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An Daniel C., 18. März 2003

Hoi Dänu, Du armer eingeschweizeltter Erdenmensch! Was Du da über Deine Familie, besonders Deine beiden Pas schreibst, klingt ja zum Kotzen. Diese merkwürdige Episode mit deinem Biovater: Sich ein Jahr lang treffen und dann plötzlich: Good bye und tschüss. Klingt alles irgendwie übel und tut weh.

Ärger – vielleicht als primäre Reaktion zum Überleben. Ja, so etwas spüre ich, wenn ich Deine Briefe lese, Nein, Ärger ist irgendwie nicht das richtige Wort, es ist eher Abgrenzung und Misstrauen, viel Misstrauen und vielleicht auch schnelle Verletztheit unddarauf hin Rückzug und wieder Abgrenzung und ein scheinbar kompromissloses "nicht mit mir", dazu allerdings – mir zur Freude und zum Trost!!! - viel klarer, mich sehr ansprechender Verstand und  Sinn für das nicht Perfekte, das Halbe, das bloss Ersehnte. Doch, das spüre ich auch bei Dir und es beruhigt mich, denn dem allzu kritischen Blick setze ich mich nicht gerne aus. Ich sehe viel zu viel Ängstlichkeit und Halbheit bei mir, möchte mich immer "heldischer", klarer, eindeutiger und sehe doch, dass es nicht so ist. Manchmal empfinde ich meine Ängstlichkeit, meine bürgerliche Vorsicht und meine Scheu vor klaren Stellungnahmen auch als Zeichen wirklicher Toleranz, als Fähigkeit, eine unklare Situation zu ertragenohne gleich so oder so entscheiden zu müssen. Aber oft ist es Plüschgewohnheit, Produkt der Erziehung und Ergebnis von Angst, zwanghaftes Nettsein. Es ist als ob ich schlechte Erfahrungen mit Offenheit und Kampf gemacht und stattdessen auf Kompromiss und Anpassung gesetzt habe. Das hat irgendwie funktioniert, aber dafür sehe ich mich heute manchmal wie ein armseliges Hündchen nach irgendwelchen gnädig dargereichten Guzzeli springen – dienstbeflissen und süsslich lächelnd, unsicher, jederzeit zur Abbitte bereit, immer verständnisvoll die "Mächtigen" verteidigend, auf ihre Probleme hinweisend und das ungeduldige Volk besänftigend. Kein Wunder, dass ich mich seit Jahren mit der in unserer Gesellschaft und besonders in unseren Schulen gezüchteten Bravheit herumärgere und dagegen anrede und anschreibe. Menschen scheinen sich ja öfter genau mit dem zu befassen, mit dem sie besondere Mühe haben. – Ich will mich hier nicht schlechter machen als ich mich fühle. Diese übermässig brave und unterwürfige Seite ist ja nicht alles, was ich von mir kenne, aber es ist doch etwas, was ich öfter in mir finde als mir  lieb ist. Dagegen wirkst Du sehr stark und klar und scheinbar nicht korrumpierbar oder korrumpiert. Stark und klar klingt eigentlich doof, vielleicht sage ich lieber: stärker – aber wer weiss das schon. Wer kennt die Gefühle hinter den Worten und wer kennt die vielen Seiten, Abründe und Widersprüche eines Menschen. Ich wünsche mir bei meinen Freunden jedenfalls auch Schwäche und Nichtwissen, auch Zögerlichkeit und Verlorenheit, nicht nur Stärke und Klarheit und Entschlossenheit.  ... Hubs. Ich mus weg, meinen Besuch abholen.

Fortsetzung folgt,

Martin