uns alle anderen Ladenbesitzer an. Ausser uns scheint es heute keine Käufer zu geben! Wir biegen um die nächste Ecke und mit einem Mal wirkt die Burg eher wie ein Dorf. Ein paar Gassen und Treppen führen weiter hinauf und allmählich begreifen wir, dass hier Menschen leben. Die Burg ist eine besiedelte Ruine, eine Mischung von Geschichte und Gegenwart. Die Häuser, die sich innerhalb der Burg befinden, werden von 10 oder 20 Berberfamilien bewohnt. Sie kamen alle in den letzten Jahren hierher, weil sie in ihren Heimatgegenden zu wenig verdienten. Hier leben sie jetzt von den spärlichen Touristen, die diese Anlage besuchen, und von der Hoffnung, dass irgendwann wieder ein Filmteam aus Indien oder den USA zu ihnen kommt, um einen Film in dieser Kulisse zu drehen. Der Mann, der uns dies bei einem Glas Tee auf seiner Terasse erklärt, zeigt hinunter in die braungrüne Landschaft und sagt, dort hätten sie für den Film X ein Amphitheater für 5,000 Menschen aufgebaut, und das ganze Dorf habe mehrere Wochen lang Arbeit gehabt: Als Hilfsarbeiter, als Statisten oder als handwerker bei der Herstellung der Kulissen. Onur hat den Film gesehen, und er kennt auch die anderen drei oder vier, die hier in den letzten Jahren gedreht wurden. Unser Gastgeber seufzt. Ja, die Filme. Das sei gute Arbeit gewesen, gute Arbeit und gut bezahlt! Aber seit einiger Zeit gäbe es keine Filmprojekte mehr, und von den Touristen allein könne man nicht leben.
Wir steigen noch ganz hinauf auf den Hügel, um den herum die ganze Anlage gebaut wurde. Ich weiss noch immer nicht, ob es sich hier eher um eine Burg oder ein Dorf, um ein Museum oder eine Art freilandarmenhaus handelt. Zuoberst ist der Hügel unbebaut. In der Ferne sieht man Berge. Wir nehmen an, es sei der Atlas, der Mittlere oder der Hohe? Keine Ahnung. Onur und ich sind nicht besonders gute Touristen. Das merken wir auch, als wir viel zu spät in Richtung Ausgang und Taxiparkplatz gehen.
Ein Taxi kriegen wir zwar noch, aber in Taborat oder wie auch immer der Ort zwischen nirgends und dort heisst erfahren wir, dass die Busse nach Marrakech hier nur durchfahren. Man könne versuchen, einen Bus anzuhalten, doch sie hielten nicht immer. Was tun? Zurück nach Ouarzazad, wo wir wahrscheinlich noch Plätze auf einem Nachtbus nach Marrakech bekommen würden oder unser Glück hier versuchen. Wir entscheiden uns für das zweite, essen zuerst etwas und stellen uns gegen acht Uhr an die Strasse. Es fahren einige Busse vorüber, doch keiner hält an. Auf der andern Strassenseite liegt das Hotel, in dem wir gegessen haben. Daneben ist ein kleiner Laden. Er hat um zehn immer noch geöffnet, und im Hotel plärt der Fernseher. Einmal kommt ein Mann auf einem kleinen Motorrad, wechselt ein paar Worte mit dem Ladenbesitzer und fährt wieder weg. Dann kommt der Hotellier und bringt uns zwei Stühle ... Um halb zwölf Uhr nachts geben wir auf, tragen die Stühle zurück ins Hotel und nehmen uns ein Zimmer. Onur bleibt nicht mehr viel Zeit für Marrakech, denn obwohl wir bereits um sieben im Grand Taxi nach Ouarzazad sitzen, kommen wir erst um zwei Uhr nachmittags in Marrakech an. Das reicht gerade noch für drei Stunden Stadtbummel inklusive Geldwechseln und Hotelsuche für mich. Onur kauft in der Medina noch eine der berühmten marokkanischen Magic Boxes, und wir gehen über den grossen Platz, der das Herz Marrakechs ist. Onur erzählt mir ein wenig von dem bunten Treiben auf dem Platz, auf dem es von Schlangenbeschwörern und Affendressören, Schmuckverkäufern, Tatoomacherinnen, kleinen Stehgreiftheatertrupps und Musikgruppen, Essens- und Souvenierständen wimmelt. Dann muss er zum Flughafen, und ich verzieh mich in mein Hotel. Wir sind früh aufgestanden, und ich bin müde. Ich geniesse die Stille, lese und schreibe ein wenig. Zugleich vermisse ich Onur und sein ständiges Fragen und erzählen.
©Martin Näf 2010