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An Daniel C., 15. März 2003

Da sitzt der Mensch vor dem PC und denkt und denkt und will und möchte, traut sich nicht, kratzt sich am Kopf, sagt "hmmm" und lacht, schreibt ohne grosse Überzeugung "Hallo Daniel", löscht die Worte und versucht's mit "Hallo Dani" ... Alles scheint ihm schief. Er sitzt und weiss nicht weiter.

Er hat gelesen, was der Dani schrieb - viel Worte, viele Fragen! Was ist das für ein Mensch. Ich kenne mich (so so la la zumindest), doch diesen Daniel? Er sitzt vor dem PC und hat Gefühle, dabei: Man kennt sich ja noch kaum! Er träumt. Da plötzlich geht die Tür auf und Vater Überich  tritt ein: "Hör auf zu träumen. Reiss Dich zusammen." Er sitzt zerknirscht, denn Vater Überich hat recht: Wenn er ein Kind noch wäre, dann ... Aber so. Wer Sehnsucht zeigt zur falschen Stunde, der ist out! Als Kind - nun ja, das ginge. Aber ... Er sitzt und denkt und alles scheint ihm schief!

Hoi Dani!

Es ist wirklich so. Ich sitze und in mir gehen Gedanken und Gefühle kreuz und quer. Ich merke, wie stark mein Wunsch nach Nähe und Vertrautheit ist, und wie wenig Lust ich auf Alleinsein habe. Wie gerne ich mein gescheites, autonomes Ich abgeben und mich bei irgendwem verbergen möchte. Es wär dann einfach schön und gut und warm und sehr vertraut vertraulich ... So will ich das, nur eben: Der Verstand steht neben mir und lächelt. Als Verstand kann er mich schon verstehen - verstehen ist ja schliesslich sein Wesen. Er warnt aber auch ein wenig, und ich weiss, er hat recht, aber es interessiert mich nicht. Ich bin wirklich wie ein lang allein gelass'nes Kind, bin innerlich ganz ausgehungert. Obwohl: Ich habe gute, NAHE Freunde, doch ... DEN Freund und Lover hab ich nicht. Zärtlichkeit und Nähe fehlen, und das Kind, das sich das Weinen und das Wollen nicht erlaubt, wird bockig! –

Der Verstand steht neben mir und lächelt. Er weiss das alles, kennt meine Klagen, kennt meine Bockigkeit und meine Träume, doch - er lächelt wieder: "Martin, sorry, aber was kann ich da tun. Ich würd es Dir ja gönnen, doch diese Dinge scheinen nicht in uns'rer Hand. Es wird oder wird nicht. Da kannst Du nichts dafür und nichts dagegen tun. Im übrigen: Jetzt spinnst Du vor Dich hin vor Sehnsucht, doch wer weiss: Wenn Du den Menschen kennenlernst, der Deine Seele jetzt so unruhig macht, vergehen die Gefühle vielleicht im nu. Drum Mensch beruhige Dich. Hör auf zu klönen und wart ab. Schreib ein wenig, was Du so tust und denkst und warte ab." "Oje, Verstand, Du hast ja Recht. Ich weiss es, aber ... Ich will nicht wissen!"

Lieber Dani, So geht's also zu im Hause Näf (was mein Nachname ist). Die paar Mails mit Dir fangen an Gefühle und Fantasien in Gang zu setzen,die Unvernunft nimmt überhand. Das Schiff tanzt auf den Wellen. Der Steuermann, der schlafend in der Koje lag, erwacht. Er fühlt das Auf und Ab der See und geht an Deck. Er liebt den Sturm und die Bewegung, doch sein Schiff, das liebt er auch, drum greift er jetzt zum Steuer, bereit zum Spiel und Kampf.

Da sitze ich und möchte gerne vieles schreiben, doch bei dem Wellengang ist das nicht leicht. Ich würd Dir beispielsweise noch gerne was zu Büchern und zu meinem Lesen schreiben oder zur Musik und zur "Kirche im Dorf", doch das Auf und Ab der Wellen lenkt mich ab. Für Plaudereien ist die Zeit zu turulent. Schon fliegen meine Persönlichkeitsbestandteile durch die Luft: Hier der akademisch angehauchte Pädagoge, dort der Systemkritiker, dort der brave Bürgersohn und dort der sehnsuchtgefährdete, der keine Lust hat auf erwachsen sein. Dort der, der hohe Ziele hat und dort der, der zu schwach ist, diesen Zielen treu zu sein. Dort der, der an sich glaubt und Freude hat an sich und dort der, der sich verachtet und sich nicht mehr will. Das bin ich, wenn ich auf Menschen wie Dich stosse!

Du schriebst von Deiner existenziellen Situation, der ewigen Sehnsucht nach der grossen Liebe, die Dich seit Deinem 13. oder 14. Jahr erfüllt und umtreibt, die Dich zum träumen bringt, aber Dich auch hemmt und lähmt. Als ich das las dachte ich daran, dass ich seit einiger Zeit immer wieder das Gefühl habe, fast trotzig auf der endlichen Erfüllung dieser Sehnsucht zu bestehen. Ich habe vielleicht oft nicht wirklich wahrnehmen wollen, wie sehr mich diese Sehnsucht beherrscht hat; ich wurde zu Vernünftigkeit und philosophischer Gelassenheit erzogen - Gefühle ja, aber in Massen! -, und ich habe dieses Programm seit der Entlassung aus der Kindheit im Grossen und Ganzen weitergeführt. Vielleicht war das Thema "Liebe" und "Beziehung", "Freundschaft" und "Sex" in meinem Leben deshalb (zumindest offiziell) immer so eine Art Nebenthema: Zugedeckt von einem Stück Vernunft, welches mich auch vor der Sehnsucht und dem Schmerz des Alleinseins beschützt hat. Jetzt habe ich Ideen, Pläne, Projekte, Ziele - Dinge, die mir eigentlich Gefallen, die ich "wichtig" finde und die ich im Prinzip gerne tun würde - aber (und darauf wollte ich hinaus), es ist wie wenn ein Teil in mir sich verweigert. Wie wenn ein Teil von mir nicht mehr bereit ist, irgend etwas "positives" oder "wichtiges" zu tun so lange der ersehnte Andere nicht da ist! Die Lebenspläne wären gut, die Möglichkeiten wären da - aber das Personal ist sauer. Martin hat die Nase voll. 40 Jahre sind genug! Er will nicht mehr der gute, starke, vernünftige sein. Er streikt ... nicht offen - noch nicht. Aber im Verborgnen. Dienst nach Vorschrift könnte man sagen. Passiver Widerstand. "Ich lebe erst wieder, wenn ich die mir zustehende, so sehr ersehnte Liebe gefunden habe. Ich habe ein Recht darauf", so sein Protest. Etwas doof und lächerlich finde ich, aber es ist doch in mir drin, dieses nicht mehr wollen und dieses kindische Bestehen auf meinem "Recht" auf Glück. Ich weiss, dass ich darauf kein "Recht" habe, aber dieses kluge Wissen ist mir egal. Ich will endlich einen tollen, lebendigen Lover und Freund, ich will tiefe Verbundenheit, tiefe Liebe ... Ich hatte Stücke davon hie und da, doch ich finde, dass mir mehr davon zusteht!!!

Ich bin bockig. Eine Art Protest vor dem lieben Gott um den ich mich im übrigen wenig kümmere. Es ist ein Protest der zur Lebensverweigerung werden kann, eine Protest, der sich, wenn ich ihn nicht ernst nehme, auf gefährliche  Weise gegen mich richten kann, ein Protest, der mich anfällig macht für destruktive Süchte - riskantes, sinnloses Sexualleben, zu viel Alkohol, eine zunehmende Schizofrenie zwischen Martin dem Tag und dem Nachtmenschen, eine Sexualität, der das Lachen und die Liebe fehlen ... Süchte und Verhaltensweisen, die ich WILL, obwohl ich sie nicht will, ähnlich wie Du es im Zusammenhang mit Sex, SM und Internet geschrieben hast. Ich weiss nicht, ob Du verstehst. Vielleicht täusche ich mich, doch schien mir das, was Du über Deine Dich seit Deiner Pubertät begleitende Sehnsucht nach der grossen Liebe schriebst, so ähnlich. Es ist ein kindisches Beharren, eine kindische Hoffnung, die Dich auch häufig lähmt, und doch ist sie da und ist an vernünftiger Belehrung nicht interessiert!

Als Denker stelle ich mir das Reden mit Dir sehr spannend vor. Vielleicht erschreckst Du mich manchmal ein wenig, denn laute Töne und kompromisslose Stellungnahmen habe ich zu fürchten gelernt. Schon als Junge war ich der Vermittler, wenn meine zwei Brüder (der eine jünger, der andere älter) wieder einmal Krach und meine Eltern keinen Nerv mehr hatten. "Geh Du als Friedensfürst" hiess es dann zuweilen, sodass ich auch heute noch, sobald es laut wird, als erstes sofort nach dem Feuerlöscher schaue, statt mich zuerst einmal der steigenden Spannung zu stellen und ein wenig durchzuatmen. An der Uni wird Eindeutigkeit auch nicht gerade gefördert. Dort ist humanistische Kompromissbereitschaft gefragt: Karl der grosse war doch immerhin Karl der Grosse! Und Konstantin war Konstantin. So wie die heutigen Herren, können auch die damaligen nicht ganz schlecht gewesen sein ... Das setzt sich fest im Seeleninnern und muss noch tüchtig rausgeshwitzt und rausgewaschen werden. Da kriegen wir vielleicht einmal Probleme miteinander ...

So. Jetzt mache ich Schluss, denn jede Minute kann Renzo kommen und ... Ding Dong, da klingelt's. Deshalb tschüss und bis bald hoffentlich! Einen schönen Tag und gutes Aufwachen!

Martin