www.martinnaef.ch / 1.2: Briefe > An Daniel C., 16. März 2003
.

An Daniel C., 16. März 2003

Hoi Dänu, Ich habe eben Dein Mail gelesen. Ich freue mich, dass Du schon wieder geschrieben hast. Dass ich Dich mit meinem Stürmen und Drängen etwas erschreckt habe verstehe ich. Es ist auch nicht als ernste Aussage zu Dir und mir zu werten, sondern im Augenblick vor allem als Aussage zu mir, zu meiner schnell aktivierten Bedürftigkeit und Liebeslust! Inzwischen steht der Steuermann aber wieder hinterm Steuer und bemüht sich, dass der Seelen- und Gefühlekahn nicht allzu wild hin und her schlingert.

Ich freue mich einfach immer, wenn ich mich durch einen anderen schwulen Mann überhaupt berührt oder angesprochen fühle. Dass Du schwul bist erhöht den Reiz beträchtlich, denn da kommt zur Freude über den wachen Denker noch die Hoffnung auf ... aber eben. Da lacht der Steuermann jetzt und sagt, "come on, Martino. Take it easy! Vielleicht ist alles eine grosse Täuschung - das hat es  ja auch schon gegeben! Drum coll down und wart mal ab!"

Dass man sich nicht in Dich verliebt klingt interessant. Theoretisch wäre es aber doch möglich, oder? Dass Du anspruchsvoll (ich sehe gerade, du hast "wählerisch" geschrieben) bist kann ich mir gut vorstellen. Ich fürchte, ich bin es auch. Ich sage "ich fürchte", weil ich dadurch immer wieder aus Beziehungen ausschere, in denen ein weniger anspruchsvoller bzw. wählerischer Mensch sich villeicht ganz gemütlich einrichten würde. Das gilt für Arbeitsbeziehungen und Liebe genauso. Alles in allem finde ich es jedoch ganz okay, dass ich anspruchsvoll bin. Zumindest da, wo es um zentrale Werte und Haltungen geht, will ich meine Ansprüche nicht aufgeben, um ein scheinbar einfacheres Leben zu haben und "nicht mehr alleine" zu sein. Über diese Werte zu schreiben ist ein wenig peinlich. Es entstehen dabei allzu leicht grosse und pompöse Sätze. Dabei geht es letztlich doch um Dinge, die sich im konkreten Alltag bewähren müssen. Es ist wie die Sache mit dem christlichen Glauben. Das worauf es ankommt ist das konkrete Verhalten. Wenn ich aber reden würde, dann würde ich davon sprechen, auf Gewalt nicht mit Gewalt zu reagieren, Angst als Herausforderung und nicht als Blancoscheck für Rückzug und Zuhausebleiben zu nehmen, mich eher um mein Wohlbefinden als um meine materielle Sicherheit zu kümmern etc.. Was diese und andere Grundsätze angeht finde ich mich im übrigen durchaus auf einer Linie mit Geheeb. Sonst gibt's da viele Fragezeichen und viel Skepsis. Er war ein sehr widersprüchlicher, auch sehr verklemmter und wenig selbstkritischer Mensch, konnte sehr eitel und kleinkarriert sein, war in dem was er wollte aber zugleich auf eine seltsam unbewusste und "zufällige" Art konsequent und klar. Die pädagogischen Aufsätze die er geschrieben hat gefallen mir im Prinzip gut, wobei ich bestimmte hyper romantische und hyper idealistische Passagen einfach als zeitbedingt hinnehme und versuche, mehr auf den Kern der Gedanken zu hören. Aber besonders spannend finde ich seine (nicht sehr zahlreichen) pädagogischen Aufsätze nicht; da gibt es Vieles, was vieldifferenzierter, viel provokativer und klarer sein könnte. Darüberhinaus sind seine Aufsätze im Grunde ständige Wiederholungen der vier oder fünf Grundsätze, welche die Eckpfeiler seiner Pädagogik bilden. Egal, welchen Titel ein Aufsatz trägt, er kreist immer um diese Sätze, die er mit Zitaten von Fichte, Goethe oder Schiller ausdrückt. Was die Arbeit an seiner Biographie für mich interessant gemacht hat und was die Biographie wohl auch für entsprechend veranlagte Leser interessant machen könnte, das ist die Fülle an vorhandenem Quellenmaterial, vor allem die rund 40,000 Briefe von und an Geheeb, durch die ich sehr viele lebendige Einblicke in die deutsche und die schweizerische Geschichte des 20. Jahrhunderts gewonnen habe. Wenn Du aber mit ihm hättest über Erziehung und Schule diskutieren wollen, dann wärst Du vermutlich entsetzt darüber gewesen, wie stereotyp er einfach immer wieder seine paar Grundsätze wiederholt und wie wenig er sich auf differenzierte weitergehende Diskussionen und Analysen eingelassen hätte.

Ach Dänu. In mich verliebt man sich auch fast nie. Wirklich wahr. Ich denke eigentlich, dass ich ein ganz sympathischer Mensch bin, und es fällt mir in der Regel auch nicht schwer, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Aber auf dem Markt der Liebe scheint man mich nicht zu beachten. Dort bin ich kein Erfolg.

Wieder würde ich gerne noch viel mehr schreiben, aber ich muss mal eine Pause machen. Ich glaube, ich lege mich mal in die Badewanne und danach geh ich wohl ins Bett. Ich bin total müde und schlafe beinahe über jeder Zeile ein. Ich bin zwar insgesamt auch eher ein Nachtmensch – war früher ein riesen Morgenmuffel -, aber heute bin ich's offenbar nicht.

Ich lese noch einmal, was Du geschrieben hast. "Akademisch" assoziiere ich vor allem mit lange Weile und hohlen Wortgeklapper. Ein Intellektueller zu sein ist für mich eher eine positive Zuschreiben. Es bedeutet für mich einfach ein Mensch, der nachdenkt, und dem Denken wichtig ist, jemand, der sich selbst eine Meinung bilden will und dieser im Zweifelsfall mehr traut als dem was diese oder jene Autorität sagt. – Meine Fähigkeit mich zu verachten hat nichts damit zu tun, dass ich Dir begegnet bin. Diese Neigung ist das Gegenstück zu meiner ebenso grossen Fähigkeit zu mir zu stehen und mich über mich zu freuen. Es ist das Pendeln zwischen Grössenwahn und Minderwertigkeit, von dem Du früher einmal schriebst, das Pendeln zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit. Es sind die Momente, in denen ich mir nichts zutraue, in denen ich mich unattraktiv und müde fühle, in denen ich glaube, nie mehr etwas wirklich spannendes und schönes zu erleben, in denen ich sicher bin, als "Sozialfall" zu enden – unglücklich und leer! IN diesen Momenten verachte ich mich, nörgle an mir herum, mach alles runter ... weitgehend ohne es zu merken. Wenn ich diese Töne zulasse und mal so richtig auf mir rumhacke, dann löst sich der Knoten häufig recht schnell, und ich krieg mich wieder lieb und fange an mit mir wie einem guten Freund zu reden, mich zu trösten und mir zuzuhören.

Ich wäre heute Abend übrigens auch zu einer grossen Geburstagsfête eingeladen worden: Die Freundin eines Freundes wird 30 und hat ein riesen Fest veranstaltet. Ich habe jedoch abgesagt, was ich ganz selten tue. Meistens denke ich, ich "müsse" hingehen, wenn ich schon eingeladen werde. Aber hundert Menschen mit Disko und Food, das ist mir zu viel, vor allem wenn ich kaum jemanden kenne. Die Fête braucht mich nicht. So war ich also zuhause, hab zuerst noch mit Renzo – meiner letzten Liebe – Kaffee getrunken und geredet und danach seit langem wieder einmal Klarinette gespielt. Ich war ganz überrascht, wie schön das noch immer klingt und habe mir gleich vorgenommen, wieder häufiger zu spielen. Danach habe ich lange mit Lukas, einem Freund in Luzern (ein junger Spunt, hetero, sehr lieb, sehr aufrichtig) telefoniert, dann Dein Mail gelesen und geschrieben ... Jetzt drückt die Blase und ich rase! – Das war das Bier; jetzt bin ich wiedr hier.

Von unserem Schreiben über Schreiben und Deinen Texten angeregt habe ich auch noch gekuckt, was ich denn soanGeschriebenem auf Lager habe. Dabei stiess ich auf  eine Variation der Fabel von der Grille und der Ameise, die ich vor einigen Jahren einmal geschrieben habe und halb fertig liegen liess – ein wenig anspruchsvolles Werklein – mehr herzig als interessant, aber im Vergleich mit dem seriösen ("akademischen") Zeug, das ich sonst immer schreiben "muss", doch spassig zu schreiben. Zwischen Klarinette und Lukas hab ich der Fabel denn endlich ihr verdientes Ende verpasst. Dabei merke ich, wie selten ich seit langem einfach so aus Lust und Jux oder Bedürfnis schreibe und wie sehr Schreiben seither zur manchmal interessanten, immer aber anstrengenden Arbeit geworden ist. Schade. Auch hier ist Veränderung und neue Freiheit angesagt!

Hmm. Dänu. Ich bin immer noch sehr neugierig auf Dich. Ich hoffe, Du hältst es aus (oder findest es sogar ein wenig schön!). Deinen Spietz-Text habe ich übrigens auch gelesen, bin alerdings nicht ganz sicher, ob er vollständig ist. "Spietz" ist kürzer und leichter als die sehr bewusst gestaltete und durchgearbeitete "Kirche im Dorf". Die Sprache gefällt mir in beiden Texten, in "Spietz" an sonsten vor allem das Ende. "Die Kirche im Dorf" macht nachdenklich und vermittelt den Eindruck, dass Du zu diesem Thema viel zu sagen hast und viel darüber weisst. Die massive Kritik hat mich beim Lesen, wie ich Dir schon am Mittag schrieb, etwas unruhig gemacht. Als gelernter Friedensfürst und Untertan glaubte ich ab und zu, den von Dir in die Pfanne gehauenen Menschen beistehen und sie in Schutz nehmen zu müssen. Doch etwas Beunruhigung ist gut, und gut war auch der Schluss – inhaltlich und für's Gefühl. Nicht billig versöhnlich, sondern wirklich wichtig ohne dass dadurch die Kritik irgendwie relativiert würde. Das gefällt mir. Ich vermute, dass in dem Text viel Arbeit steckt! Er wirkt jedenfalls sehr kompakt und durchdacht ... Gute Nacht, gute Nacht!

Wenn Du Lust hast, schick mir ruhig noch andere Texte und wenn Du kannst ganz bald  ein neues Mail! Ach meine Ungeduld. Ich übe, Mensch, ich übe!

Ciao caro (a propos: aus welchem Land stammen die Costantinos? Italia, Espagna? Und wie viel Italia oder was auch immer steckt in Dir?). Kannst Du, wie ich mit chinesischen Blut aufwarten? Na, siehst de mal!

Tschüss und bis bald,

Martin