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Des Ikarus‘ Flug und Fall: Vom Ende eines Traums

Nach zwei Wochen in Indien bin ich wieder in der Schweiz.In Basel begann ich nach anfänglichem Zögern in allen Richtungen für die UPP zu werben. Es war ein unglaublich produktiver, bunter Sommer ehe sich im August einige dunkle Wolken über dem Projekt zusammenzuballen begannen, die dann, Ende September, zu meinem nicht ganz unerwarteten Rückzug aus der UPP führten.

Zwischenspiel in Indien

Am 15. April 2011 verliess ich Uvira. Der Abschied war herzlich. ich wusste allerdings nicht, ob ich - wie ursprünglich vorgesehen - in der Schweiz irgend etwas für die UPP tun würde. Ich war zu müde und zu mutlos. Während der letzten Tage hatte ich mehrfach gesagt, dass diese Entscheidung nicht zuletzt davon abhänge, was ich in nächster Zeit von hier höre. Es war eine bekannte Melodie: "Die Uni ist unser aller Projekt! Nur wenn wir alle an ihrer Entwicklung mitarbeiten ...". Einige hatten mich verstanden. Alain zum Beispiel, auch Mary oder Willy oder Isaac. Aber würde es reichen? Ich wusste es nicht. Zunächst wollte ich Abstand gewinnen, abschalten und alles vergessen. Ich hatte deshalb bereits vor einiger Zeit beschlossen, auf dem Heimweg einen Zwischenhalt in Indien einzulegen, und ein paar Wochen mit meinem "Neffen" Vicky zuzubringen. Dieser schien schwere Zeiten durchzumachen, und er freute sich ganz offenbar, mich zu sehen. Wir verbrachten denn auch zwei gute Wochen miteinander, gut, aber nicht nur einfach. Vicky - mein Sorgenkind! Melancholiker, Traumtänzer und spoiled brat, wie die Amis sagen!

Am Donnerstag, dem 21. April früh morgens war ich in Delhi. Der Flughafen in Delhi begrüsste mich ganz anders als fünf Jahre zuvor: keine leise Zitarmusik mehr, keine schlurfenden Inder mit ihrer mürrischn langsamen Freundlichkeit. Stattdessen ein brandneues schickes Gebäude, lange Gänge, grosse Hallen, keine Musik, zwei Flughafenangestellte mit gutem Kundentraining: "Welcome in India, the land of hospitality ...". Effizient, neu und seelenlos. Ich habe drei mal versucht, auf die Floskeln meines Begleiters einzugehen. No chance! Er faselt weiter während wirr die Immigration hinter uns bringen und mit viel Tamtam und Formularen Geld wechseln. Im Eingangsbereich dann Vicky! Er war 2 Stunden vor mir mit dem Mahabodi-Express aus Gaya angekommen. Freudige Begrüssung und grosses erstaunen auf meiner Seite, wie sehr er sich in den letzten drei Jahren verändert hat. Aus dem kleinen verschüchterten Jungen mit den zusammengezogenen Schultern und der leisen Stimme ist ein kräftiger junger Mann geworden. Ob er seit der Zeit in der Ecole tatsächlich noch gewachsen ist oder ob ich geschrumpft bin? Ich weiss es nicht. Ich bin jedenfalls beeindruckt.

Wir fahren mit der Metro - auch sie ganz neu, sehr schick und noch etwas ungewohnt - in die Stadt und checken im alten Sunny Guesthouse ein. Der Ort gefällt mir nach wie vor, obschon er allmählich kaum mehr romantisch, sondern vor allem nur kaputt und heruntergekommen ist. Was vorher etwas verlottert war, wirkt jetzt verwarlost. Alles geht bergab, nur die Preise steigen! Statt 250 Rupien für ein Doppelzimmer mit shared bath auf dem Dach zaheln wir diesmal 500 Rupien. Vicky und ich bleibben bis Samstag in Delhi. Am Freitag versuchen wir vergebens, bei der pakistanischen Botschaft ein Visum zu bekommen. Vicky bekäme es nur, wenn er Familie in Pakistan hat, und ich muss mein Visum in derr Botschaft in meinem Heimatland beantragen. Visumsanträge in Drittländern seien nur möglich, wenn der Antragsteller dort angemeldet ist. Da Zahid, der blinde Mann, den ich vor sieben Jahren in Islamabad kennengelernt habe, zur gleichen Zeit meldet, dass er sein Schweiz-Visum erhalten hat, ist die Auskunft nicht so tragisch. Ich werde direkt von Delhi in die Schweiz zurückfliegen und Zahid dort sehen. Kein Umweg mehr über Pakistan, kein Ausflug in die Türkei ... sondern auf direktem Wege hei!

Von Sonntag früh bis Mittwoch Abend sind Vicky und ich in Bodh Gaya bei der Familie. Dann zwei Tage in Kolkata und von Samstag früh bis Dienstag Mittag noch einmal in Bodh Gaya. Dann ging's zurück nach Delhi, 17 Stunden im alten Mahabodi Express. Die Züge sind noch wie vor fünf Jahren. Aber diesmal gab's nirgends Verspätung und wesentlich weniger Chaos an den Bahnhöfen. Vicky sagt, ja, Indien entwickelt sich.

Das Zusammensein mit der Familie ist angenehmer und weniger stressig als vor sechs Jahren. Die dreijährige Ria, Gudus jüngste, war oft um mich, hat mich überall hingebracht, hat mit mir gespielt und mich massiert. Raj, ihr 8 oder 9jähriger Bruder, ist etwas zurückhaltender, war aber auch oft da, hat sein englisch an mir probiert und mit mir gespielt. Die ersten zwei Tage waren zudem die jüngste Schwester von Vickys Vater samt Mann und Sohn zu besuch.

Sie kamen einige Wochen zuvor von Delhi, um die langen Haare des Sohnes einem Gott zu opfern. Dabei wurde Prince, so heisst der wirklich süsse, etwa 6jährige Knabe, ganz kahl geschoren. Als ich da war, hatte er bereits wieder kurze Stopelchen. Das ganze Fest kostet, wenn ich mich recht erinnere, rund 20,000 Rupien, soll aber sehr glückbringend sein.

Mit Princes Vater habe ich kaum kontakt gehabt. Seine rechte Hand ist nach einem Arbeitsumfall teilweise gelähmt. Er kann damit auch nicht mehr essen. Er ist 32, spricht kein englisch und scheint auch sonst nicht sehr gesprächig. Er arbeitet weiter in der Fabrik, in welchr der Umfall geschehen ist; man bezahlt ihm offenbar eine kleine monatliche Kompensation für den Verlust der Hannd. Vicky, Onkel und ich haben einen Motorradausflug in das ca. 35 km entfernte Dorf Daramsalam gemacht und die älteste der vier Schwestern des Vaters von Vicky besucht. Ihr Mann, "the drinker uncle", war bereits ziemlich angeheitert. Er hat viel gelacht und Witze gemacht und sich sehr über meinen Besuch gefreut. Wir sassen etwa eine Stunde hinter seinem haus am Dorfteich, sodass alle Einwohner von Daramsalam sehen konnten, dass da ein richtiger Westerner bei Onkels zu Besuch ist ...

Mit Vickys Eltern hatte ich auch diesmal wenig direkten Kontakt. Der Vater ist ein kaum wahrnehmbarer Schatten im Haus. Er verbringt seine Tage im "Geschäft", d.h. unter der Plastikplane vor seinem Bicycle Repairshop, einer Art grossen Box von einem Meter sechzig höhe, einem Meter Breite und zwei Meter tiefe. Kunden kommen selten, vor allem seit der Laden vor ein paar Wochen weiter von der Strasse weg aufgestellt werden musste. Mittags macht er gelegentlich ein nickerchen in seinem Shopf, sodass draussen nur noch seine Beine zu sehen sind.

Die Mutter wirkt offener und weniger verhärmt als vor sechs Jahren. Ihr geht es im Augenblick glaube ich relativ gut.

Gudu ist still und melancholisch. Er ist jetzt der Inhaber von Grossvaters Shop in Bodh Gaya. Der Grossvater lebt mit Grossmutter im Haus von Vicky. zwei, dreimal pro Woche kommt er in den Laden, wo er stundenlang dasitzt und wartet. Abends trinkt er meist den lokalen Wein. Wenn er mehr als gewöhnlich trinkt, beginnt er zu reden und zu brabbeln, zu gestikulieren und zu erklären. Man verstehe ihn nicht wirklich, sagt Vicky. Doch man scheint ihn auch nicht verstehen zu wollen. Er lebt einfach so mit und nebenher. Er schläft unruhig auf seinem Feldbett Jahrgang 1900 auf dem Dach des Hauses, wo auch ich ein paar Nächte zugebracht habe.

Raki hat sich gemacht! Sie ist weniger schüchtern, hat mich öfter angesprochen und nach diesem und jenem gefragt. Ihr englisch ist nicht sehr gut, doch wir können uns immerhin ein wenig über ihre Schule und meine Reisepläne unterhalten.

Vikram scheint sich besonders auf mich gefreut zu haben. Er ist sehr zutraulich, für seine bald 20 Jahre noch immer viele sehr kindliche Gesten. Er erzählt mir, wie sehr er immer an mich gedacht und sich darauf gefreut habe, dass ich eines Tages wiederkommen würde. Dabei streichelt er meinen Unterarm oder hält meine Hand. Kindlich und für seine Kultur typisch auch sein Angebot, mich zu massieren. Er tut es mit Lust und vollem Körpereinsatz. Nuancen und Feinheiten gehen bei seinen mörderischen Griffen etwas verloren, aber ich lasse mich gerne von ihm bearbeiten. Er tut alles gründlich, fängt bei den Füssen an und hört bei der Kopfhaut, den Augenliedern und der Stirn auf. Er verwendet ein nach Petrol riechendes Öl.
Vikram ist mir kindlich zugetan, strahlt mich an, lächelt, freut sich, neben mir sitzen zu dürfen, während ich esse. Er kommt zu mir, erkundigt sich nach meinem Ergehen, führt mich auf's Dach oder in unser Zimmer, wenn er mich unterwegs antrifft.

Dagegen wirkt Vicky zuhause die ganzen Tage ungewohnt kühl und zurückgezogen. Er ist extrem aufmerksam und fürsorglich, doch er tut alles in einer distanzierten Zuvorkommenheit, die mich mehr und mehr stört. Ich habe mich in Afrika so darauf gefreut, mich bei ihm in Indien ausruhen zu können: Ausruhen, geniessen, lachen, reden, mit ihm sein, auch zärtlich und nah, und nun ist er weit weg und kühl. Dabei begannen die zwei Wochen eigentlich ganz angenehm! Janu! - Am 5. Mai 2011 war ich wieder in der Schweiz.

Es kann nicht gehen! Ich will nicht und tu' es schliesslich doch

Zurück in der Schweiz habe ich natürlich viel von meinen Erlebnissen in Afrika erzählt. Es war immerhin meine erste längere Reise durch diesen Kontinent. Ich hatte viel Positives zu erzählen, doch wenn ich über die UPP sprach, dann verwandelte sich meine Begeisterung meist sehr bald in einen Strom heftiger Kritik! Es kann nicht gehen! Sie sind zu diletantisch! Das ganze Projekt ist reine Hochstapelei! Das Konzept ist prima, doch wir sind weit entfernt davon, es auch nur ein Stückchen weit in die Tat umzusetzen! Die Schwierigkeiten sind zu gross, und Flory und Robert sind zu unerfahren für ein derartig ehrgeiziges Projekt.

So sprach ich auch am Abend des 6. Juni vor rund 60 FreundInnen und Bekannten im Hotel Rochat in basel. Der Abend war eine Mischung zwischen informeller Martin-ist-zurück-Party und einer Präsentation der Université Panafricaine de la Paix. Für mich stand der informelle Teil im Vordergrund. Ich wollte nicht für die Uni werben, ja ich wolltte eigentlich nicht einmal viel über sie erzählen. Doch mein Vater hatte einige Freunde und Bekannte eingeladen, die primär an der Uni interessiert waren, und so entwickelte sich der Abend schliesslich mehr und mehr zu einer Diskussion über dieses Projekt. Dabei schienen die Anwesenden sich durch meine Kritik nicht beirren zu lassen. Im Gegenteil. Durch meine Kritik animiert begannen sie von dem Potential der Initiative und dem bewundernswerten Mut der Gründer der UPP zu sprechen und darüber nachzudenken, was man von der Schweiz aus alles für dieses Projekt tun könnte. Es war, als ob sie die UPP vor meinen übertriebenen Angriffen in Schutz nahmen. Dabei griff ich ja nur an,weil ich selbst so sehr liebte! Es kam, wie es kommen musste: Die Mauern meiner Abwehr und meiner Kritik wurden im Laufe des Abends immer mehr von der Begeisterung und der Anteilnahme unterspült, auf die mein Bericht über die UPP stiess. Schliesslich war mein Widerstand besiegt: ich wurde vom Saulus zum Paulus und habe die folgenden drei Monate damit zugebracht, aktiv für die PPU zu werben.

Kurze Karriere als Fundraiser und Netzwerker für die UPP

Der von meinem Bruder Thomas im April ins Leben gerufene Verein PPU-Switzerland - ursprünglich lediglich gegründet, um in der Schweiz ein Postcheck-Konto für die UPP einrichten zu können - wurde zum Zentrum für meine Networking und Fundraising Aktivitäten, denn, so meine Überlegung, Sponsoren brauchen einen verlässlichen Partner in der Schweiz, wenn ich sie dafür gewinnen will, ein projekt im Kongo zu unterstützen. Ich habe damit begonnen, Kontakte zu knüpfen, E-Mails zu schreiben und Menschen zu treffen. Während drei Monaten wanderte ich jeden Mittag von meinem provisorischen Domizil am Spalentorweg hinunter zur "Mitte",wo ich oft bis spät abends sass und arbeitete. Es war eine gute Zeit, und ich war immer wieder tief berührt, mit wieviel Interesse und Anteilnahme alte Freunde, aber auch mir bisher ganz unbekannte Vertreter aus dem Bereich der internationalen Zusammenarbeit auf mein verrücktes Projekt reagierten und wie bereit sie waren, durch die Vermittlung weiterer Kontakte, durch Tips, aber auch durch Geldspenden zu helfen.

Paralell zu dieser Networking und Fundraisingarbeit habe ich öffentlichen Staub aufgewirbelt. Häufig half der Zufall. So habe ich Anfang Juni in der Ecole d'Humanité einen Journalisten getroffen, der einen Bericht über meine Afrikaerlebnisse verfasst hat, der Ende Juni in der NZZ am Sonntag erschienen ist. Den Bericht hat ein Mitarbeiter von 20-Minuten gelesen, sodass ich auch dort kurz portraitiert wurde. Ich habe im Regionaljournal Basel über die UPP gesprochen - ein wirklich gutes Gespräch mit Vanda Düring -, und war am 15. August sogar zum ersten Mal in meinem Leben am Fernsehen zu sehen -, in der Telebar von Tele Basel. Auf dem Tisch von Kurt Aeschbacher liege ich bis heute zwei mal als potentieller Gast für seine bekannte Talkshow. Mein Gesprächspartner an der Telebar hat Lust, einen 30minütigen Dokumentarfilm über mich zu machen, und auch ein Radiojournalist hat sein Interesse an der UPP bekundet ... Mitte August haben wir die kleine, aber feine Webseite des Vereins PPU Switzerland online gebracht und einen deutschsprachigen Flyer für den Verein und die Uni kreiert, der uns in Zukunft als Werbematerial dienen soll. Mit einem anderen Flyer ("Abenteuer Welt - unterwegs mit dem weissen Stock") habe ich für mich selber zu werben begonnen, denn auch ich muss ja von etwas leben, weshalb also aus der Not nicht eine Tugend machen und hier bei uns über meine Abenteuer als "blinder Reisender" erzählen. Auf dem Flyer ist ein Bild von mir und Alain zu sehen - ein schönes Bild, wie viele sagen, das uns beide auf der Strasse vor der PPU zeigt. Ich weiss, es ist etwas kitschig dieses Spielen mit der eigenen Behinderung, aber man muss doch mit den Pfunden wuchern, die man hat, also weshalb nicht einmal mit dem Behindertenglöcklein klingeln. Sie bringt ja oft genug Nachteile, warum soll sie nicht auch einmal einen Vorteil bringen? Im übrigen nutze ich meine Auftritte auch immer dazu, für die PPU zu werben, und ich spreche wirklich gerne über all die Themen, die mir im Zusammenhang mit dem Reisen und meinem Engagement in Afrika wichtig sind.

Auf meine unsystematisch systematische Weise war ich wirklich fleissig, oder besser, waren wir wirrklich fleissig, und ich bin auch jetzt noch zufrieden mit dem, was wir in diesen kurzen Monaten erreicht haben.

Wolken über Uvira: Der Anfang des Endes

Im Verlauf des August kehrten meine alten Zweifel dann ziemlich plötzlich und mit grosser Wucht zurück. Auslöser war ein von Robert entworfener "Code de Conduite", über den er gerne mit mir und Flory sprechen wollte. Es war ein frommes Papier, durch dessen Unterzeichnung sich alle Mitglieder der Uni verpflichten sollten, sich durch ihr Verhalten innerhalb und ausserhalb der UPP als ihre würdigen RepräsentantInnen zu erweisen. Wir sollten stets gut gekleidet sein, nicht rauchen und trinken, und alle Konflikte im Geiste von Frieden und Toleranz lösen. Sex ausserhalb der Ehe ist nach diesem Codex ebenso verwerflich wie homosexuelle Beziehungen aller Art ...

Ich fand den Entwurf nicht besonders "schlimm". robert ist ein Mitglied der neuapostolischen Kirche. Da erwarte ich von ihm in einem ersten Anlauf nicht viel anderes. Franck, an den ich den Text informationshalber geschickt habe, reagierte dagegen heftig. Er fand den Entwurf nicht nur dumm, sondern den in ihm enthaltenen Geist auch höchst gefährlich. Das beeindruckte mich, denn Frank arbeitet seit über 20 Jahren als Consultant in Afrika, und wir hatten geplant, dass er auch unser Projekt während der nächsten Jahre begleiten würde. Der Beginn dieser Beratungsarbeit war für Ende Sepptember vorgesehen. Dann würde er - im anschluss an einen Auftrag im benachbarten Burundi - mit Flory, Robert und mir und der ganzen UPP eine Woche vor Ort arbeiten. Jetzt schrieb er, dass er nicht wisse, ob er sich unter diesen Umständen überhaupt noch mit uns treffen wolle. "Robert ist kein gewöhnlicher Student, und er ist nicht euer Gardien", so seine heftige Reaktion. "Du verschwendest deine Zeit und setzt deine Glaubwürdigkeit auf's Spiel,, wenn du weiter mit einem solchen Menschen arbeitest."

Wie gesagt: Mich alarmierte Roberts "Code de Conduite" nicht besonders; vielleicht unterschätzte ich die Gefahr, doch was er in dem Entwurf postulierte, entsprach ungefähr dem, was ich von ihm erwartet hatte. Für mich wurde die Sache allerdings ernst, als ich, durch die Aufregung um Roberts "Code de Conduite" veranlasst, begann, im Internet den Spuren von Flory's kirchlichem Engagement nachzugehen.

ich hatte immer gewusst, dass Flory Mitglied oder Gründer der Remac-Kirche ist, hatte mich aber nie näher für diese Kirche interessiert. Flory wirkte auf mich sehr offen und tolerant. Auch die Tatsache, dass er mir im März sagte, er wolle eigentlich vor allem als Missionar und nicht als Administrator einer Uni arbeiten, hat mich nicht gestört. In seinem Christentum schien es vor allem um Hilfsbereitschaft undb Nächstenliebe zu gehen; für konfessionelle Zänkereien schien er genauso wenig übrig zu haben wie ich. Weshalb mir also Sorgen machen. Es gab ein, zwei Momente in der Zeit unserer Zusammenarbeit, bei denen ich das Gefühl hatte, einen heiklen Punkt zu berühren. Das eine war seine Reaktion auf meine Frage nach der christlichen Symbolik in dem von ihm entworfenen Logo der UPP. Er lehnte diese Unterstellung ebenso schroff ab, wie meine Vermutung, dass er an einem Montag später gekommen sei, weil er noch an einer grossen Kirchenversammlung habe teilnehmen müssen. Beide Male schien ihm unbehaglich zu Mute, und ich hatte das Gefühl, dass es hier noch etwas zu klären gibt. Doch dringend schien mir die Sache nicht. Mit Roberts "Code de Conduite" änderte sich dies. Ich merkte bald, dass es ein Fehler gewesen war, der Sache nicht früher nachgegangen zu sein.

Unsere Recherchen zeigten, dass Flory enge ideologische und persönliche Verbindungen zu der in Greenwood, Indiana, USA beheimateten One Mission Society (OMS) hatte. Diese evangelikale Missionsgesellschaft half ihm bei der Finanzierung seines theologiestudiums in Südafrika, wo er auch das von OMS und anderen Organisationen koordinierte "Village Church Planting" Programm mit dem programmatischen Titel "into Africa" absolvierte.

Den Intentionen dieses programms gemäss gründete er nach der Rückkehr aus Südafrika 2001 oder 2002 eine eigene Kirche mit dem Namen MCC/REMAC (Missionary Churches of Christ / RESEAU DES EGLISES MISSIONNAIRES AFRICAINES DU CHRIST), welche inzwischen zum Dach für (je nach Lesart und Quelle) 60 bis 120 kleinen Kirchen geworden ist. Auf der Liste dieser Kirchen findet sich auch die "ferme d'espoir", die Primar- und Sekundarschule, die Flory nach der Rückkehr aus Südafrika als Beitrag zum Wiederaufbau des Kongo in Kiliba gegründet hat. Gebet, Bibeltreue, Disziplin und Mission sind zentrale Pfeiler von REMAC: "WE ARE AND WILL ALWAYS BE A CHURCH-PLANTING CHURCH ESPECIALLY IN THE VILLAGES OF AFRICA. 1 Church, 1 pastor and 1 Bible before 1 school and 1 clinic in every village of Africa is an on-going leitmotiv of our church", heisst es auf der Webseite von Remac.
Ob REMAC von der OMS oder einer ähnlichen Organisation aucch materiell unterstützt wurde oder wird, konnten wir nicht feststellen. Wir stiessen auf den entsprechenden Webseiten auch auf keine offen feindselige Äusserungen gegenüber Abtreibungsbefürwortern, Muslimen oder Schwulen und Lesben wie sie auf vergleichbaren Seiten und in vergleichbaren Organisationen zu finden sind. Doch selbst, wenn Flory und seine Kirche diesbezüglich tatsächlich toleranter sein sollten als andere, so war klar, dass wir nicht weiter für ein projekt werben konnten, deren Gründer und wichtigster Mitarbeiter ein solch doppeltes Gesicht zeigte! Fundamentalistischer Prediger und Missionar auf der einen Seite und Propagandist einer religiös neutralen, liberalen Uni auf der anderen Seite. Das würde in der Schweiz verständlicherweise zu vielen Fragen führen -, nicht nur danach, wie ein Mensch zwei für unser Empfinden so offensichtlich verschiedene Denkweisen unter einen Hut bringen und überzeuggend für zwei Projekte eintreten kann, die so verschieden voneinander sind wie Florys Kirche und die UPP. Man würde mit Recht auch nach den Besitz- und Machtverhältnissen in uvira fragen und wissen wollen, wie sicher wir denn sein können, dass unsere ganze Arbeit und alle Spendengelder letztlich wirklich der Uni und nicht zu zehn oder zwanzig oder fünfzig Prozent dem "Into Africa"-Programm der OMS oder einer anderen evangelikalen Unternehmung zu gute komme. Für mich privat war Florys Doppelgesichtigkeit zwar ein Rätsel; doch sie wäre für mich kein Grund gewesen, nicht mehr mit ihm zu arbeiten, denn ich hatte ihn, wie gesagt, bisher stets als sehr offen und tolerant erlebt. Doch sobald seine missionarischen Aktivitäten bekannt werden würden, würden sich all unsere Sponsoren und Kooperationspartner von uns verabschieden, und wir wären entweder ganz auf unsere eigenen Mittel angewiesen, oder wir müssten bei evangelikalen kreisen nach Unterstützung zu suchen beginnen. Beides - die völlige Isolation von westlichen GeldgeberInnen und KooperationspartnerInnen als auch die Abhängigkeit von christlichen SponsorInnen - kam für mich nicht in Frage. Wenn ich in der begonnenen Art weiterarbeiten wollte - und das wollte ich! -, so mussten wir unbedingt Klarheit in die Situation bringen.

Ich erklärte Flory und Robert deshalb Ende August in einem langen Mail, welche Fragen Florys kirchliches Engagement in den Kreisen aufwerfe, welche sich im Westen für ein Projekt wie die UPP interessierten, und wie wichtig es im Hinblick auf meine weitere Mitarbeit sei, diese Fragen zu klären.

Die plötzlichen Zweifel an unserem Projekt veranlassten mich endlich auch einmal genauer auf die sachlichen Leistungen von Flory und Robert zu schauen. Dabei stellte ich bei der Durchsicht unserer zahlreichen, seit April 2011 geschriebenen Mails überrascht fest, wie oft ich mich mit nichtssagenden Antworten und Vertröstungen zufrieden gegeben hatte, egal, ob es um konkrete technische Fragen oder um prinzipielle Stellungnahmen ging.

Nach dem, was Flory und Robert geschrieben haben, haben sie das erste Jahr gut zu Ende gebracht, d.h. sie haben alle vorgeschriebenen Kurse mitsamt der dazugehörigen Prüfungen durchgeführt. das war möglich, weil wir von der Schweiz zwei oder dreimal Geld geschickt haben. Ohne dieses Geld wäre das Ende des ersten Jahres der UPP vermutlich chaotischer gewesen, doch wahrscheinlich hätte man sich auch irgendwie durchgeschlängelt. Man hat Programm nach Vorschrift gemacht: Von Abels Stiftungsprojekt und den anderen spannenden, dem Geist der UPP entsprechenden Initiativen, von denen wir vor meiner Abreise im April gesprochen hatten, habe ich seither genauso wenig gehört, wie von der Arbeit der Bibliotheksgruppe oder der Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit. Die Schulversammlungen hatte man im Juli wegen des Prüfungsstress und allgemeiner zeitlicher Überlastung offenbar vorübergehend sistiert, und auch im Bereich des Computerlabs war seit Mai nichts mehr geschehen. Dabei hatten wir in der Schweiz inzwischen 16 gute PCs mitsamt leistungsfähigem Drucker und allem zur Einrichtung eines guten Netzwerks notwendigem Zubehör gefunden; Gilles, der sich bereits seit Monaten unermüdlich für die UPP engagiert und mich an allen Ecken und Enden unterstützt hatte, war dabei, auf allen Computern Ubuntu zu installieren; das DEZA hatte zugesagt, alles Material im September kostenlos nach Bujumbura oder sogar nach uvira zu transportieren, und einer meiner Neffen wäre bereit gewesen, im Oktober oder November für vier Wochen nach uvira zu kommen, um im Rahmen einer Fortbildung für Interessenten innerhalb und ausserhalb der Uni das geplante Netzwerk aufzubauen. Auch andere hatten ihre Bereitschaft signalisiert, mir im Laufe des kommenden Jahres für einige Zeit bei der Arbeit vor Ort zu helfen ...

Je genauer ich den Mail-Verkehr der letzten Monate prüfte, desto mehr wurde mir bewusst, wie gross die Diskrepanz zwischen den Leistungen von Flory und Robert und dem war, was wir in der Schweiz inzwischen auf die Reihe gebracht hatten. Ich hätte es eigentlich wissen können, doch ich hatte es vielleicht unbewusst ausgeblendet, weil ich unsern Traum nicht stören wollte. Jetzt, wo ich genau hinschaute, war die Bilanz mehr als ernüchternd: Ich habe in uvira Bewunderer, wohlwollende Helfer, Kinder und Schmeichler, StudentInnen und Jonglöre nur keine wirklichen Mitarbeiter. Sie reden gern, sagen gern ja, versprechen gern alles, aber sie leisten unterm Strich sehr wenig oder sagen wir so: sie leisten unterm Strich sehr wenig was mit dem, von dem wir überm Strich reden und was wir offiziell vereinbaren zu tun hat. Mein Glaube an die Realisierbarkeit unseres Projektes war wiedr dort angelangt, wo er im April und Mai gewesen war. Nur dass ich jetzt auch an dem Boden zweifelte, auf dem unsere Zusammenarbeit gründete.

Flory, Robert, Frank und ich hatten vereinbart, uns in der letzten Septemberwoche zu treffen, um über unsere bisherige Arbeit und die Aufgaben und Ziele der nächsten Monate zu sprechen. Frank hatte in der Zeit, wie erwähnt, in Burundi zu tun, und er war bereit, eine Woche kostenlos mit uns zu arbeiten. je nach Verlauf unserer Gespräche wollten wir auch die übrigen MitarbeiterInnen der Uni und die Studierenden mit in diese Standortbestimmung einbezihen. Ich wollte schon eine Woche vorher in Uvira sein, um die dortigen Menschen zu begrüssen, und zu hören, was seit April geschehen sei. Ich hatte meinen Flug bereits gebucht, doch angesichts der neuen Lage änderte ich meinen Plan. Ich wollte nicht eine Woche in uvira verbringen und so tun, als ob alles gut sei. Ich wollte nicht Konversation betreiben, während mich im Grunde nur die Frage beschäftigte, ob ich weiter für die UPP würde arbeiten können. Es gab auch einige Freunde, die mich sehr direkt davor warnten, ohne weiteres nach uvira zurückzukehren, denn wenn man dort merke, dass ich (als ihr wichtigster Geldbeschaffer) dabei sei, mich aus ihrem Projekt zurückzuziehen, könnte die dortige Freundlichkeit leicht in Bösartigkeit umschlagen. Die Situation könnte nicht nur menschlich unangenehm, sondern auch gefährlich werden. In der Demokratischen Republik Kongo seien Menschen nicht zimperlich, wenn man damit zehn oder zwanzig tausend Dollar gewinnen könne. Es brauche dazu keine grossartige entführung. Ein kleiner Deal mit den örtlichen Behörden würde ausreichen: Ein Polizeibeamte, der gewisse Unstimmigkeiten in meinem Visum feststellte, die eine vorübergehende Inhaftierung notwendig machten ..., eine Sache von ein paar Tagen, die sich immer weiter hinzieht, bis jemand mir sagt, dass man dieses ärgerliche Missverständnis mit fünf oder zehn oder zwanzig tausend Dollar regeln könnte -, eine ungute, unerfreuliche Lösung natürlich, doch angesichts der Trägheit der Behörden und angesichts (das würde nur geflüstert) der Korruption der Polizei ... Man würde Andeutungen machen, würde mich bitten, dem Frieden zu Liebe einzulenken, nicht auf meinem Recht zu bestehen, man würde bedauern. Ich sässe isoliert, könnte aus unerfindlichen Gründen nicht telefonieren und nur immer dieselben zwei, drei Menschen sehen, die für ein paar hundert Dollar mitspielen bis das Geld schliesslich überwiesen ist, und man mich in aller Freundlichkeit aus der Haft entlassen würde.

Ich glaube im Grunde nicht an solche Szenarien, und mir widerstrebt es Flory, diesen sympathischen und offenen Menschen, in mir drinn einfach so zu einem Schurken zu machen, doch ich weiss auch, dass es genau solche Geschichten gibt, und ich bin nicht immun gegen die schleichende Angst, die sich bei dem Gedanken an diese Möglichkeit in mir breit macht. Ich beschliesse deshalb, statt nach Uvira zunächst nach Butembo in Nord-Kivu zu fahren, um mir Alains Schule anzusehen.

Zwischenspiel in Nord-Kivu. Alain und die Ecole de l'Unité

Alain ist seit Mai nicht mehr an der UPP. Er hat auch nicht, seinem damaligen Traum folgend, an einem anderen ort mit einem Informatikstudium begonnen. Stattdessen hat er auf Drängen seiner Mutter die Leitung der von ihr 1996 gegründeten Ecole de l'Unité übernommen. Er hat mir in uvira öfter von dieser Schule erzählt. Er war dort selbst bis zur 10. oder 11. Klasse zur Schule gegangen. Damals habe sie zu den Besten in der ganzen Provinz gehört. Sie sei bekannt gewesen für ihre Theaterworkshops und ihren guten Englischunterricht. Sein ganzes Englisch habe er dort gelernt. Dann aber sei die Schule in eine Krise geraten, und jetzt könne seine Mutter offenbar nicht mehr.

Als ich uvira verliess, stand Alains Entschluss noch nicht fest. Er wolle zuerst mit der Mutter sprechen. Am Telefon liesse sich die Sache nicht wirklich klären. Dann im Mai hatte er mir per Mail mitgeteilt, dass er jetzt in Butembo sei. Er versuche zu retten, was zu retten sei. Die Primarschule funktioniere noch einigermassen, doch die Sekundarschule sei in völliger Auflösung. Der Leiter der Sekundarschule werbe hinter seinem Rücken die eigenen Schüler und Schülerinnen ab und führe sie anderen Schulen zu, und die Lehrer beklagten sich über alles. Im Juli hatte er mich um finanzielle Hilfe gebeten: Die Regierung würde die Schule schliessen, wenn sie nicht bis Ende Monat die Wellblechdächer ihrer beiden Schulbaracken ausbessern und einige andere Reparaturen vornehmen würden. Das ganze würde sieben bis achthundert Dollar kosten. Ich fragte nach seiner Mutter, und danach, in wie fern sie helfen könne. Er sagte, die Mutter sei gesundheitlich ziemlich amm Ende; sie habe offene Stellen an ihren Füssen und Beinen,die seit Monaten nicht heilten. Sie leide schon lange an Diabetes, doch sei es bisher immer gegangen. Diesmal scheine es aber schlimm. Ich denke an Alain und seine Hilfsbereitschaft während meiner Zeit in Uvira; ich stelle mir vor wie er, gerade einmal 22 oder 23 Jahre alt, die Schule seiner Mutter zu retten versucht, während seine Mutter krepiert. Ich denke an mein bankkonto und spüre meinen Unwillen. Wieder soll ich helfen, wie damals in Gibo, als die blinde Frau mir von ihren gestohlenen Ziegen erzählte, oder wie in Uvira, als Jaques mir von den Menschen in den Bergen erzählte, deren Dorf von plündernden Soldaten niedergebrannt worden war, oder als Bede mir von den 40 Witwen erzählte ... Ich will nicht; ich habe auch nicht so viel Geld, aber nichts zu tun ist auch keine Opttion. Ich sage Alain deshalb, ich würde versuchen, das Geld für die Schule aufzutreiben, dann hänge ich auf. ich kann nicht mehr. Ich ertrage all die Not nicht. Es ist zuviel - zuviel für mein Porte-Monaie, aber auch zuviel für meine Seele.

ich weiss, ich hätte Distanz bewahren und ruhig und sachlich bleiben sollen, hätte ein paar kritische Fragen stellen und mir einige Unterlagen schicken lassen sollen, bevor ich ihm irgend etwas verspreche. Ich weiss, es wäre professioneller und besser gewesen! Doch als er sagte, er könne die Schule nicht untergehen lassen. Sie sei der Stolz seiner Mutter, und sie habe so viel für ihn getan, damals, als sie noch gesund war und es der Schule gut ging, da wusste ich: jetzt ist nichtt Zeit für diese Fragen! Jetzt nicht. vielleicht später.

Ich rufe einen Freund an und schildere ihm die Situation. Ich frage ihn, ob er helfen könne; ich kann und will nicht immer wieder in die eigenen Taschen greifen, solange ich so wenig verdiene wie zur Zeit. Ein paar Tage später ruft er zurück: Er hat das Geld gefunden. Seither habe ich zusammen mit einigen Freunden bereits mehrmals Geld nach Butembo schicken können, und im September, als klar war, dass ich Alains Schule besuchen würde, hatten wir begonnen, einiges dort nicht oder nur schwer erhältliche Schulmaterial - vor allem Karten, Atlanten, Nachschlagewerke und Wörterbücher - zu sammeln, um es mit nach Butembo zu nehmen.

Am Sonntag, dem 18. September breche ich mit einem vollen Rucksack und zwei roten, je 25 kg schwweren Schalenkoffern nach Frankfurt auf. Kasaia begleitet mich und übergibt mich dort einer Angestellten der Ethiopian Air. Ich fliege via Bujumbura nach Kigali. Dort nimmt Alain mich und mein Gepäck am Montag Nachmittag in Empfang. Auf den Koffern prangen zwei von Barbara in letzter Minute angefertigte Schilder mit dem Aufdruck: "Swiss Aid for Butembo". Unsere Hoffnungen waren in Erfüllung gegangen. ich hatte keine Probleme mit dem Zoll, und auch die verlangten Gebühren für mein massives Übergewicht hielten sich mit 90 euro alles in allem in Grenzen.

Am Dienstag Nachmittag waren wir in Goma, der unmittelbar hinter der Rwandischen Grenze gelegenen Hauptstadt der unruhigen Provinz Nord-Kivu. diesmal war es nicht leicht gewesen, die beiden Koffer durch den Zoll zu bringen. Ichh sass die meiste Zeit im Haus einiger Menschen, die auf mich aufpassen sollten, während Alain sich im dichten Gewühl um die Zöllner und den Transport des Gepäcks kümmerte. "Es wird zu schwierig, wenn ein Weisser in der Nähe ist" erklärte er. Nach einer Stunde war er zurück. Es sei alles gut gegangen. Die Koffer seien im Hotel. Schon in Kigali war es Alain nicht leicht gefallen, einen Schlafplatz für uns zu finden. Dass wir jetzt in einem Hotel und nicht bei irgend welchen Freunden oder Verwandten von Alain schlafen, erstaunt mich etwas. Möglicherweise sind auch seine Beziehungen in Goma nicht so gut,wie ich gedacht habe. O, das Ganze sei für ihn neu, sagte Alain. Er sei zum ersten Mal in Kigali gewesen, und er habe bisher noch nie die Verantwortung für einen weissen Besuch und so viel Schulmaterial gehabt.

Am Dienstag Abend sind wir bei seiner Mutter eingeladen, und am nächsten vormittagh geht's weiter nach Butembo. Wir haben für je 60 Dollar zwei Plätze in einem solid aussehenden Jeep ergattert. Mit uns fahren noch zwei Passagiere. Die Fahrt soll rund sechs Stunden dauern.Tatsächlich brauchen wir für die 300 km bis Butembo am Ende mehr als anderthalb Tage.

Bereits eine knappe Stunde ausserhalb Gomas haben wir eine erste Reifenpanne. Wir haben zwar einen Reservereifen, doch scheint er noch kaputter als der Reifen, der jetzt geflickt wird. Nach einer Stunde geht die Fahrt weiter, doch bereits nach 10 Minuten gibt's einen ordentlichen Knall und ein anderer Reifen ist geplatzt. Er ist offenbar nicht mehr zu retten. Der Fahrer berät sich am Handy mit Goma. Nach anderthalb Stunden sind zwei Männer mit einem Motorrrad und einem neuen Reifen da, und nach einer weiteren halben Stunde sind wir wieder flott gemacht. Inzwischen ist es allerdings Nachmittag geworden, und unser Jeep scheint auch nicht mehr so ganz bei Kräften. Nach zwei weiteren Pannen ist klar, dass wir im Virunga Nationalpark werden schlafen müssen. Wir kommen gegen Sechs oder Sieben Uhr abends bei einer kleinen Siedlung an, kein eigentliches Dorf, sondern die Hütten einiger Parkwächter, wie ich zu verstehen glaube. Man kann nichts zu essen kaufen. Die Menschen scheinen nicht auf Besuch eingerichtet, und von der üblichen kongolesischen Gastfreundschaft ist nichts zu merken. Es liegt eine Spannung in der Luft, die ich nicht verstehe. Schliesslich hat Alain einen Teller Reis für mich aufgetrieben. Er macht sich Sorgen, wo wir schlafen werden. ich sage, irgendwo draussen oder in einer Hütte. ich habe meinen Schlafsack dabei. Er will jedoch nicht, dass ich in einer der Hütten schlafe. Er sagt etwas von Schmutz und von tierchen, vielleicht fürchtet er, dass es hier Läuse gibt, und draussen schlafen ist erst recht keine Option. Am Ende hat er für sich und die beiden anderen Passagiere etwas gefunden. ich schlafe mit unserem Chauffeur im Auto. Der Chauffeur besteht darauf, dass ich die hinteren Türen verriegle. Ich bin etwas traurig darüber, dass unsere Übernachtung in dem weltberühmten Virunga National Park so unromantisch verläuft. Als ich mitten in der nacht einmal aufwache kann ich der Versuchung nicht widerstehen: Ich will die Autotür öffnen, um wenigstens ein Ohr voll Natur aufzunehmen, doch beim ersten Geräusch schreckt der Chauffeur auf: "O non non, Monsieur. Non! Danger!" Bis heute weiss ich nicht, ob er Angst vor Geistern oder unwillkommenem Tierbesuch hatte, oder ob er sich vor den Parkwächtern oder anderen in der Dunkelheit herumlungernden Menschen fürchtete. Doch er war so verstört, dass ich nicht weiter fragte, sondern die Tür sofort wieder zugemacht und brav verriegelt habe.

Am folgenden Morgen brechen wir früh auf. Zunächst scheint alles gut. Doch nach zwei Stunden beginnt unser Motor erneut zu schwächeln. Es geht phasenweise nur noch im Schneckentempo voran. Dann scheint sich die Lage wieder zu normalisieren. Kurz nach Mittag ist's dann aber endgültig aus. Es klingt als ob der Motor sich selber aufzufressen beginnt. Es sind noch rund 80 Kilometer bis Butembo. Unser Fahrer telefoniert mit einem Mechaniker, der am nächsten Tag kommen will. Er verspricht, uns unsere beiden Koffer zu bringen, sobald der Jeep wieder fahrtüchtig sei. Alain und ich verabschieden uns von den anderen Passagieren und dem Fahrer. Ein Motorradtaxi bringt uns bis zum nächsten Dorf.

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Alain, ich und der Fahrer setzten uns aufs Motorrad und los geht's!

Dort finden wir einen anderen Fahrer und nach einer Weile wieder einen anderen. Es scheint, als ob die lokalen Taximen ungern lange Strecken fahren. Einmal gehen wir eine halbe Stunde zu Fuss bevor wir ein weiteres Motorrad finden. Gegen vier Uhr nachmittags überqueren wir den Äquator -, ein besonderer Augenblick!

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Am Äquator


Die Temperaturen sind erstaunlich angenehm. Hie und da weht eine kleine Brise. Ich weiss nicht genau, wie es hier aussieht. Wir sind die letzte Stunde immer wieder sanft und ohne Motor bergab gerollt; Dabei wurde die Landschaft immer offener. Es ist, als ob wir jetzt von weiten flachen Hügeln umgeben sind, die sich bis an den Horizont hinziehen. Butembo beginnt einige Kilometer jenseits des Äquators. Die Stadt liegt auf rund 1.800 meter über Meer und zählt einige hunderttausend Einwohner; sie ist weitläufig angelegt und besteht vorwiegend aus einfachen eingeschossigen Häusern und Hütten.

Gegen fünf Uhr sind wir in der Schule. Alain zeigt mir einiges, und ich versuche mir einen Eindruck vom Schulgelände und den Räumlichkeiten zu machen. Alain und ich sprechen viel über die Schule und darüber, was er als Schulleiter in den nächsten Wochen und Monaten tun will. Ich lerne einige seiner Lehrkräfte kennen; spreche mit einem älteren Schüler, während ein Mädchen dabeisitzt und aufmerksam zuhört. Meine Eindrücke sind zufällig und vage; nur weniges, so etwa der Morgenkreis am Samstag vor Schulbeginn, oder das Pathos, mit dem der Präfekt der Sekundarschulabteilung mit mir über kongolesische Politik spricht, prägen sich deutlicher ein.

Am Freitag kommt Anne Estelle, eine ca. 35jährige Lehrerin aus Frankreich, die für ein Jahr in Butembo ist, vorbei. Alain hat sie einige Wochen zuvor in einem internetkaffee gesehen und angesprochen. Er will, dass ich sie kennenlerne, denn er hofft, in den nächsten Monaten vielleicht regelmässig mit ihr zusammenzuarbeiten. Am Freitag abend ruft unser Fahrer an. Sein Jeep ist wieder flott. Er will unsere beiden Koffer am nächsten Vormittag vorbeibringen. Ich bin skeptisch, doch am Samstag fährt er tatsächlich bei uns vor und liefert die beiden dicken Dinger wohlbehalten ab. Wir inszenieren eine kleine Übergabe; am Nachmittag hat Alain für mich und Anne Estelle eine kleine Party organisiert.

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Martin öffnet die Koffer!

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Die Koffer sind geöffnet.


Wir essen gut und diskutieren. Dabei äussert er sich unerwartet hart und in sehr pauschaler Weise über das, was die Weissen in Afrika tun. Wir geraten ungewollt in einen heftigen Disput. Schliesslich frage ich ihn, weshalb er, der sonst so sanftmütig und in seinem Urteil so differenziert sei, bei diesem Thema so undifferentziert werde. Aus seiner Antwort schliesse ich, dass er Weisse tatsächlich sehr oft als hochmütig und unnahbar erlebt. "Sie kommen und treffen sich mit irgendwelchen Ministern, fahren in ihren dicken Allradantriebwagen durch die Gegend und machen Millionen auf Kosten der afrikanischen Bevölkerung", sagt er. Niemand interessiere sich tatsächlich für die gewöhnlichen Menschen. Man richte und verfüge über sie, belehre sie und weise sie zurecht - auch die NGOs mit ihrem heuchlerischen Gerede von Menschenrechten und Pressefreiheit. "Sie mischen sich in Dinge, die sie nichts angehen!" - Alains Verbittterung überrascht mich; sie passt irgendwie nicht zu ihm und doch ist sie da. Ich merke, wie wenig ich ihn im Grunde kenne. Ich weiss kaum, was er in seinem Leben bisher erlebt hat, und wie die Welt für ihn ausschaut! Ich erlebe ihn vor allem als schnellen und kooperativen Denker, auch hier in seiner Schule.

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Martin, einige Erwachsene und die Schüler posieren draussen für ein Gruppenfoto

Am Sonntag fahren wir früh um sieben zum flughafen. Es ist ein einfaches Feld mit ein paar Baracken. Wie die meisten kongolesischen Flughäfen zu klein für internationale Flüge, für den innerkongolesischen Verkehr aber von grosser Wichtigkeit. Hier soll um Viertel nach Acht ein Flug nach Goma starten. Von dort will ich per Bus weiter nach Kigali, wo ich um halb sechs abends einen Flug nach Bujumbura habe. Ich habe mich am Freitag für den relativ teuren Inlandflug entschieden, da ich sonst schon am Samstag wieder hätte gehen müssen. Zudem braucht mich Alain auf diese Weise nicht zu begleiten, was viel Zeit und letztlich auch Geld spart. In Goma wird sein Vater sich um mich kümmern.

Um Viertel nach Acht ist noch kein Flugzeug zu sehen. Der Mensch, der eine Stunde zuvor meinen Pass und mein Ticket begutachtet hat, beruhigt uns. Das Flugzeug wird kommen. Es habe Probleme mit dem Benzin gegeben, irgend ein Anschlag oder Umfall.

Um neun kommt eine Maschine. Wir stehen alle auf dem Flugfeld. Eine Dame verliest die Namen der Passagiere. Die Gruppe der Wartenden wird immer kleiner, doch ich werde nicht aufgerufen. Schliesslich steckt die Frau die Liste ein und geht. Ich dränge mich vor,, will unbedingt auf diesen Flug. Ein Beamte hält mich fest und erklärt mir, es komme noch ein zweites Flugzeug. Ich solle ruhig warten. ich sage, ich müsse dringend nach Goma. Er sagt, ich müsse warten - nichts zu machen. Man schliesst die Tür des kleinen Vogels, und drei Minuten später ist er weg. Ich bin sauer, bis jemand bemerkt, dass dies der Flug nach Beni - ich glaube es war Beni - war. Ich verstehe nicht, weshalb der Beamte mir dies nicht gesagt hat und weshalb die Dame mit der Passagierliste auch nichts darüber verlauten liess. Auch Alain ist etwas genervt, denn nach wie vor scheint niemand zu wissen, wann der Flug nach Goma denn nun wirklich startet und weshalb hier alles ins Stocken geraten ist. Gegen elf kommt ein zweites kleines propellerflugzeug. Endlich. Der Flug nach Goma. Abshied von Alain und rein in die Kabine. Kurz nach zwölf sind wir in Goma. Die nächsten Stunden sind ein Balanceakt zwischen Stress und Gelassenheit! Ich muss so schnell wie möglich zum Bus. sonst hab ich keine Chance den Flug in Kigali zu erreichen. Damit würde der ruhige Abend mit Frank in Bujumbura ins Wasser fallen, und ich müsste das geplante Meeting mit Flory und Robert am nächsten Tag verschieben und und und ... Da kämpft also der zielstrebige Europäer mit den Realitäten des afrikanischen Lebens. Die Dame am Zoll versteht, dass ich es eilig habe. Sie blättert meinen Pass durch. Ein Kollege kommt. Sie schauen sich den Pass zusammen an. Das ganze dauert vielleicht drei Minuten. Doch mir kommt es vor als ob die beiden schon zehn Minuten über meinem Pass brüten. Ich versuche noch einmal zaghaft zu mahnen, will aber auch nicht drängen, denn drängen ist auffällig und das könnte wiederum Zeit kosten. Schliesslich schiebt die Frau mir den Pass zu und sagt: alles in ordnung.

Vor dem Flughafen steht Alains Vater und irgend ein Onkel - ich glaube er hiess Jimmy. Ein paar Tanten und Cousinen sind auch da. Sie sitzen gemütlich unter einem schattigen Baum und begrüssen mich mit viel ah und oh. Ich weiss nicht, ob sie extra meinetwegen gekommen sind, oder ob sie jeden Vormittag hier sitzen, doch sie freuen sich ganz offenkundig über mein Kommen. Alains Vater stellt mich vor und lädt mich ein, Platz zu nehmen. Ich erkläre ihm, dass wir leider keine zeit hätten, da ich sonst meinen Flug in Kigali verpasse. Ich hatte gehofft, dass er mich sogleich in ein Taxi verfrachten würde, denn die Busse nach Kigali fahren in Gisenyi, auf der anderen Seite der kongolesisch-rwandischen Grenze. Meine Erklärungen beeindrucken ihn jedoch nicht. Er schiebt mir einen Stuhl hin und bittet mich, Platz zu nehmen. Die Tanten würden so gerne ein wenig mit mir plaudern, und meinen Flug würde ich keinesfalls verpassen! Da sei noch viel Zeit. Ich bleibe stehen und erkläre noch einmal, dass wir unbedingt sofort los müssten. Was ich tue ist extrem unhöflich, ich weiss es, doch ich will meinen Flug auf keinen Fall verpassen. Dass es aus welthistorischer Sicht und überhauptt vielleicht mehr bringen würde, wenn wir unsere Flüge öfter sausen liessen, ist mir in diesem Moment egal. Jetzt schaltet sich Jimmy ein. Er begreift besser, weshalb ich so unruhig bin. Er fragt, wann mein Flug in Kigali sei und beginnt zu rechnen. Dann stimmt er mir bei. Wir müssten tatsächlich sofort weiter, denn wer weiss, wie schnell wir durch die Passkontrolle bei der grossen Barriere kommen, und danach müssen wir in Gisenyi noch einen Bus finden. Ja, sagt er, er komme mit. Er wolle auch nach Kigali, und er werde mich begleiten. Um halb zwei sitzen wir glücklich im Bus, der - Wunder über Wunder - gleich danach losfährt.

Ich habe die Strecke von Gisenyi nach Kigali einige Tage zuvor in umgekehrter Richtung zurückgelegt und weiss deshalb, dass die Fahrt mindestens drei bis vier Stunden dauert. Es sieht also nicht gut aus, doch im Bus ist man allgemein der Ansicht, dass ich meinen Flug auf jeden Fall erreichen würde. Alle sind sich darin einig, auch wenn niemand weiss, wann mein Flug geht. Wir sind in Afrika: Man kümmert sich um meine Seelenruhe und meine Heiterkeit. Es soll mir gut gehen -, das ist viel wichtiger als die Einzelheiten irgendwelcher Verabredungen oder die Pläne einer anonymen Fluggesellschaft. Man richtet sich instinktiv nach der Devise, "und was nützte es, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme Schaden an seiner Seele". Erst als sich meine Abflugszeit herumspricht, beginnen einige zu rechnen und mit dem Rechnen kommen die Zweifel! In drei Stunden, also so um halb fünf oder fünf könnten wir in Kigali sein, aber Kigali, das sei ja nicht der Flughafen. Eben sage ich und fühle mich endlich verstanden! Wir scherzen und lachen weiter, und gegen halb fünf sind wir

tatsächlich in Kigali.

Kigali ist noch nicht der Flughafen, doch mit etwas Glück könnte es noch reichen. Jimmy und einer unserer Mitreisenden, der irgendwie vom Jagdfieber gepackt wurde, verhandeln bereits mit einem Taxifahrer. Bald ist auch dieser von unserem Eifer angesteckt. Während er Gas gibt plant er die Route: "La plus directe et rapide. On peux pas rater l'avion!" Irgendwo unterwegs steigt Jimmy aus. Der andere, ein in Rwanda lebender kongolesischer Anwalt, hat versprochen, mich bis zum Flughafen zu begleiten. "O, natürlich, Monsieur Martin. Kein Problem. Ich wohne dort ganz in der Nähe".

Um zehn nach fünf sind wir am Flughafen. Ein langer Türsteher erklärt bedauernd, dass der Flug leider bereits weg sei. Ich sage ohne viel Nachdenken und ohne grosses Pardon, dass das nicht sein könne. "Der Flug ist noch nicht weg. Das Flugzeug fliegt um 17:35. wir haben also noch 25 Minuten." Nach einigem hin und her schaltet sich eine Dame ein. Ja, das Flugzeug sei noch da, aber der Checkin-Schalter sei zu. ich könne erst morgen fliegen. Ich sage, dass ich völlig abgebrannt sei, dass ich mich in Kigali nicht auskenne, dass ich ganz dringend auf diesen Flug müsse, dass ein Freund in Kigali auf mich warte, dass ich ... Sie greift zu ihrem Handy und redet kurz. Dann sagt sie, "okay, they will check you in." Eine halbe Stunde später sitze ich im Flugzeug und entspanne mich. ich denke an Jimmy. ob Alain diesen Onkel für mich organisiert hat? Ohhne ihn hätte ich den Flug jedenfalls nicht mehr ggekriegt. ob Alain ihn für mich mobilisiert hat, weil er seinem etwas dandyhaft verspielten Vater nicht traute? ob Jimmy wirklich nach Kigali wollte, oder ob er mir zuliebe mitgefahren ist? Ob Alain ihm dafür Geld geben wird? Ich weiss es nicht. Ich weiss überhaupt wenig davon, welche Reaktionen mein Unterwegssein in meinem Umfeld auslöst - im Vorfeld oder wenn ich schon längst wieder fort bin. Ich nehme mir vor, Alain einmal nach dem zufällig aufgetauchten Jimmy zu fragen. Dann denke ich an Frank und an den nächsten Tag ...

Good bye UPP: Krisengespräch in Budschumbura und letzter Bbesuch in uvira

Am Montag dem 26. September 2011 vormittags um 10:00 sitzen wir um einen Tisch im Garten des französischen Kulturzenntrums von Bujumbura. Wir, das sind Robert, Flory, ich und Frank, der uns als professioneller Moderator und Berater bei dem Gespräch beisteht. Ich versuche noch einmal zu erklären, was ich Flory und Robert bereits einen Monat zuvor schriftlich erklärt habe. Wirr reden zwei Stunden. Frank greift hie und da ein, versucht zu klären und zu helfen. Doch am Ende sind wir keinen Schritt weiter. Flory begreift nicht oder will nicht begreifen, weshalb seine Rolle als christlicher Missionar und Kirchenpflanzer für mich im Widerspruch mit seiner Rolle als Gründer und Vice-Rekttor einer liberalen Uni steht. Er begreift auch nicht, weshalb er sich für die politischen Hintergründe von Bewegungen wie dem Church Planting Movement oder der one Mission Society und für die Fragen interessieren sollte, die diesbezüglich in Europa gestellt werden. Ich weiss nicht, ob er bewusst mauert und nicht verstehen Will, oder ob er tatsächlich nicht begreift, was ich ihm zu erklären versuche. Robert will den Konflikt entschärfen und schlägt vor, dass Flory sein Amt als vice-Rektor vielleicht aufgeben und sich ganz aus der Uni zurückziehen könnte. Ich höre ihn, doch scheint mir der Vorschlag nicht praktikabel, solange ich nicht weiss, mit wem ich es im Fall von Flory eigentlich zu tun habe. Unser Gefühl, einen anderen zu kennen und ihn deshalb auch einschätzen zu können, besteht letztlich vielleicht immer zu 40 oder gar 80% aus Interpretationen und nicht weiter überprüften Annahmen. Aber die Masse dieser Annahmen bilden dennoch ein vertrauenswürdiges Fundament für eine Beziehung. Flory wird für mich jedoch immer ungreifbarer. Er ist alles und nichts zugleich. Er ist freundlich, lächelt, reagiert auf meine Fragen, erklärt oder versucht zu erklären, doch eigentlich habe ich keine Ahnung, was er tatsächlich denkt und fühlt. Ein völliger Rückzug aus der Uni? Nein, das ist keine Option, denn selbst wenn Flory zustimmen und sich offiziell von der Uni trennen würde, bleibt er die dominierende Figur vor Ort, und wie weiss ich, ob er wirklich will, ob er sich freiwillig und ohne Resentiment zurückzieht? Wie können wir all die menschlichen und rechtlichen Fragen klären, die es auf so einem Weg zu klären gibt, wenn ich den anderen nur als freundlich gelassene Fassade erlebe?

Als wir uns nach mehr als zwei Stunden trennen ist die Sache für mich eigentlich klar: es geht nicht. Ich stehe vor einer verschlossenen Tür, die ich nicht öffnen kann, und selbst wenn ich sie öffnen könnte, und wir in ein wirkliches Gespräch über die angesprochenen Probleme und Fragen kämen, wäre die Situation vermutlich zu kompliziert und unsicher um unsere Zusammenarbeit in der bisherigen Weise fortzusetzen. Wir müssten viel, von mir aus gesehen zu viel Energie auf die Rekonstruktion unserer Beziehung und die Wiederherstellung des früheren Vertrauensverhältnisses verwenden. Ich lasse die Frage noch einen Tag offen, lese, bearbeite irgendwelche Mails und verbringe ein paar friedliche Stunden mit Frank, doch dann, am folgenden Nachmittag, teile ich Flory und Robert in einem offiziellen Mail mit, dass ich beschlossen habe, mein Amt als Rektor der Université de la Paix per sofort niederzulegen, und mich bis auf weiteres ganz aus der Uni zurückzuziehen. Robert reagiert betroffen. Er möchte, dass ich bleibe, dass ich mir die Sache noch einmal überlege, dass ich sie nicht einfach so im Stich lasse. Florys Antwort ist gelassen und freundlich: er bedaure meinen Entscheid, doch akzeptiere er ihn natürlich. Er dankt mir für alles, was ich in den letzten Monaten für die Uni getan habe, und hofft, dass die Verbindung zwischen mir und der Uni auch nach meinem Rückzug nicht abreissen werde. Für ihn sei ich jedenfalls nach wie vor ein Freund der UPP und einer ihrer wichtigsten Helfer. Roberts Reaktion kann ich verstehen. Doch Florys scheinbar überlegene Reaktion ist wie eine weitere Bestätigung dafür, dass die Verbindung zu diesem Menschen abgebrochen ist. Er kann ein grosser Weiser sein, der unberührt in der Brandung des Lebens steht. Er kann ein kühl rechnender Spieler sein, der weiss, wann eine Partie verloren ist -, ich weiss es nicht, doch ich weiss, dass eine weitere Zusammenarbeit mit ihm unter diesen Umständen für mich endgültig unmöglich ist. Schade - schade - schade.

Obwohl das Ende der Geschichte nicht ganz überraschend kam, kam es doch sehr schnell und trifft mich in gewissem Sinn unerwartet. ich habe keinen Plan B; ich weiss nicht was ich jetzt tue. Frank will am Mittwoch Abend zurück nach Paris. Ich will auch weg, doch will ich nicht gehen, ohne wenigstens noch einmal in uvira gewesen zu sein. Ich habe Flory und Robert in meinem Mail bereits gefragt, ob es für sie okay sei, wenn ich noch einmal für eine Nacht nach Uvira käme, um mich von einigen der dortigen menschen zu verabschieden. Robert hatte geschrieben, dass er sich darüber sehr freuen würde, und dass er sehr hoffe, bei der Gelegenheit noch einmal mit mir reden zu können. Flory schrieb bloss, dass mein Zimmer in uvira stets für mich bereit sei, und ich ihn nie fragen müsse, wenn ich kommen wolle. Frank findet meine Idee unvernünftig. Er macht sich ganz offenbar Sorgen, doch schliesslich bringt er mich zum Taxiterminal, und ich fahre noch einmal die halbe Stunde bis zum Grenzübergang, zeige meinen Pass und lasse mir meine Fingerabdrücke nehmen. Ich habe die Grenze vor einem halben Jahr höchstens drei oder viermal überquerrt, doch man kennt mich bereits. Es ist ein wenig wie Heimkommen. Auf der kongolesischen Seite nimmt Robert mich in Empfang, und wir fahren auf seinem kleinen Motorrad die 15 Minuten Piste bis zur Uni. Es ist Abend und die Uni ist verlassen. Robert organisiert uns etwas zu essen. Dann sitzen wir in meinem Zimmer und reden bis um Mitternacht. Es ist ein gutes Gespräch. Robert fragt noch einmal, ob es denn nicht möglich wäre, dass ich bleibe, wenn ganz klar gemacht würde, dass die Uni eine religiös neutrale Organisation sei, die nichts mit REMAC oder irgend einer anderen Kirche zu tun habe. Und wenn das nicht reiche, dann bestehe doch auch die Möglichkeit,dass Flory sich aus der Uni zurückzieht. Ich erkläre ihm, warum ich an diese Möglichkeit nicht glaube: selbt wenn Flory ja dazu sagt. Er lebt und arbeitet hier. Er ist der Gründer der Uni und der charismatische Führer. Ein Grossteil der Studierenden der UPP sind durch ihn hierher gekommen ... Nein. Selbst wenn man formal alles regeln und Flory den Prozess ehrlich bejahen würde, würde er weiter ein Teil der Uni bleiben. Vielleicht würde Flory die Trennung gelassen hinnehmen, doch würde es am Ende dennoch heissen, dass der Weisse ihn von seinem Posten verdrängt habe. Dazu kämen noch all die Probleme, die wir als Uni haben, Probleme, die eigentlich deshalb so erdrückend seien, weil wir von anfang an keine Uni hätten gründen sollen, sondern eher so etwas wie ein Quartierzentrum, ein Treffpunkt für alle, die etwas lernen wollten. Daraus hätten wir dann nach und nach Angebote und Projekte entwickeln können, die direkt mit der Situation der menschen vor Ort und ihren konkreten Bedürfnissen und Interessen zu tun haben. Stattdessen sei die UPP seit Monaten damit beschäftigt, eine Infrastruktur und ein Lehrangebot aufzubauen, das weit über den Köpfen der Beteiligten schwebt, und für welches die vorhandenen kräfte hinten und vorne nicht ausreichten.

Ich hatte Robert und Flory bereits im Mai oder Juni einmal kurz von dieser Idee gesprochen. Damals war es darum gegangen, ob die UPP im Herbst eine zweite Generation von Studierenden aufnehmen solle, und ich hatte geschrieben, dass wir dem, was wir eigentlich wollten, näher kämen, wenn wir nicht zu schnell wachsen, sondern uns wirklich unseren Möglichkeiten und Bedürfnissen gemäss entwickeln könnten. Mein Mail stiess damals auf kein Echo. Robert und Flory wollten die Uni weiter ausbauen, und diese wichtige Diskussion wurde vertagt. Rückblickend denke ich, ich hätte auch diese prinzipielle Frage mit Flory und Robert besprechen müssen, bevor ich das Amt als Rektor der Uni angenommen habe, doch erstens wären Robert und Flory vermutlich auch damals nicht für ein so kleines, unspektakuläres Projekt zu gewinnen gewesen, und zweitens ist man im Nachhinein bekanntlich immer klüger als vorher. Ich hatte gehandelt, wie ich gehandelt hatte, und wir waren da, wo wir waren -, am etwas enttäuschenden Ende einer sehr spannenden und aufregenden Geschichte mit einer bunten Schar von äusserst liebenswerten unnd sympathischen Darstellern und Darstellerinnen, einer Geschichte mit ihren Ups und Downs und mit grossem Potential.

Jetzt, wo wir am Ende der Geschichte angekommen waren, war Robert plötzlich an der Idee eines einfachen quartierzentrums interessiert. Ja, er begreife, was ich meine. Er habe selber auf diese Weise einige Jahre lang Musik- und Englischunterricht gegeben als ihn ein paar Jugendliche aus seiner Strasse darum gebeten hätten. Sie hätten sich jeweils bei ihm oder sonst wo getroffen und einfach zusammen gearbeitet und gelernt. Die Jugendlichen hätten ihn bezahlt, nicht viel, aber immerhin. Diplome habe es natürlich keine gegeben, aber die Jugendlichen seien ja gekommen, weil sie englisch und Noten lesen leernen wollten. Es sei eigentlich eine gute Zeit gewesen.

Während wir reden ist es draussen ganz still geworden -, so wie ich die Nächte in uvira in Erinnerung habe. Zwischendurch werde ich wehmütig: wie spannend wäre es mit Robert und ein paar anderen Interessierten genau das zu tun was er beschreibt. Doch die Würfel sind gefallen - bei mir, und auch bei Robert und Flory. Sie wollen eine Uni, auch wenn das Projekt sie rundum überfordert. Die Überforderung stört sie weniger als sie mich gestört hat. Sie können leichter improvisieren als ich, und sie sind es gewohnt, ihre Ansprüche den gegebenen Möglichkeiten anzupassen. Es geht für sie vor allem anderen darum, irgendwie durchzukommen. Worte und Programme spielen in ihrer Situation eine weniger wichtige Rolle als ich anfänglich dachte. In einem Land, in dem laut UNO-Angaben drei Viertel der Bevölkerung fehl- oder unterernährt sind, kommt es nicht darauf an, ob das Essen wirklich genau dem entspricht, was auf der Packung steht. Auch wegen eines religiösen Beigeschmacks macht man sich keine grossen Sorgen. Hauptsache, der Laden läuft irgendwie -, um die höheren ansprüche und die Nuancen, auf die ich so grossen Wert lege, wird man sich später vielleicht einmal kümmern.

"Weisst du", hatte mir ein in der Schweiz arbeitender kongolesischer Pfarrer schon im August gesagt, "es geht den meisten Menschen im Kongo zunächst darum, einmal Boden unter die Füsse zu kriegen. Die Uni ist dabei auch für deine beiden Vice-Rektoren vielleicht vor allem ein Mittel zum Zweck. Gründer einer Uni zu sein ist natürlich ein grosses Plus im Lebenslauf eines menschen, und die Uni selber ist eine mögliche Einkommensquelle. Wie die Uni funktioniert ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie dir irgendwie hilft am Leben zu bleiben und vielleicht sogar ein Stückchen voranzukommen."

Am nächsten Vormittag treffe ich überraschend Flory im Büro. ich wusste nicht, dass er hier sein würde. Er begrüsst mich, als ob nichts ist, und als ich ihm sage, dass ich heute Abend nach Bujumbura zurückfahre, sagt er, er werde gegen Achtt im Hotel vorbeikommen; jetzt müsse er leider weg. "Alors à ce soir".

Den Vormittag verbringe ich vor allem mit Masemo, der mir stolz das Haus zeigt, welches er mit einigen Freunden in den letzten Wochen gebautt hat. Er reagiert kaum, als ich ihm sage, dass ich nicht mehr an die Uni zurückkomme. Er zeigt mir ein Feld, auf dem er Tomaten gepflanzt hat. Dass ich nicht mehr hier sein werde macht ihn traurig. Er hängt an mir, das weiss ich. Doch er hat gelernt, sich nicht unnötig gegen ein Schicksal zur Wehr zu setzen, gegen welches er doch nicht ankann.

Am Nachmittag mache ich einen letzten Besuch im CEFI. Robert fährt mich hin. Ich verabschiede mich von Frau Lundimu, von Moése, Kitoto und den anderen blinden SchülerInnen. Vor allem Kitoto geht mein Abschied nahe. Er sagt immer und immer wieder, ich dürfe ihn nicht vergessen, und er erinnert mich einmal mehr daran, dass ich im Frühjahr gesagt habe, ich würde versuchen, für ihn in europa einen Larousse in Blindenschrift zu finden. Ich versichere ihm, dass ich ihn nicht vergessen werde, und dasss ich versucht habe, seinen Larousse zu finden, dass ich damit bis jetzt jedoch keinen Erfolg gehabt habe.

Wenn ich jetzt, nach fast einem Jahr, an meinen letzten Tag in uvira denke, so habe ich das Gefühl, dass ich Kitoto am aller meisten im Stich gelassen habe. Die anderen kommen irgendwie zurecht. Die Nachrichten von der UPP sind etwas enttäuschend. Von den Hoffnungen meiner dort verbrachten Monate ist nicht mehr viel übrig. Statt 30 zählt die Uni jetzt 60 und in einigen Monaten vielleicht sogar 90 oder 100 Studierende. Die Infrastruktur ist so schlecht wie eh und je. IN Sachen Computerlab ist seit meinem Weggang vor anderthalb Jahren nichts mehr gelaufen ... doch wie gesagt: man wurstelt sich irgendwie durch. Das Schulgeld musste erhöht werden und die DozentInnen geben ihre Skripts nur denen ab, die dafür ordentlich bezahlen. Das ist kongolesischer Stil. Auch Dozenten müssen von etwas leben. Auch Masemo kommt ohne mich zurecht. Hie und da telefonieren wir, und ab und zu schhreibt er mir eine SMS. Er sagt mir, dass die Englischwörterbücher leider alle gestohlen seien, und dass die Studierenden nach wie vor ins Cyber in die Stadt müssten, um ihre E-Mails zu checken oder irgendwelche Recherchen zu machen. So ist das Leben in Uvira. Wenn man für den Erlös eines Dixionärs oder eines guten Sachbuches ein halbes Monatsgehalt bekommt ist es schwierig, eine Bibliothek zusammenzuhalten. Und wenn niemand dafür eintritt, dass der Internetzugang der Uni für alle und nicht nur für die Administration da ist, dann bleibt einem eben nichts, als in die Stadt zu fahren. Immerhin. masemo sagt, dass er mit der UPP zufrieden sei. Er lerne etwas. Die Kurse seien gut. Vor ein paar Wochen hat er - mittlerweile am Ende seines zweiten Studienjahres - ein erstes Praktikum in seinem Fachbereich (Mediation und Konfliktmanagement) gemacht. Aber Kitoto? Was wird aus Kitoto? Ich denke immer wieder an ihn, doch bis jetzt habe ich weder einen Larousse noch ein anderes Nachschlagewerk für ihn gefunden. Das Institut Valentin Haèy in Paris,die zentrale französische Anlaufstelle für alles, was mit Blindheit oder Blindenschrift zu tun hat, ignoriert meine Mails und auch andere Fährten sind bisher im Sand verlaufen. Dasselbe gilt für meine Versuche, eine Kolektion ansprechender französischer Audiobücher für Kitoto und seine MitschülerInnen zusammenzustellen. Die Sache sheint so einfach und ist in der Praxis doch so kompliziert. Derweil sitzt Kitoto zusammen mit den vier oder fünf anderen internen blinden Schülern in einem der kahlen Schulzimmer des CEFI und wartet darauf, dass er eine Chance bekommt. "Vous savez, Monsieur Martin, on a des droits et on veut ce dévélopper. Il faut le dire aux amis en Suisse! Il faut pas nous oublier!"

Gegen 17:00 brechen wir in Richtung Grenze auf. Robert, der mich den ganzen Tag begleitet hat, fährt mich hin. Vor der UPP laufe ich noch Abel über den Weg. Er hat davon gehört, das ich nicht zurückkommen werde. Er kann und will es nicht glauben. Wenn ich gehe, werde hier alles zerfallen sagt er und beginnt beinahe zu weinen. Abel ist anfang vierzig. Im vergangenen Winter und Frühjahr hat er über meinem Kopf als oberstufenlehrer gearbeitet. Er hat Flory beim Aufbau der Uni geholfen. "Mais c'était un chaos. Monsieur Flory n'était jamais ici chez nous. C'est seulement après votre arrivé que Monsieur Flory a commencé de travailler avec nous ...".