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Das grosse Zögern und der langsame Aufbruch

Ich habe mir schon seit einiger Zeit gewünscht, einmal für länger nach Afrika zu fahren und dort vielleicht auch in irgend einem Hilfsprojekt mitzuarbeiten, um unserem so nahen und gleichzeitig so fernen Nachbarn etwas näher zu kommen. Ein erster Besuch in Tanzania und Sansibar im Herbst 2000 hat meine Neugier verstärkt, und nachdem der Versuch im Rahmen von Volunteer Service Overseas, einer grossen britischen Freiwilligenorganisation, ein Engagement in einem Projekt in Afrika zu finden Ende 2009 grossartig gescheitert war, habe ich schliesslicch beschlossen, nicht mehr weiter auff den Tag X zu warten, sondern mein Lebensschiff vom sicheren Pier meines geordneten Daseins loszubinden und in den Fluss zu lenken, auf dass es neu in Bewegung komme ...

Fünfzehn Jahre sind genug

Mitte Juli 2010 hatte ich es grossartig bekannt gegeben: 15 Jahre sind genug - good bye Ramsteinerstrasse! ich habe meine dortige Wohnung mit samt ihrer lieb gewordenen, fünfzehnjährigen Gemütlichkeit aufgegeben - eine Kündigung als Geschenk zu meinem 55. Geburtstag! -, weil ich hinaus in die Welt wollte! "Change", wie Obama das nennt, Dummheit, wie andere gesagt haben. Dummheit, mag sein, doch ich hatte mehr und mehr das Gefühl, hier in der Schweiz, wo wir ja bekanntermassen "alles" haben, zu verhungern ... nicht physisch, aber inwendig, seelisch sozusagen.

Ich wusste noch nicht, wohin ich eigentlich will. ich wusste nur, das ich spätestens im nächsten Mai wieder in der Schweiz sein musste, weil mein bürgerliches Leben mich dann hier haben wollte. Lange standen Venedig, Irland oder ein gemütlicher Schriftstellerwinter auf einer griechischen Insel ganz oben auf der liste der Möglichkeiten, doch da ich am 20. Oktober noch einen Termin in der Schweiz hatte, brauchte ich ja noch nicht zu entscheiden. Stattdessen versuchte ich zunächst etwas anderes: Ich machte mich zufuss auf den Weg nach Genf. Es war ein Unternehmen, an das ich schon oft gedacht hatte, seit ich wusste, dass man auf dem "Jurahöhenweg" in etwa 14 Tagen von Basel nach dorthin wandern kann, doch der Gedanke, diesen Weg allein, ohne sehende Begleitung unter meine füsse zu nehmn, war mir bisher nie gekommen. Die Idee reizte mich sofort, und ich wusste, dass ich es trotz, ja vielleicht gerade wegen der Schmetterlinge in meinem Bauch versuchen würde: Ganz allein mit meinem weissen Stock, mit Zelt und Schlafsack nach Genf! - Nun, bis ganz nach Genf bin ich nicht gekommen, aber ich war immerhin acht Tage unterwegs und habe gut die Hälfte der Strecke geschafft. Danach wurde das Wetter schlechter, und ich beschloss, das Experiment für diesmal abzubrechen.
Zurück in Basel habe ich versucht, meine Erlebnisse im Jura in lesbare Form zu bringen. Es war ein zähes Unterfangen, und ich bin mit dem Ergebnis nach wie vor nichtt sehr glücklich, aber nach dem vielleicht fragwürdigen, aber doch populären Motto: lieber die Fliege im Glas als die Schnecke im Ohr hab ich den Bericht über mein Jura-Abenteuer zu Gunsten eines vielleicht interessierten Publikums schliesslich doch auf meiner Webseite platziert.
Gegen Ende Oktober hatte Afrika sich an die Spitze der Liste der möglichen reiseziele emporgearbeitet. Es hatte zunächst Venedig und die griechischen Inseln verdrängt und ganz zum schluss auch Dublin. Ich beschliesse, mit Marokko zu beginnen, denn dort ist es warm, und Marokko ist sozusagen das (oder mindestens ein) Tor zu Afrika. Der Entschluss ist also gefasst. Allerdings ist von wirklicher Reiselust noch nicht viel zu spüren. Im Gegenteil. Ich muss mich regelrecht zwingen, aufzubrechen. ich bin gefangen in einem Gehäuse von missmutigen Gedanken und kleinen klebrigen Sorgen, müsste vieles tun und tue kaum etwas. Dahinter steckt vielleicht die Angst vor dem Unbekannten, denn unbekannt ist Afrika für mich. Was fehlt sind menschen, die dort auf mich warten, Menschen, die sich freuen, jemanden wie mich kennenzulernen. Klingt vielleicht eitel, ist aber so ziemlich das, was ich empfinde, und entspricht auch dem, was ich mir von meiner Expedition erhoffe: Kontakte, menschliche Verbindungen und Beziehungen zu einer mir bisher unbekannten Welt.
Um die Einzelheiten meiner Reise vorzubereiten, fahre ich für zwei Tage zu Johanna nach Ennenda. Dort stosse ich u.a. auf die Organisation Couchsurfing , eine moderne Variante von Servas . Über tausend Adressen allein in Marokko, die Reisenden einen Schlafplatz anbieten oder zumindest interessiert sind, sich mit ihnen zu treffen. Die Seite belebt mich. Das ist das Zipfelchen Afrika, das ich gebraucht habe, um aufbrechen zu können! Das sind die menschen, nach denen ich suche.
In meinem Couchsurfing Profil versuche ich zu beschreiben, weshalb ich nach Afrika will, und was ich eigentlich suche, wenn ich so in die Welt hinaus ziehe. Ich nehme mir Zeit. Es tut gut, dies alles einmal zu formulieren. Es sind grosse Worte, die da aus mir herauskommen, ein regelrechtes politisches Programm! Dochh es ist tatsächlich das, was mich innerlich bewegt:
Johanna und ich sitzen noch ein paar Stunden an unseren Computern und schauen Eisenbahnfahrpläne und Fährverbindungen an, und dann steht mein Reiseplan.

Langsames Anpirschen. Paris, Fourcès und Barcelona

Am 4. November, einem Donnerstag, breche ich auf. ich bin zuerst drei gute Tage bei einem Uraltfreund in Paris. Gute Gespräche, gutes Essen und dazu drei klassische Konzerte, eines davon super. Vom 7. bis zum 10. November bin ich bei Karen, einer amerikanischen Freundin unserer Familie, die sich vor etwa 6 Jahren aus den USA abgesetzt und in Fourcès niedergelassen hat. In ihrem Haus kommt es mir vor, als sei ich vorübergehend ins 14. Jahrhundert geraten: Dicke Mauern, kleine Fenster, geräumige Vorhalle mit einem hölzernen Treppenaufgang in den oberen Stock, dazu im Speisezimmer lauter alte Möbel und ein prasselndes Feuer im offenen Kamin!
Am 10. November Abends komme ich in Barcelona an. Daniel holt mich am Bahnhof ab. Auch bei ihm ist's sehr angenehm. Viele ernste Gespräche über die Tendenzz zu immer engerer und unmenschlicher Normierung. Er sieht es u.a. in seinem Metier, der Photographie. er photographiert seit einiger Zeit voor allem nackte Frauen. Gehobene Erotik könnte man es wohl nennen. Dabei retouchiert er seine Bilder prinzipiell nie, was inzwischen völlig ungewöhnlich sei. Aktphotos würden heute fast immer nachbearbeitet. Damit würden unsere Vorstellungen davon, was ein schöner Körper tatsächlich ist,, immer unrealistischer und enger. Jede Unebenheit, jedes Haar und jedes kleine Muttermahl gelten als Verunreinigung, ein Ideal, das uns lockt und beunruhigt, weil wir es nie erreichen können, weil da immer noch irgend etwas ist, was nicht stimmt. Dasselbe geschieht natürlich auch in anderen Bereichen, so zB bei den ständig steigenden Ansprüchen an das Aussehen eines perfekten Körpers, eines perfekten Apfels oder an die perfekte Darbietung einer Beethovensonate. Durch technische Manipulation wird alles perfektioniert. Es ist eine sich immer weiter drehende und immer enger werdende Spirale, die immer unmenschlichere, d.h. dem menschen und seinen realen Möglichkeiten immer weniger entsprechende idealvorstellungen Produziert. Daniels stille Opposition und sein subversiver Geist gefallen mir ebenso gut, wie das, was ich bis am Sonntag von Barcelona mitbekomme. oppo
Daniel wohnt im Borne oder Ribiera, wie das Quartier offiziell heisst. Viele enge Strassen, belebt, aber nicht hektisch. Kaum oder gar keine Autos. Dasselbe ist in den Nachbarquartieren Gothio und Barcelonetta der Fall. Es ist die Art von städtischer Atmosphäre, die ich liebe. Dagegen kann ich mit der bekannten Rambla und den prächtigen Strassen jenseitts des Plazza del Andalus nichts anfangen. Die Häuser mit all ihrem Schmuck und Prunk sind zu weit weg. Die Fassaden sind zu hoch, die Türen zu breit, aber vor allem sind dort zu viele Autos, die all meine Wahrnehmungen in einem Brei von Lärm und Gestank ertränken.
die Geräusche der menschen verwischen,
Am Samstag Nachmittag waren wir am Hafen, um herauszufinden, wo ich einchecken muss, und ob mein mit einigen Schwierigkeiten online gekauftes Ticket tatsächlich akzeptiert wird. Am Abend erreiche ich Abdelkader, einen 26jährigen Gastgeber aus Tanger, den ich via Couchsurfing kennengelernt habe, über Skype. Er kann mich in Tanger Med, wo ich ankommen werde, voraussichtlich nicht abholen, doch werde er am alten Hafen von Tannger auf mich warten. Er scheint die Sache ernst zu nehmen und weiss wovon er spricht.
Obwohl also alles eingefädelt ist, fühle ich mich eher bedrückt, wenn ich an die Weiterreise denke. Keine grossen Ängste, aber ein klebriges Gespinst kleiner ekliger Sorgen ..: Wie wird es auf dem Schiff? Wie finde ich mich dort zurecht? Wastue ich mit meinem Rucksack? Gibt es Schliessfächer?
Ich stelle mir vor, wie ich irgendwo sitze und mich nicht getraue, nach links oder rechts zu tasten, obschon ich wissen möchte, ob da jemand sitzt und ob dieser jemand alt oder jung, ein Mann oder eine Frau ist ... Ich spüre, wie ich stumm und in mich verschlossen an einer Reling stehe, mich nicht mehr zu bewegen wage, weil ... weil ... -
Es ist vor allem dieses Abgekapselt sein, wovor ich mich fürchte: Sehen wollen und mich nicht getrauen, zu fragen, meine Hände auszustrecken, hinzugehen ... - Es sind keine grundlosen Fantasien; ich habe solche Situationen oft erlebt, auf meinen Reisen und bei zahlreichen Gelegenheiten zuhause in good old Switzerland. Aber ich weiss auch, dass diese Sorgen nicht helfen, da ich unmöglich wissen kann, wie alles wird, und wie ich mich dabei fühlen werde. Es ist interessant, dass mich all die Gefahren, an die andere zuerst denken, viel weniger beeindrucken. Natürlich kann ich unterwegs krank werden, und natürlich kann mir mein Rucksack abhanden kommen, man kann mir meinen Pass oder mein Geld klauen ... Ich weiss es, dochh Sorgen mache ich mir deswegen keine. ich habe meine Impfungen durchgecheckt, mir einen Gürtel mit Innenreisverschluss für mein Bargeld gekauft und bin Gönner bei der Rega geworden, sodass im Notfall ein Rücktransport in die shweiz gewährleistet ist. Ich bin also nicht ganz unvorbereitet, und ich versuche mich auch unterwegs einigermassen "vernünftig" zu verhalten, aber im Grunde sehe ich den möglichen Gefahren gelassen entgegen. ich werde handeln, wenn Bedarf besteht, und so schnell geht der mensch nicht unter. Weshalb bin ich in diesen Dingen so gelassen, während ich mir so viele Sorgen in Bezug auf das Alleinsein und das Gefühl der Isolation mache? Ich weiss nicht, ob ich es wirklich wissen will oder muss, doch ich weiss, dass es in diesem Bereich für mich noch einige Blokaden aufzulösen und einiges zu lernen gibt.