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An Daniel C., 21. März 2003, 03:03Uhr

 Hoi Dänu, nach meinem Gelier von eben - so sagt's ihr Berners doch? - les ich Dein sprudliges Mail, das eben gekriegte. Ich lache und freue mich darüber und will Dir doch noch einmal kurz schreiben. Die Idee mit den sieben Wörtern ist ausgezeichnet. Ich persönlich würde dabei allerdings bös leiden, müsste mir vielleicht einfachheitshalber gleich zu Beginn ein dickes Pflaster auf den Mund kleben. Dann einmal pro Woche wegnehmen und 49 Worte sagen, und dann wieder drauf. - So auf Daur vielleicht doch etwas sehr still - vor allem, wenn Du bedenkst, dass ich nichts sehe.

Wobei - hier kommt ja gleich noch so ein schöner Gedanke herangerobt: Wenn das Stillwerden uns dazu bringen würde, uns mehr anzuschauen, zu berühren und auch körperlich mehr beisammen zu sein, wenn wir also das Wortgebrause mit Körperkontakt ersetzen würden - vielleicht nicht eins zu eins, aber doch so weit wir es wünschen, damit es uns nicht zu einsam wird auf dieser stillen Welt - wenn das noch wäre, dann fände ich die Idee doppelt gut. Wie viele Wochenrationen habe ich jetzt gebraucht, um "gut" zu sagen? O Baby! Ich wäre verloren. Ich würde nur sagen: Dänu, komm ein bisschen näher. Ich möchte Dich spüren ... Dann ging's mit weniger Worten. - Anfassen ist für mich sicher auch ein Anschauersatz. In Verbindung treten. Neugierig sein. Muss nicht unbedingt gleich Sex und so bedeuten.

Du fragst nach Musik. Kreisler, ja kenne ich seit langem, allerdings nichts Neueres, sondern nur seine "alten Sachen". Auch sonst ist mir Kabarett nahe, wobei ich nur sehr selten etwas antreffe, was mir wirklich entspricht. dietrich kittner und dieter süverkrüp sind mir kein Begriff. Hab vielleicht mal was von einem von ihnen gehört, doch weiss ich das nicht. Hüsch, ja kenne ich natürlich, aber auch von "früher". Ob ich ihn mag ... weiss nicht recht.

Eine Zeit lang ging ich oft in's Kabarett; doch mit der Zeit wurde ich jedesmal ganz melancholisch, weil ich eigentlich viel lieber auf der Bühne gewesen wäre als unter den Zuschauern. Und nachdem ich sehr oft den Eindruck hatte, was die da machen, das könnte ich mindestens so gut, fing ich an zuhause zu bleiben. Wenn ich seither hie und da mal was am Radio höre, so staune ich meistens, wie öd ich es finde. Vor ein oder zwei Monaten entdeckte ich allerdings einen Typen, den ich sackstark fand ... Leider habe ich seinen Namen wieder vergessen (könnte es süverkrüp  sein?). Aber der war echt gut! Harte politische Satiere, nicht Nachmachen irgendwelcher Politiker, sondern Demontage des Gefasels und Getues. Wirklich sau gut. Der Mensch kommt im September nach Basel, das weiss ich noch, und Johanna - ja die Sonntagabend Znachtess und Kerzenanzünd-Johannna - und ich wollten hingehen. Sonst wie gesagt ist Kabarett für mich eher eine eigene Sehnsucht. Nicht so wesentlich wie mein Ding mit der Pädagogik, aber doch etwas, was lockt. Natürlich hab ich's auch schon ausprobiert, aber ach, die Strasse meines kabarettistischen Triumphs gleicht der Überlandstrecke durch Jugoslawien, mit der etwas minderbemittelte Touristen in den 1970er und 80er Jahren von hier nach Griechenland brausten: Ein verunfalltes Projekt nach dem andern entlang der ganzen Strecke! Dabei hätte ich dafür vielleicht wirklich Talent. Mein grosses Problem scheinen die Texte und - irgendwie damit  verbunden - der Übergang von der Improvisation zur festen Form.

- In den 80er Jahren habe ich einmal während zwei Wochen jeden Tag ein paar Stunden an einem Programm herum geschrieben. Das Ergebnis war typisch: Lauter Anfänge. Ich konnte mich nie entscheiden, das Programm über einen möglichen Anfang hinaus zu entwickeln. In einem Text habe ich den Anfang explizit als Höhepunkt des Programms gepriesen, nein, nicht eigentlich den Anfang, sondern den Moment davor, den Moment, wo noch alles offen und möglich ist, wo das Programm sich in diese oder eine ganz andere Richtung entwickeln könnte. Den Text fand ich geil - er entspricht oder entsprach wirklich meinem Gefühl, dass danach eigentlich nichts kommen sollte. Eben: Sieben Wörter und dann stop! Träumen, die Gedanken und Gefühle losbinden, sie ziehen lassen, abwarten ... Aber natürlich würde das Publikum murren und mit den Füssen scharren, denn es ist nicht interessiert daran, zu erleben wie die Wüste zum Leben erwach, es will gekitzelt und geprügelt, gerütelt und geschüttelt werden. Wofür hat man schliesslich bezahlt. Es ist wie mit den Lehrern. Sie sollen einem sagen wo's lang geht und nicht das hohe Lied vom selber Denken singen. Wofür werden sie sonst bezahlt. Selber denken kann man ja später einmal, im Altersheim, wenn man Zeit hat oder vielleicht auf dem Clo, wenn grad sonst nichts los ist. –

Während der zwei Wochen hatte ich viel erlebt und viel für mich gelacht ... die papierenen Überreste gammeln seither in irgend einem Ordner vor sich hin. Ähnlich erging es mir vor und nachher ein paar Mal, wenn ich mich mit ähnlich schwachsinnigen, undisziplinierten FreundInnen zusammentat, und wir ein Stück auf die Beine zu stellen versuchten. An Ideen fehlt's mir nicht (zumindest nicht an schlechten), aber irgendwer muss aus dem Zeug was machen!

Im letzten Sommer wurde ich unerwartet angefragt, ob ich in einer Kabarettproduktion mitmachen wolle. Wau, da bin ich aufgeblüht. Endlich werde ich entdeckt. Endlich werde ich von meinem Dasein als Intellektueller und von der Mühsal meiner Schreiberei erlöst! Es handelte sich um ein Projekt des Dachverbandes der schweizerischen Behindertenselbsthilfe. Das fand ich zwar nicht so gut, aber sehr gut fand ich, dass wir drei SpielerInnen (ich männlicher Mann mit zwei Frauen) mit einem professionellen Regisseur zusammenarbeiten würden. Dieser sollte zugleich unseren Text schreiben. Hmm. Ja. Ich hätte auf meinen Instinkt hören sollen. Das Thema der Produktion war die Integration Behinderter in die Arbeitswelt. Das war die Vorgabe dieses Dachverbandes. Brr! Mich schüttelt es noch immer, wenn ich daran denke. Inzwischen haben sie einen Ersatzmann für mich gefunden, und meine Kabarettkarriere ist wieder einmal im Eimer.

Ein andermal wollte ich bei einer Basler Laienbühne mitmachen. Ich dachte mir Theater geht vielleicht leichter, weil man da eher ein vorfabriziertes Stück nehmen und sich in diesem Rahmen verlustieren kann. Aber ach. Scheisse! Ich habe mich schön vorbereitet: Ein eigener und ein fremder Text. Brav sass ich im Foyé des renomierten Kellertheaters in mitten der anderen BewerberInnen. Bevor die Auswahlschlacht begann kam der Regisseur des Theaters und der Geschäftsführer an meinen Tisch: "Aha, ja so, m hm, aha, ja ja." Sie fanden es eine ausgezeichnete Idee, dass ich Theater spielen wollte. "Sicher, ein Blinder kann das sicher auch", aber bei ihnen fanden sie es eher unpassend. Weil sie eben - naja also eben, also im Sinne von - also im Prinzip natürlich schon, aber ...

Es war wieder eine dieser Scheisssituationen. Ich redete, versuchte zu verstehen, argumentierte ... ohne Erfolg. Nach zehn Minuten stand ich auf der Strasse und habe geflennt ... Das war 1984! Stell Dir vor die Oscars die ich seither hätte abräumen können. Aber gut. Es hat nicht sollen sein.

Nüchtern betrachtet war ich auch ein naiver Depp, mich ausgerechnet bei der "Baselditsche Bihni" zu melden, denn das ist nun wirklich stock konventionelles Schenkelklopf und Boul - Boul - wie schreibt man denn dieses Wort ... Boulevard -Theater. Aber ich hätte das gerne mal gemacht und weil ich mir dachte, dass es in diesem Milieu vielleicht Probleme geben könnte wegen ... nun ja, also, Sie verstehen schon -, handelte mein selbst geschriebener Text genau davon: "Ein Blinder, der Theater spielen will ...". Es war eigentlich eine Art poetischer Betrachtung der Tatsache, dass ich ja im normalen Leben auch vorkomme, und dass ich damit doch auch auf den Brettern die die Welt bedeuten, einen Platz kriegen sollte ... Leider ist dieser wertvolle Text nie zur Aufführung gelangt, weil die Bosse der Truppe ... Sie verstehen schon. Es geht nicht gegen Sie! ... ja, sehr nett waren sie und ich war draussen bevor die Vorsprecherei begann. Und die Geschichte modert seither im Untergrund, in dem die Wut und der Frust zuhause sind, an denen ich im vorigen Mail herumlaboriert habe. Ich bin selber überrashct, schon wieder auf so eine Badluck Story zu stossen.

Jo Du, Dänu. Ich könnte ja noch ewig weiterschreiben. Der Nachtmensch, der ich früher mehr als in den letzten Jahren war, kommt langsam aus dem Loch. Musik: Was Du über Dein Klavierspiel geschrieben hast klingt wunderbar. Ich sehe Dich richtig - einmal ganz angespannt, weil die Akkorde das Letzte von Dir fordern, und dann ganz friedlich, impromässig, ohne Schuberts fiebrigen Puls im Nacken. Ich selber kann leider auch kaum mehr ein "richtiges Stück", weil ich diese immer auswendig lernen muss. Es gibt zwar Blindenschriftnoten und als ich ein guter Junge war und jede Woche brav in die Klavierstunde ging und mir dort die Freude an der Musik und mein musikalisches Selbstvertrauen   abtrainieren liess, da habe ich diese Noten fleissig gebraucht um meine Bäche und Mozärte auswendig zu lernen. Doch seither ist's damit wie mit den römischen und griechischen  Tempeln, nur noch die wertvollsten werden instand gehalten. Das meiste bröckelt vor sich hin oder ist schon ganz weg. Ich habe einfach zu wenig Zeit um das ganze Repertoire in Form zu halten, und wenn es einmal zu bröckeln anfängt, dann ist's  bald vorbei mit der Herrlichkeit. Meine Technik ist im übrigen nicht so berauschend, sodass ich sowieso Vieles, was ich gerne spielen würde, nicht oder nur mit grossem Aufwand spielen könnte. So bin ich denn ein Hans Dampf in Allen Gassen geworden. Habe neben Klavier auch noch mit Klarinettenunterricht begonnen, später dann noch Altflöte. Zu meinem Instrumentenpark gehören auch noch Akkordeon und Saxophon und Gitarre ... Du merkst schon, das kann ja nix werden! Oder eben Kabarett. Ich improvisiere vor allem, wobei ... aber das ist eine andere Geschichte. –

Musik hören - mich wirklich hinsetzen und bewusst und in Ruhe Musik hören, das tue ich eigentlich selten. Früher - so zwischen 14 und 20 - habe ich viel Musik gehört, und zwar fast ausschliesslich Barok, Klassik und Romantik. In diesen Abteilungen kenne ich mich seither relativ gut aus. Wenn ich heute allerdings ausnahmsweise einmal etwas höre oder mir eine CD kaufe, dann eher anderes: Jazz, Folkiges Zeug, auch Kletzmer; Cajun kenne ich eigentlich überhaupt nicht. Zu elektrifizierter  Musik (Pop, House und Graus, Drum base, Hip Hop, Wave und Techno oder Hard Core oder wie die Dinge alle heissen) habe ich wenig Zugang. Ich höre zwar oft gerne zu, aber frag mich nicht nach Stilrichtungen oder gar nach Interpreten. Ich habe mal den Namn Madonna gehört und auch denjenigen von Micheal Jackson oder Tom Waits, aber mit Ausnahme von Tom Waits würde ich zum grossen Schrecken meiner Nichten und Neffen und der Kids hier im Haus nicht einmal diese an ihrer Stimme erkennen. Dass Du eigentlich mal was Liebes sagen wolltest, damit ich merke, dass Du das auch bist und dass Du nicht nur von einem cholerischen Anfall zum andern  torkelst und tag und nacht an der Weltrevolution arbeitest fand ich süss. - Hubs: die Zensur sagt, ich solle mich für das Wort "süss" entschuldigen, das gehe zu weit. Okay, vergessen Sie süss, mein Herr! Ich fand es eben sympathisch, und ich würde sagen, schreib nur öfter mal was Liebes, Du vielfarbiger Vogel und interessanter Mensch, damit ich nicht immer so Angst hab, wenn's donnert und wir uns zwischendurch auch mal irgendwo erholen können! So. Jetzt ist aber allmählich bed time. Ich krieg morgen Abend Besuch und irgendwie habe ich immer das Gefühl, ich müsse wiedermal was "richtiges" machen, ein wenig an meinem Herrn Geheeb herumdoktern oder so. Einfach etwas seriöses, damit ich nicht zum Sozialfall werde. Nur immer Briefe schreiben und lesen oder telefonieren, und mich hinter nicht mehr funktionierenden Computern verstecken, wenn das Pflichtgefühl wiedermal zur Tür reinschaut, das geht ja auch nicht auf die Dauer. Deshalb geh ich jetzt brav ins Bett,

im Bett tuen i bähte   und schlofe denn i bis morn am morge, kikerikii!

Lieber Dänu, ich wünsche Dir einen schönen Tag trotz der zynischen Kriegerei und unserer Hilflosigkeit und dem ganzen Elend. Läb wohl und bis bald,

Martin