"DIE WIRKUNG INS GRÖSSTE IST UNS VERSAGT" RUDOLF LAEMMEL 1879 bis 1962 REFORMPÄDAGOGE, Erwachsenenbildner, AUFKLÄRER
Vorspiel
Rudolf Laemmel wurde am 2. März 1879 als Sohn einer kinderreichen Familie in Wien geboren. Die ersten Jahre seiner Schulzeit verbrachte er in Weidhofen, wo er die Grundschule und die Landesunterrealschule besuchte.
Dank der entschlossenen Fürbitte seiner Frau hatte Laemmels Vater Heinrich (1850 oder 1851 bis 1933) eine, wenn nicht grossartige, so doch sichere Stelle bei der österreichischen Eisenbahn erhalten, wo er es nach und nach bis zum Stationsvorstand in Villach brachte. Als 14 oder 15-Jähriger vertrat Rudolf Laemmel, so erzählt sein Sohn Klaus, seinen Vater hie und da in der Station, während dieser mit Freunden eine Partie Karten spielte. [2] Damals besuchte der Junge bereits die KK Staatsrealschule in Graz. Er verliess diese im Sommer 1898 mit der Berechtigung zum Besuch einer technischen Hochschule. Im Oktober 1899 finden wir ihn in Zürich, wo er sich an der Universität als Student einschreibt.
Möglicherweise hatte Laemmel sich für Zürich entschlossen, weil er sich damit dem österreichischen Militär entziehen wollte. Er hatte dort 1898-99 – vermutlich im Eisenbahn- und Telegraphenregiment – sein Jahr als Einjährig-Freiwilliger absolviert, scheint dann aber nicht wie allgemein üblich und erwartet zum Reserveoffizier befördert worden zu sein, sodass er sich - aus Furcht davor, ein oder zwei weitere Jahre Dienst tun zu müssen - in die Schweiz absetzte. Offenbar liess sich der Konflikt später friedlich beilegen; jedenfalls wurde Laemmel am 15. Februar 1915 vom KK Landsturmbezirkskommando Nr. 4 in Klagenfurt offiziell und ohne irgendwelche besonderen Bemerkungen unter Anerkennung seiner Leistungen aus dem Militär entlassen.[3]
Gemäss fremdenpolizeilicher Verfügung vom 23. 11. 1899 wird dem Petenten Laemmel – eigenartigerweise wird er in den Zürcher Amtsstuben zu jener Zeit immer als "von Ungarn" kommend bezeichnet - die Aufenthaltsgenehmigung im Kanton Zürich nur erteilt, wenn er innerhalb zehn Tagen die gesetzlich vorgeschriebene Kaution von Fr. 1,500.- ("in Bar oder durch Bürgschaft zu leisten") beibringt; die Tatsache, dass Rudolf Laemmel offenbar im Stande ist, die für damalige Verhältnisse beträchtliche Summe innerhalb der angegebenen Frist aufzubringen, lässt vermuten, dass er in weltlichen Dingen dieser Art nicht ganz ungeschickt gewesen ist.
" Ich nannte sie die Pictette". Die beruflichen Anfänge in Zürich
Bereits 1902 lanciert Laemmel - gerade 23 Jahre alt und selbst noch Student - sein erstes pädagogisches Projekt. Er gründet das "Zürcher Reform-Gymnasium", eine Schule, die ihren InteressentInnen versprach, sie dank modernster Methoden und einer flexiblen Unterrichtsorganisation unabhängig von Alter und Vorbildung optimal auf die Aufnahmeprüfung für die ETH oder die schweizerische, deutsche oder österreichische Maturitätsprüfung vorzubereiten.
Anfänglich ist sein Unternehmen, wie andere später berühmt gewordene Schulgründungen auch, so klein, dass aller Unterricht in seiner Privatwohnung an der Frohbergstrasse 3 stattfindet. Die Schule wendet sich an junge Erwachsene, Mädchen und Knaben gleichermassen, welche ihre obligatorische Schulzeit hinter sich haben. Häufig scheinen seine SchülerInnen Menschen zu sein, die es nach einiger Zeit in der Arbeitswelt oder nach einem Schulabbruch noch einmal mit der Schule versuchen wollten.
"Die erste Schülerin war die Tochter von Professor Pictet in Genf", so erinnert sich Rudolf Laemmel rund fünfzig Jahre später. " Ich nannte sie die Pictette. Wenn ich aus dem Kolleg kam, saß sie manchmal schon am Fenster und rauchte eine Zigarette -eine für jene Zeiten ganz unerhörte Sache."[4] Zu den ersten Schülern zählten ferner der später als Schriftsteller bekannt gewordene Berthold Viertel aus Wien und dessen Freund Karl Adler, ein Sohn des österreichischen Sozialistenführers Viktor Adler. Die Beiden waren von Wien und ihrem dortigen, offenbar wenig geliebten Gymnasium geflohen und auf Umwegen nach Zürich gekommen, wo sie, mit Laemmels Hilfe, den Wiedereinstieg in die bürgerliche Welt versuchten, ein Versuch, der zumindest im Falle Bertold Viertels erfolgreich war. [5]
Auch sonst bleiben die Erfolge nicht aus: 1903 bestanden neben Bertold Viertel bereits vier weitere AbsolventInnen des Reform-Gymnasiums ihr Maturitätsexamen. 1904 waren es 8 und 1905 14. Dabei waren die Mädchen bzw. Frauen in der Regel in der Überzahl, denn die akademische Förderung von Frauen war ein besonderer Schwerpunkt des "Reform-Gymnasiums" -, eine Tatsache, die nicht nur ideelle Aspekte hatte, denn entsprechende Angebote waren damals noch Mangelware und das geschickte Ausnützen von Marktnischen zahlte sich aus.
Als Lehrer für Naturwissenschaften beschäftigte Laemmel anfänglich den sehr beliebten Dr. Tobler, den späteren Redaktor des "Volksrechts", der Zeitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Schwieriger gestaltete sich die Suche nach einem geeigneten Lehrer für den Deutschunterricht: "Eine Zeitlang schickte ich", so schreibt Laemmel in seinem 1954 veröffentlichten Bericht über "die Anfänge der Schule", "meine Schüler zu Frau Professor Bleuler ins Burghölzli. Ich hatte sie als Fräulein Waser 1899 im Abstinentenverband "Libertas" kennen gelernt, wie auch den nachmaligen Oberrichter Balsiger. Aber der Weg vom Norden der Stadt bis zum Südende im Burghölzli war weit. Schließlich fand ich einen nach Zürich verschlagenen deutschen Oberlehrer, der Geschichte und Deutsch übernehmen konnte. Damals war die Schule schon in ihrer zweiten Inkarnation, in der Vogelsangstraße 46."
am 5. März 1903 erhält Laemmel das Diplom zum höheren Lehramt; seine Fächer sind Mathematik, Chemie und Physik. Am 29. Oktober 1903 heiratet er die 1881 geborene Sophie Axelrod, eine Russin aus dem Kreise um Lenin. Im Sommer 1904 wird er zum Dr. Phil. der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung der Universität Zürich promoviert. In seiner Dissertation befasst er sich mit "Methoden zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten". Sie erscheint im selben Jahr im Selbstverlag. Am 18. August 1904, ein paar Wochen nach seiner Promotion, erwirbt er das Zürcher Bürgerrecht.
1904 kamen der Sohn Boris und 1906 die Tochter Vera zur Welt. Die junge Familie zog mitsamt der Schule erneut um - in den Schmelzberg 27.[6]
Das Reform-Gymnasium war an sich ein Externat. Die verhältnismässig zahlreichen auswärtigen SchülerInnen (darunter ein hoher Prozentsatz von Nicht-SchweizerInnen) wohnten bei Gastfamilien in der Stadt, doch gab es zu allen Zeiten auch ein paar Internatsplätze im Hause des Ehepaars Laemmel. Diese Durchmischung von Privatleben und Schule trug sicherlich nicht unwesentlich dazu bei, dass das "Reform" mehr einer studentischen Lerngemeinschaft als einer Schule im herkömmlichen Sinne glich. Rudolf Laemmel schreibt in seinen Erinnerungen an "die Anfänge der Schule" in diesem Sinne u.a.: " Einmal im Jahr gingen wir nach München, um das Deutsche Museum zu besuchen. Wir blieben dort einige Tage und ließen uns die Apparate vorführen, über welche das Museum verfügt. Auch für die Pinakothek und für die Schackgallerie fanden wir Zeit. Abends saß man im Kaffee Simplizissimus und hörte die neuesten Witze. Man lebte im Strom der Zeit und erfuhr erst nachher, nach zwei Weltkriegen, wie wunderschön es damals gewesen ist...". Im Sommer ging man regelmässig für ein paar Wochen nach Graubünden, um in irgendeinem gemieteten Dorfschulhaus "Halbferien" zu machen.[7]
1908 zählt die Schule bereits rund 60 SchülerInnen, und Laemmel berichtet in seinem "kurzen Prospectus des Reform-Gymnasiums" über die Erfolgsbilanz seines Unternehmens seit seiner Gründung mit offensichtlichem Stolz: "Die Zahl der Abiturienten wuchs von 5 im Jahre 1903 auf 30 im Jahre 1908. Die Schüler wurden teils für das schweizerische Maturitäts-Examen, teils für die Aufnahmeprüfung an das Zürcher Polytechnikum, teils für das deutsche Abitur vorbereitet. Bei den letztgenannten zwei Prüfungen hatten wir von 1902 bis 1908 keinerlei Misserfolge zu verzeichnen. Die schweizerische Maturität, zu welcher weitaus die meisten Schüler vorbereitet worden sind, wurde in der Zeit von 1902-1908 nur von einem Schüler nicht bestanden, zwei Schülerinnen bestanden sie erst beim zweitenmale; alle übrigen kamen durch."[8]
Rudolf Laemmel war während Jahrzehnten neben seinen eigentlichen Arbeiten regelmässig als Vortragsredner tätig: So hält er beispielsweise 1904 und 1905 auf Anfrage der Zürcher Pestalozzigesellschaft einige allgemeinverständliche Vorträge über naturwissenschaftliche Themen -, "die ersten Volkshochschulvorträge in Zürich", wie er 1954 in einer gewissen Selbstüberschätzung schrieb. " Die Vorträge waren", so erinnert er sich, "stets gut besucht und Zürcher Lokalgrößen waren anwesend, so Pfarrer Pflüger[9], der später dann seinen Sohn zur Ausbildung ins Reformgymnasium schickte."[10] In jene Jahre fällt auch Laemmels erster Kontakt mit Albert Einstein und der Beginn seines Interesses an dessen Arbeit. Laemmel schreibt dazu rückblickend:
" Mit Albert Einstein saß ich in einer Vorlesung über Funktionentheorie bei Hurwitz im Kolleg. Ich traf ihn bei Professor Stern. Nachher fragte mich Stern: "Was halten Sie von Einstein? "Damals war Einstein ein Beamter des Patentamtes in Bern. Aber er hatte eben, es war Sommer 1905, eine Arbeit in den Annalen der Physik veröffentlicht, die ich im "Musum" gelesen hatte, und die mir einen sehr starken Eindruck machte. Ich antwortete daher: " Ich glaube, dass Einstein der künftigen Physik seinen Stempel aufdrücken wird, er hat eine revolutionierende Abhandlung veröffentlicht, die eine neue Epoche der Physik einleitet." Schon ein Jahr vorher, 1904, hatte ein gemeinsamer Bekannter von Einstein und mir, John Grand aus Bümpliz bei Bern, uns zusammengebracht. (...)Als Einstein einige Zeit danach seine Antrittsvorlesung an der ETH Zürich hielt, ging das ganze Reformgymnasium hin, ihn zu hören."[11]
Tatsächlich befasste Laemmel sich während Jahren immer wieder mit der Einsteinschen Relativitätstheorie, deren Verdienst es sei, die Achillessehne der bisherigen Mechanik – ihren starren und einheitlichen Zeitbegriff – problematisiert zu haben. Während es ihm 1911 noch nicht möglich scheint, "ein wirklich einwandfreies, populäres Bild vom Stand der Sache" zu geben, veröffentlicht er 10 Jahre später eine in mehrere Sprachen übersetzte, allgemeinverständliche Darstellung der Relativitätstheorie, die in der Folge zu einer seiner bekanntesten Arbeiten wird.[12] Wenn Laemmels Name in den von mir konsultierten neueren Einsteinbiographien auch nicht auftaucht[13], so glaubt sein Sohn Klaus sich doch zu erinnern, dass Einstein sich in einem Brief an seinen Vater einmal sehr lobend über dessen Darstellung der Relativitätstheorie geäussert habe.
Es scheint, dass Laemmel in seinen frühen Zürcher Jahren selber noch wissenschaftlich gearbeitet und vielleicht auch an eine akademische Karriere gedacht hat. Zwischen 1902 und 1912 erscheinen jedenfalls verschiedene naturwissenschaftliche Arbeiten von ihm, darunter (1907 und 1912) auch zwei Aufsätze (über " Spezifische Wärmen fester Grundstoffe" und "Das natürliche System der Elemente") in den Annalen der Physik, also in jener Zeitschrift, in welcher 1905 Einsteins erste Arbeit zur Relativitätstheorie erschienen war. Auch später veröffentlichte Laemmel immer wieder kleine fachwissenschaftliche Abhandlungen zu physikalischen und technischen Fragestellungen, und bis zu seinem Lebensende beschäftigt er sich in seiner Freizeit beständig mit irgendwelchen astronomischen Berechnungen und mathematischen Beweisführungen.
Radikale Verkürzung der Schulzeit und individuelle Lernwege. Das pädagogische Profil des Zürcher Reform-Gymnasiums
Das Reform-Gymnasium war nicht nur eine zunehmend interessante Schule, sondern es war offenbar auch ein gutes Geschäft. Jedenfalls konnte Rudolf Laemmel im Herbst 1908 die Liegenschaft an der Schmelzbergstrasse, in welcher seine Schule seit zwei Jahren untergebracht war, für die nicht gerade kleine Summe von Fr. 195,000.- kaufen, sodass man von nun an in eigenen Räumen lebte und arbeitete.[14] Zu diesem Zeitpunkt war Laemmels Unternehmen in in- und ausländischen Fachkreisen bereits zu einem gewissen Begriff geworden. Laemmel spricht von zahlreichen Besuchern, die seine Schule in jenen Jahren des pädagogischen Auf- und Umbruchs kennenlernen wollten. Zu diesen Besuchern gehörte u.a. Paul Geheeb, der Laemmel im September 1909 besucht und von ihm vielleicht auch ein paar Anregungen für die Gestaltung des später so bekannt gewordenen "Kurssystems" seiner Odenwaldschule mitgenommen hatte[15]; zu ihnen gehörte auch Gustav Wyneken, der Mitbegründer der freien Schulgemeinde Wickersdorf, der nach seinem dortigen Rausschmiss im Sommer 1911 sogar selbst für kurze Zeit in der Laemmelschen Anstalt mitgearbeitet haben soll.[16]
Tatsächlich wirkt das, was Laemmel mit seinen SchülerInnen und MitarbeiterInnen in jenen Jahren vor dem ersten Weltkrieg erprobte auch heute noch in vielen Punkten ausgesprochen aktuell.
1910 veröffentlichte Laemmel ein kleines Büchlein mit dem anspruchsvollen Titel "Reform der nationalen Erziehung", in welchem er seine Schule vorstellt und aus den dort gemachten Erfahrungen einige Grundsätze für eine umfassende Erneuerung der Mittelschulen ableitet. Als guter Propagandist für seine eigene Sache hatte er den Physiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach dafür gewonnen, seinem Büchlein ein kurzes Vorwort voranzustellen. - Bereits zwei Jahre zuvor hatte Rudolf Laemmel die drei wichtigsten, in dieser Schrift weiter ausgearbeiteten Grundsätze, auf denen seine Erziehungsreform beruhte, in einem "kurzen Prospectus" seiner Schule dargelegt.
In der ersten seiner drei Thesen plädiert Laemmel für eine "Verkürzung der Studienzeit zwischen dem 12. und 18. Jahre um volle zwei Jahre". "In der Zeit vom 14. bis zum 16. oder vom 15. bis zum 17. Lebensjahr", so seine Argumentation, "soll jedermann ein Handwerk lernen oder einen Fabrikbetrieb kennen lernen, eine Handwerkerschule oder ein Landerziehungsheim besuchen etc. etc. Nachher, wenn er gesundheitlich gekräftigt und geistig gereift ist, genügen drei Jahre richtig betriebener Gymnasialstudien, um ihn auf dieselbe Stufe geistiger Reife zu bringen, als wenn er fünf Jahre die Schule besucht hätte."[17]
Eine wesentliche Bedingung für diese radikale Verkürzung der Unterrichtszeit ist die von Laemmel in seiner zweiten These geforderte "vollständige Umformung der Unterrichtsmethode", wie sie in seinem Reform-Gymnasium erprobt werde. Konkret bedeutet das, so Laemmel in dem Prospekt aus dem Jahr 1908:
"a) Einführung des Systems beweglicher Klassen; jeder soll die Möglichkeit haben, in den einzelnen Fächern in verschiedenen Kursen zu studieren, und ferner soll jeder die Möglichkeit haben, in einem Fache schneller, in anderen langsamer zu arbeiten. Dies bedingt zwar eine sehr große Komplikation in der Aufstellung des Stundenplanes, aber es bietet dem Studierenden unschätzbare Vorteile;
b) weitgehende Individualisierung des Unterrichtes; jeder nutzbringende Unterricht muss dialogischen Charakter haben; zwischen Lehrern und Schülern muss ein persönliches Verhältnis bestehen, der Lehrer muss seine Schüler kennen. (...);
c) Bildung kleiner Klassen, besonders für den Sprachen-Unterricht; Trennung der Schüler nach dem Grade der Begabung; (...)
d) wesentliche Verringerung der häuslichen Arbeiten: Die Erziehung zum selbständigen Arbeiten wird viel ökonomischer in der Schule selbst durchgeführt, als durch das meist höchst unproduktive Hausarbeiten;
e) jeder Unterricht muss von den Erfahrungen des täglichen Lebens ausgehen; und jeder Unterricht muss so gegeben werden, dass er für das Leben Brauchbares bringt. (...);
f) die Darstellung im naturwissenschaftlichen Unterricht muss einerseits ausgehen von den konkreten Dingen der Anschauung, soll aber anderseits in allen wichtigen Fragen auch historischkritisch durchgeführt werden. (...);
g) die Darstellung der exakten Naturwissenschaften muss mit möglichst wenig Umständlichkeiten erfolgen: mathematische Beweise müssen z. B. mit einem Minimum an mathematischen Machtmitteln ausgeführt werden. Das zu Beweisende muss für den Mittelschulunterricht in den Vordergrund des Interesses gerückt werden, der Beweis soll das zu Beweisende nicht erdrücken;
h) die einzelnen Fächer sollen nicht als eine unzusammenhängende Wissens-Masse erscheinen, sondern möglichst einheitlich und zusammenhängend gelehrt werden.
i) für jeden Studierenden wird ein individueller Studienplan aufgestellt; darin wird für jedes Fach der Kurs und die Stundenzahl angegeben, die den Fähigkeiten des Kandidaten entsprechen (...).
Die dritte These, von der Laemmel ausgeht, betrifft die Inhalte, welche in einer modernen Schule vermittelt werden sollen. Im Gegensatz zu dem damals noch immer stark favorisierten humanistischen Gymnasium fordert er eine radikale Reduktion der sprachlichen Fächer zu Gunsten von Physik und Geschichte: " An die Stelle des sprachlich-humanistischen Bildungsideals setzen wir das naturwissenschaftlich-historische." Ihm erscheint das Studium der Physik "als Grundlage der allgemeinen Bildung und als Fundament aller Naturwissenschaften, als der Schlüssel zum Verständnis der Natur und als die beste Schule zur Stärkung des logischen Denkvermögens". Dabei dürfe die Physik nicht, wie das leider fast allgemein üblich sei, "als eine Anwendung mathematischer Formeln gelehrt werden", da die Mathematik nur eine Hilfswissenschaft der Physik sei. Ebenso dürfe die Geschichte, um tatsächlich bildend zu wirken, den Schülern "nicht als eine endlose Reihe von Kriegen vermischt mit Biographien von Königen erscheinen, sondern die historischen Ereignisse sollen als das Ergebnis von aufeinanderfolgenden und miteinanderwirkenden sozialen, religiösen, intellektuellen Strömungen erscheinen, sollen als natürliche Konsequenzen von ethnographischen, geographischen, rassenphysiologischen Bedingungen erscheinen." Eine wichtige Aufgabe des Geschichts-Unterrichtes sei dabei auch "die Einführung des Schülers in das Verständnis des Staatswesens, der Verfassungslehre und der heutigen europäischen Politik."
Die Aufwertung realgymnasialer Bildungsinhalte entsprach einem starken Trend in der damaligen Zeit. Doch die übrigen Merkmale seiner Schule weisen weit über das damals Übliche hinaus.
· Mit dem von ihm praktizierten System der "beweglichen Klassen",
· mit seiner starken Betonung der individuellen Arbeit und Betreuung,
· mit seinem Plädoyer für einen von den Phänomenen ausgehenden, fachübergreifenden "genetisch sokratischen" Unterricht im Sinne Martin Wagenscheins,
· mit seiner Forderung nach einer radikalen Verkürzung der jugendlichen Verschulung zu Gunsten konkreter, lebenspraktischer Erfahrungen,
· mit seinem für die damalige Zeit sehr ungewöhnlichen Interesse und Engagement für die akademische Ausbildung von Mädchen und Frauen (er widmete diesem Thema 1912 eine eigene kleine Broschüre, in der er auch auf die diesbezüglichen Aktivitäten des Reform-Gymnasiums hinwies),
· mit dem internationalen Gepräge seiner Schule und
· mit der Integration seiner pädagogischen und schulorganisatorischen Forderungen in ein umfassenderes gesellschaftspolitisches Programm, welches er ansatzweise erstmals 1910 beschrieben und in den folgenden Jahren immer weiter ausgearbeitet hat
hätte Rudolf Laemmel es eigentlich verdient, von der pädagogischen Geschichtsschreibung zusammen mit Maria Montessori, Paul Geheeb, Rudolf Steiner oder Ellen Parkhurst in den Olymp der damaligen Reformpädagogik aufgenommen zu werden. Sein offenes, bedürfnisorientiertes Schulkonzept, welches die Lernenden als mündige, für ihre Entscheidungen selbst verantwortliche BürgerInnen behandelt, wirkt erstaunlich aktuell angesichts der heutigen Diskussionen über die Wünschbarkeit einer Bildungslandschaft mit grösserer Angebotsvielfalt und vermehrter privater Initiative.
Dass Laemmels frühe Zürcher Initiative seither stattdessen völlig vergessen worden ist (ich bin bisher in keiner pädagogikgeschichtlichen Veröffentlichung auf seinen Namen gestossen!), dürfte wohl mit der Tatsache zu tun haben, dass er sein Reform-Gymnasium Anfang 1913 an Hans Heuscher, einen sonst nicht weiter bekannt gewordenen Lehrer verpachtet hat, um die auf diese Weise frei gewordenen Kräfte und die erhofften Erträge (Mieteinnahmen und Gewinnbeteiligung[18]) in ein neues pädagogisches Projekt zu stecken. Damit begann der Zerfall der auch von Laemmel selbst später nicht besonders gepflegten Erinnerung an dieses bemerkenswerte reformpädagogische Schulprojekt. Nach dem ersten Weltkrieg wurde das bis dahin offenbar von Heuscher weitergeführte Reform-Gymnasium zu einem Teil der noch heute bestehenden Juventusschule Zürich. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verlor die Laemmelsche Gründung auch ihr besonderes pädagogisches Profil.
Laemmel hatte sein Reformgymnasium vor allem deshalb verkauft, weil er eine Erziehungsgemeinschaft gründen wollte, in deren Rahmen er seinen Vorstellungen von kindlichem Lernen und seinem Ideal einer wirklich menschengemässen Schule noch näher kommen könnte als dies im Rahmen des Reformgymnasiums möglich war. Äusserlich dachte er an ein Landerziehungsheim, also ein "alternatives Internat" auf dem Lande im Stile der damals sehr populären Gründungen von Cecil Reddie, Hermann Lietz, Werner Zuberbühler, Paul Geheeb oder Edmond Demolins. Neben dem Leben in der Gemeinschaft, dem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen alt und jung, dem gesunden ländlichen Leben, durch welche diese Gründungen motiviert waren, war es jedoch ein ganz besonderer Gedanke, den Laemmel an diesem Ort in die Tat umzusetzen hoffte: Was ihm vorschwebte war eine Schule, "die einen fünfzigprozentigen Abbau des Lernunterrichts zugunsten der körperlichen Erziehung wagt und dabei dennoch mit dem landesüblichen Abitur endet."[19]
Rudolf Laemmel war - vielleicht durch seine Tochter Vera - in jener Zeit in nähere Berührung mit der Zürcher Tanzschule Semmler-Rinke gekommen, die 1913 im kleinen, kulturell jedoch sehr lebendigen Hertenstein am Vierwaldstädtersee mit dem Bau einer Tanzschule für Mädchen begonnen hatte, in welcher durch ein entsprechendes Unterrichtsangebot das Ideal der gleichmässigen Bildung von Körper und Geist verwirklicht werden sollte. Rudolf Laemmel sollte, laut der in der ersten Nummer der hauseigenen Zeitschrift "Körper und Geist" im August 1913 veröffentlichten Voranzeige, die Verantwortung für die wissenschaftliche Ausbildung der Mädchen übernehmen.[20] Die Schule sollte im Frühjahr 1914 eröffnet werden. Ob das Datum eingehalten werden konnte, wissen wir nicht. Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges endete der Traum dieses ehrgeizigen Tanz- und Lernprojektes jedenfalls sehr abrupt. Da die ausländischen Schülerinnen, mit denen man fest gerechnet hatte, ausblieben, wurde die Schule zahlungsunfähig und das grosszügige Anwesen wurde von den Schwestern des Klosters Baldegg übernommen, in deren Besitz es noch heute ist.[21]
"Erst der gelockerte Körper schafft einen freien Menschen, der aufgeschlossen durchs Leben geht". Rudolf Laemmel und der moderne Tanz
Der Tanz war für Laemmel schon damals weit mehr als eine dekorative Kunst zur Verschönerung des Alltags oder ein besonders wirksames Mittel zur Steigerung der Leistungsfähigkeit seiner SchülerInnen! Seit er 1902 Isidora Dunkan auf der Bühne erlebt hatte faszinierten ihn die vielen Formen des durch die Dunkan und andere von den Fesseln des herkömmlichen Balletts befreiten Tanzes und die von dort inspirierten, mit Namen wie Jaques-Dalcroze, Loheland oder Wigand verbundenen Bemühungen im Bereich der rhythmischen Gymnastik. Er sah in ihnen den wesentlichen Schritt, den seine Zeit zu ihrer eigenen Heilung tat und tun musste, denn mehr noch als in der Therapie Siegmund Freuds, die Laemmel für Spezialfälle durchaus anerkannte, komme der Mensch durch diese Formen der Bewegung mit seinen ursprünglichen Kräften in Kontakt und befreie sich durch sie von dem Gewicht der auf ihm lastenden Geschichte und den ihn einengenden "religiösen und moralischen Psychosen".
15 Jahre nach dem Hertensteiner Versuch veröffentlichte Laemmel eine "allgemeinverständliche Einführung in das Gebiet der rhythmischen Gymnastik und des neuen Tanzes", in welcher er diese zu einer umfassenden Philosophie gewordenen Gedanken ausführt. Mit seinem Buch will Laemmel helfen, "das Problem des modernen Tanzes einzuordnen ins gesellschaftliche Leben der Gegenwart, in die staatspädagogischen Ziele einer modernen Unterrichtsverwaltung."[22] Mit utopischem Weitgriff führt er in dem Buch weiter, was 15 Jahre früher nicht zustande gekommen war. Dabei erinnert das, was er zum Thema Körper und Bewegung schreibt, in überraschender Weise an aktuelle Ansätze in der Psychotherapie, der Hirnphysiologie und einer ganzheitlich argumentierenden Gesellschaftskritik. So lesen wir in der Einleitung u.a.:
"Der Tanz ist (...) seinem Wesen nach eine körperliche Aufschließung von weitgreifender Wirkung. Die Art, wie er in die Erscheinung tritt, kann als Lösung letzter menschlicher Sehnsüchte bezeichnet -, die Wirkung, die er erzeugt, kann geradezu als Erlösung betrachtet werden. Das, was dem Menschen kraft seines Werdeganges angeboren ist, jener stumme Druck, der Hang zum Leid und zur Melancholie, kann durch die tänzerischen Bewegungen des Körpers ausgeglichen, der Druck gemildert oder ganz gebannt werden. Ich möchte diese Bedeutung des Tanzes geradezu als eine heilende bezeichnen. Sie bringt Heilung und bringt Heil. (...) Erst der gelockerte Körper schafft einen freien Menschen, der aufgeschlossen durchs Leben geht. In unseren Büros und Ministerien, in unseren Ratsstuben sitzen unerschlossene Menschen, die ihre eigenen Seelen noch nicht entdeckt haben, weil sie ihre Körper nicht gelöst hatten, als diese noch bildsam waren. Unsere politischen Parteien aller Schattierungen sind durchsetzt mit weltfernen Auffassungen, die von verkrampften Menschen ausgebrütet sind. Die führenden Menschen der Gegenwart sind noch immer nicht dort angekommen, wo sie überhaupt beginnen müssten: bei sich selber!"[23]
Trotz dem beinahe missionarisch anmutenden Ansatz ist Laemmels Bericht über die damals aktuellen Strömungen innerhalb des modernen Tanzes und der rhythmischen Gymnastik, die er selbst "von den ersten Anfängen an miterlebt und mitgelebt" habe[24], von einer überraschenden Detailkenntnis. Immer wieder bezieht er sich auf persönliche Begegnungen und Gespräche mit wichtigen ExponentInnen dieser oder jener Schule, oder er schildert den Eindruck, die ihm diese oder jene wichtige Aufführung gemacht hat. Was er - vielleicht aus Schüchternheit oder aus Furcht davor, deshalb als parteiisch zu gelten - unerwähnt lässt ist die Tatsache, dass eine der jungen, von ihm portraitierten Tänzerinnen der 1920er Jahre seine eigene Tochter Vera ist, welche bis zu ihrem frühen Tod zu Beginn der 1930er Jahre unter dem Künstlerinnennamen Vera Skoronel eine gewisse, von ihrem Vater allerdings tatsächlich etwas überschätzte, Bedeutung als Vertreterin des abstrakten Tanzes hatte, und in ihren letzten Lebensjahren zusammen mit Berthe Trümpy in Berlin Wilmersdorf eine offenbar sehr gut gehende Tanzschule führte.[25]
Odenwaldschule, Kassel, Mettmenstedten. 1914 bis 1918
Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges ging Laemmel mit seiner Familie vorerst als Gastlehrer nach Deutschland an die Odenwaldschule Paul Geheebs. Ob er die dortige Mitarbeit eher als Notlösung oder als willkommene Weiterbildung und Vorbereitung auf die noch immer erhoffte eigene Heimgründung empfunden hat, wissen wir nicht.
Gemäss einer von Geheeb am 5. Juli 1915 ausgestellten, im Geheeb-Archiv der Ecole d'Humanité (Berner Oberland) befindlichen Aufenthaltsbestätigung hat Rudolf Laemmel an der Odenwaldschule bis im Sommer 1915 vor allem Physik, Chemie und Mathematik, vorübergehend jedoch auch Deutsch, Latein, Geschichte und Französisch unterrichtet. Angesichts des kriegsbedingten Lehrermangels dürfte Geheeb froh gewesen sein über diesen akademischen Allrounder mit seinen den eigenen scheinbar so verwandten Ideen. Nach und nach verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den beiden Herren allerdings. Ausschlaggebend waren vielleicht Differenzen in Bezug auf die Erziehung von Laemmels Tochter Vera, vielleicht aber auch unklare finanzielle Abmachungen -etwas, das in der Odenwaldschule öfter zu Turbulenzen geführt hat. Jedenfalls schreibt Laemmel am 29. Juni 1915 in seiner obligat schwungvollen Weise an Geheeb: "Ich lasse meine Tochter nicht mehr bei Frau Lange harmonisch herumdummen. Was die Pädagogik anbelangt -, ich bedarf darin nicht mehr der Anleitung, lieber Paulus Geheeb. Freilich: Meine Pädagogik ist nicht Ihre -, wird sie auch nie sein. Quand-même le Vôtre, R.L." Atha Nodnagel, eine Schülerin Geheebs, bittet diesen am 4. August 1915 dringend, Herrn Laemmel sofort aus der Schule zu entfernen, da dieser überall gegen ihn intrigiere und ihm, Geheeb, pädagogische Unfähigkeit vorwerfe. Damals denkt Laemmel, wie aus diesem Brief hervorgeht, an eine Schulgründung in Hembsbach, obschon es ja nicht leicht sei, Geheeb, der auf seinen Millionen sitze (eine nicht ganz unberechtigte Anspielung auf Geheebs reichen Schwiegervater Max Cassirer, der die Odenwaldschule damals in grosszügigster Weise unterstützte), Konkurrenz zu machen ... - Was auch immer geschehen sein mag: Die Zusammenarbeit endet - durchaus kein Einzelfall in der Realgeschichte der Reformpädagogik - mit einer ziemlich öden, von den jeweiligen Rechtsanwälten geführten Schlammschlacht.
Vom Sommer 1915 bis zum Sommer 1916 – vielleicht auch noch länger – arbeitete Laemmel am v. Kästner'schen Lyzeum in Cassel.[26] Danach folgten weitere Aufenthalte in Deutschland, vielleicht auch Holland und Dänemark, über die wir jedoch nichts wissen.
Im November 1917 heiratete er – nach der Scheidung von Sophie Axelrod - Luise Dorothea Frank, die er in der Odenwaldschule kennen gelernt hatte; mit ihr hatte er noch einmal 4 oder 5 Kinder. Jetzt scheint auch die Hoffnung auf das eigene Landerziehungsheim endlich Wirklichkeit zu werden: Ein mit Zürich 1917 datierter Prospekt kündigt jedenfalls die Eröffnung eines auf seinen Zürcher Erfahrungen basierenden Heimes für 6 bis 20 Jährige oberhalb der Gemeinde Mettmenstedten an. Er hat dort offenbar ein ehemaliges Kurhaus mit Blick auf den Zugersee und die Schweizer Alpen gemietet oder gekauft. Warum aus dem so hoffnungsvoll angekündigten "Schiller-Heim" schlieslich doch nichts wird ist unklar. Es scheint, dass Laemmel noch während einiger Jahre vergeblich auf eine Möglichkeit hofft, das Projekt zu verwirklichen bis er auch diesen Traum mit samt dem in ihn investierten Geld begraben muss.
"... wenn man den Eltern die Kinder wegnehmen würde ". Bildungspolitische Utopien und bildungspolitische Praxis 1918 bis 1924
Im Herbst 1918 finden wir Rudolf Laemmel mit seiner Familie wieder in Zürich. Er scheint nach wie vor voller pädagogischer Pläne und Projekte, wobei sich seine Interessen jetzt mehr und mehr auch auf die Erwachsenen erstrecken, und er selbst vom praktisch orientierten Schulgründer immer mehr zum pädagogischen Theoretiker und zum engagierten Bildungspolitiker wird.
Zunächst wendet er sich der Idee der Volkshochschule zu, auf welche er durch den Schweizer Sozialisten Hermann Greulich aufmerksam gemacht worden sei.[27] Am 12. Februar 1919 gibt er im sozialdemokratischen "Volksrecht" das Entstehen einer Vereinigung bekannt, welche die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung volkstümlich darstellen sollte. Es handelte sich um die erste derartige Unternehmung in Zürich. Sie sollte "keine gelehrte Gesellschaft", sondern eher eine Art "Volksuniversität" sein. Im Gegensatz zu den bisherigen Initiativen in diesem Bereich "soll es sich nicht um einzelne zusammenhanglose Vorträge handeln, sondern um zusammenhängende Darstellung abgeschlossener Gebiete". Die Sache war eine Primière für die Zürcher. "Man kam", so erinnert sich einer der damaligen Mitinitianten, "im "Olivenbaum" am Stadelhofer Bahnhof zusammen und plante zuerst Kurse in Physik, Chemie, technischer Chemie, Elektrotechnik, Astronomie, Biologie und Geologie."[28] Bald stellten die Initianten fest, dass man sich an verschiedenen Orten der Stadt mit ähnlichen Plänen trug. Obschon es Versuche gab, diese Vorstösse zu koordinieren, beklagte sich Laemmel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. August 1919 über den Mangel an Zusammenarbeit und gegenseitiger Offenheit. Im Oktober veröffentlichte Laemmel schliesslich eine programmatische Schrift zu dem Thema, in der er u.a. schreibt, dass seine populärwissenschaftliche Vereinigung "alle bestehenden volkstümlichen Unterrichtsverantstaltungen" vereinigen und "zu einer freien Volkshochschule" ausgestalten wolle. Daneben soll die Gesellschaft eine "in breite Kreise dringende populärwissenschaftliche Zeitschrift "das Licht"" Herausgeben.[29] Vielleicht war es dieser Alleinvertretungsanspruch -, vielleicht waren es Laemmels teilweise als zu radikal und zu pauschal empfundenen Äusserungen: Als die übrigen Gruppierungen im Mai 1920 die Gründung einer offiziellen Trägerschaft für die Zürcher Volkshochschule beschlossen, taten sie dies jedenfalls ausdrücklich unter Ausschluss des Hern Dr. Rudolf Laemmel[30]. Für ihn war die Volkshochschularbeit damit bereits nach weniger als einem Jahr zu Ende gegangen.[31]
Auch sein sonstiges praktisches Engagement scheint diesmal - im Gegensatz zu seiner ersten Zürcher Initiative - wenig erfolgreich. Laut einem im August 1962 in verschiedenen Schweizer Zeitungen veröffentlichten Nachruf[32] soll Laemmel sich in jenen Jahren u.a. mit der Gründung vom Mittelschulen ausserhalb Zürichs - genannt werden die Gemeinden Uster, Wetzikon und Wädenswil - befasst haben. Konkret belegen lassen sich diese Aktivitäten jedoch ebenso wenig wie die Behauptung, dass er die erste öffentliche Berufsberatungsstelle der Stadt Zürich ins Leben gerufen und geleitet habe. Zwar werden zu jener Zeit in Zürich tatsächlich die ersten vollamtlichen Stellen in diesem Bereich geschaffen. Doch weder in diesem Zusammenhang noch im Rahmen der Aktivitäten des schweizerischen Verbands für Berufsberatung taucht der Name Laemmel jemals auf. - Es scheint, dass er in der Schweiz nicht mehr recht Fuss zu fassen vermag. Gleichwohl hält er sich schreibend und redend irgendwie über Wasser. Er schreibt Buchbesprechungen und andere Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung und andere Zeitungen - vorzüglich über naturwissenschaftliche Themen[33] -; er hält Vorträge - manche vor grossem Publikum[34] - und vor allem: er schreibt Bücher. Ob er sich und seine Familie damit allerdings finanziell über Wasser halten konnte, oder ob er noch andere Nebenjobs hatte wissen wir nicht.
"Langsam aber erwacht die Frau als Teil der Menschheit". Der Traum vom Weltfrieden
Laemmels einsame Produktivität ist erstaunlich und erschreckend zugleich: Es ist, als ob er die Mängel, die er rings um sich sieht, nicht erträgt! Überall will er helfen. Überall entwickelt er Ideen, macht Vorschläge, plädiert für weitgreifende Reformen. Dabei versteigt er sich immer wieder in utopische Entwürfe im Stile Platos, Campanellas, Morus? oder Skinners -, entwürfe, deren autoritär-abstrakte Rationalität auch auf seine Zeitgenossen eher befremdend gewirkt haben dürfte. Sehr deutlich wird dies im "Brief an alle Frauen der Welt", welchen r 1921 veröffentlicht. In ihm kehrt er noch einmal zur Idee des Landerziehungsheimes zurück.
Obschon diese Bewegung in der Öffentlichkeit damals bereits nicht mehr die Anziehungskraft besass, die sie noch vor dem Krieg gehabt hatte, war das Landerziehungsheim für Laemmel noch immer der ideale Ort schlechthin, eine Art Oase der Menschlichkeit. Inzwischen geht es Laemmel allerdings nicht mehr um eine eigene Heimgründung, vielmehr wird das Landerziehungsheim zu einem festen, wenn nicht zum zentralen Element in seinen umfassenden "staatspädagogischen" Überlegungen. Laemmel träumt davon, dass eine möglichst grosse Zahl von Kindern ab dem 6. Oder 7. Lebensjahr von ihren Eltern getrennt und in besonderen, von sorgsam ausgewählten, best qualifizierten "pädagogischen Künstlern" geleiteten Heimen erzogen und unterrichtet werden sollen. Nur in solchen ganz an der Vernunft orientierten, von Schönheit und Gerechtigkeit erfüllten Heimen könne die Generation heranwachsen, die den von den Denkern aller Zeiten herbeigesehnten utopischen Staat zu verwirklichen vermöge. "Alles Elend der Menschheit wäre sicher und restlos zu beseitigen", schreibt Laemmel, "wenn man den Eltern die Kinder wegnehmen würde und sie in eigenen Heimen, die vom Geiste der Menschlichkeit und des Pacifismus geleitet sind, erziehen könnte."[35]
Er fordert die Frauen in der ganzen Welt dazu auf, durch die Gründung eines ersten solchen Heimes einen Anfang auf diesem Weg hin zu einer wahrhaft befriedeten Menschheit zu machen. Als Trägerin dieses Heimes, welches Kinder aus allen Gegenden der Erde aufnehmen solle, hofft Laemmel die 1918 gegründete "internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit" zu gewinnen. Als Standort der ersten Völkerschule schlägt er die Schweiz vor; als Sponsor und späterer Träger wäre der Völkerbund denkbar. Die in dieser Völkerschule herangewachsenen "Apostel" sollen, so Laemmels Vision, nach ihrer Ausbildung "in ihre Länder zurückkehren und den Gedanken der neuen Erziehung auf der Grundlage der Völkerschule predigen und realisieren."
Die Nähe zu Johann Gottlieb Fichtes zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorgebrachten bildungspolitischen Vorschlägen, auf welche Laemmel, so weit ich sehe, sich im übrigen weder hier noch anderswo jemals bezieht, ist für den, der sich in der Geschichte der Pädagogik etwas auskennt, unübersehbar. - So wie Fichte in seinen programmatischen "Reden an die deutsche Nation" reagiert auch Laemmel mit seiner Broschüre auf die politische Situation seiner Zeit. Er ist zu tiefst beunruhigt darüber, wie schnell die Menschen die Schrecken und Gräuel des ersten Weltkrieges vergessen zu haben scheinen. Bereits jetzt, zwei bis drei Jahre nach Kriegsende, ist ein neuer Krieg angesichts der Stimmung in Deutschland und Frankreich für Laemmel unvermeidlich, wenn das Friedensproblem nicht endlich konkret und als Problem erster Priorität angegangen wird:
"Wie die religiösen Schwärmer im Mittelalter, so sind heute die politischen Fanatiker als Kranke zu betrachten, die einer geistigen Epidemie unterliegen. Was für ein Bild bietet das geschlagene und gedemütigte Deutschland! Ein grosser Teil des Volkes und der Gebildeten, namentlich ein bedeutender Teil der Studenten denkt an den Revanchekrieg gegen Frankreich. Man kann auch nicht zweifeln, dass ein solcher Krieg kommt, wenn die Menschen sich bis dahin nicht auf ihre gemeinsamen Interessen und Ideale geeinigt haben werden. Ob ein solcher Revanchekrieg nun von Deutschland oder von Frankreich gewonnen würde: die Menschheit würde ihn sicher verlieren." " Soll dies nun das Ergebnis des Schlachtens von 6 Millionen Männern und Jünglingen sein, dass die europäische Säbelherrschaft von Preussen auf Frankreich übergegangen ist? Soll es für die Welt ein Vorteil sein, wenn künftig nicht mehr die deutsche Armee schlachtbereit am Rhein steht, sondern - die französische?"
Auf der Suche nach einem "Lichtblick in solchem Dunkel" sieht Laemmel im erwachen des Selbstbewusstseins der Frauen die einzige Chance auf eine durchgreifende Veränderung. "Ich habe", so schreibt er, "eine schwache Hoffnung, einen solchen Lichtpunkt im dunklen Meere der zeitgenössischen Wahn-Ideen gefunden zu haben. Das ist die abendländische Frauenbewegung. War doch- alle Geschichte bisher eine solche der Männer und für die Männer. Langsam aber erwacht die Frau als Teil der Menschheit (...). Vielleicht wird es dem Eintreten der Frau in die aktive Welt beschieden sein, den Geist des Militarismus zu bannen. ja, ich will noch mehr sagen: Wenn überhaupt dieser Geist des Völkermordens, des "Ehrentodes" sterben soll, so kann dies wohl nur durch die Wirkung der vereinigten Wünsche aller Frauen der Erde geschehen. Wenn sich die europäische und die amerikanische Frau, genau so wie die Negerfrau und die Japanerin gegen den Krieg aussprechen, so wird er als Form der menschlichen Beziehungen von der Erde verschwinden müssen. Dies ist der Gedanke, der mich dazu gebracht hat, einen Brief an alle Frauen der Welt zu schreiben."
So wie im Fall seiner Hertensteiner Tanzschule, des Schiller-Heimes und seiner Volksbildungspläne ein oder zwei Jahre zuvor wurde auch aus diesem Projekt nichts. Mag sein, dass einige Menschen, denen seine im Selbstverlag erschienene Broschüre in die Hände fiel, von Laemmels utopischem Willen, von seiner Hoffnung und seinem Appell, etwas zu tun, berührt waren; mag sein, dass sich einzelne mit ihm in Verbindung setzten, um ihm ihre Anerkennung auszudrücken. Irgendeine praktische Wirkung hatte Laemmels Schrift jedenfalls nicht.
Die Organisation des menschlichen Glücks. Die Aufgaben der "Staatspädagogik":
1923 veröffentlicht Rudolf Laemmel eine weitere Schrift, die gewissermassen als Summe seines pädagogischen und bildungspolitischen Denkens gelten kann: Es ist das rund 150 Seiten umfassende Buch "Die Erziehung der Massen".[36] In ihm thematisiert er noch einmal die in interessierenden, von der "Staatspädagogik" zu bewältigenden Fragen angefangen von den in grösserem Umfange einzurichtenden Säuglingsheimen und Kinderkrippen bis hin zur zukünftigen Gestalt der Volkshochschule. Das Kernstück seiner Reformvorschläge bildet nach wie vor das von ihm zur idealen Gemeinschaft hochstilisierte Landerziehungsheim: Er ist jetzt allerdings etwas moderater als zwei Jahre zuvor. Es geht nicht mehr um einen umfassenden Welterrettungsplan und einen einzigen, exklusiven Heimtyp, vielmehr spricht er von einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Heime, je nach den regionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen. Die zentrale staatliche Lenkung soll minimal, die Verantwortung individueller gesellschaftlicher Gruppen dafür um so grösser sein. Laemmel geht im übrigen auch davon aus, dass vorerst etwa die Hälfte der Kinder in ihren Familien bleibt, ein "Zustand der Übergangszeit", der sich später vermutlich jedoch immer mehr ändern werde. - Die Ablösung des Militärdienstes durch ein Zivildienstjahr für alle 19 und 20 jährigen Frauen und Männer ist ein weiterer Aspekt von Laemmels pädagogischer Reform. Dass der Zivildienst bald kommen würde - aus menschlichen und politischen Gründen bald kommen müsse![37] -, steht für den Pazifisten Laemmel ausser Zweifel, sodass er bei der Schilderung seiner Landerziehungsheime schon damals mit einer relativ grossen Zahl von Zivildienstleistenden rechnete, die als HelferInnen und als SchülerInnen am dortigen Leben teilnehmen sollten.
Neben der Reform des Bildungswesens befasst sich Laemmel besonders mit dem bereits erwähnten Bereich der Berufs- und Laufbahnberatung. Das Gewicht, welches Laemmel diesem Thema gibt, ist ungewöhnlich; sein Anliegen nach wie vor aktuell: "Alljährlich verschwinden", so klagt er, "Tausende von geborenen Ärzten und Gelehrten, Dichtern und Denkern spurlos als Schuster und Schreiner, als Kohlenarbeiter und Bauern im Volke; und Tausende von unbegabten Juristen, Doktoren und Poeten werden im Treibhaus der modernen Schichten-Gesellschaft mit mehr oder minder Ach und Weh in die leitenden Berufe geschoben." Es gehe nicht an, die hier bestehenden Versäumnisse weiterhin mit der Behauptung zu entschuldigen, dass das Genie sich immer Bahn breche -, ein Irrtum, der seit jeher mit besonderer Vorliebe von denen vertreten worden sei, die es nie nötig gehabt hätten, sich ihren Weg zu erkämpfen. Es gelte vielmehr, durch ein mit modernen Methoden der Psychometrie und Beratung arbeitendes "Berufungswesen" dafür zu sorgen, dass die Begabungen jedes Menschen optimal zur Entfaltung kämen und alle den ihnen am besten entsprechenden Platz in der Gesellschaft fänden. Diesem "Berufungswesen" komme eine ebenso wichtige Bedeutung zu wie dem bisherigen "Bildungswesen": " Erziehung und Berufung hängen innig zusammen. Was nützt die glänzendste Bildung, die ein Volk seinen Kindern gibt, wenn es nicht Sorge trägt, dass dann auch der rechte Mann an den rechten Platz gelangt?" [38]
Was Laemmel hier will ist das, was heute als „Ausschöpfung der Begabungsreserven" diskutiert und gefordert wird. Dabei geht es Laemmel allerdings nicht primär um die Steigerung der Zahl der HochschulabsolventInnen und um eine bessere Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Sein primäres Anliegen ist vielmehr das Glück und die Zufriedenheit des Einzelnen; die Gesellschaft, die diesbezüglich am besten organisiert ist, wird auch – das war Laemmels Überzeugung –wirtschaftlich und menschlich am produktivsten und lebensfähigsten sein.[39]
Bereits ein Jahr zuvor hatte Laemmel sich in einem eigenen Buch ausführlich mit dem Thema "Intelligenzprüfung und psychologische Berufsberatung" befasst; in diesem Plädoyer für den 1923 erneut präsentierten Gedanken des "Berufungswesens" stellt er u.a. auch das Ingenogramm, einen von ihm entwickelten und 1920 in einigen Klassen der Zürcher Gemeinde Seebach offenbar auch praktisch erprobte Persönlichkeits- und Begabungstest vor.[40] Während die Resonanz auf seinen "Brief an alle Frauen" und seine "Erziehung der Massen" eher lau oder rundweg ablehnend war,[41] scheint diese Schrift endlich auf Anerkennung zu stossen. Jedenfalls wird er - vermutlich auf Grund dieser Arbeit - mit Wirkung vom 1. Oktober 1923 im thüringischen Kultusministerium als Oberstudienrat mit besonderer Aufgabe angestellt. Damit scheint sich ihm endlich das Betätigungsfeld zu öffnen, nach welchem er in Zürich seit dem Ende des ersten Weltkrieges vergebens gesucht hatte.
" Die Wirkung ins Größte ist uns versagt". Thüringer Hoffnungen und Enttäuschungen 1923 bis 1933
Laemmel muss mit seiner Familie bereits im Sommer 1923 oder noch früher nach Thüringen übersiedelt sein; vielleicht hatte er gewisse Zusagen aus Greils Volksbildungsministerium, dass man ihn dort einstellen wolle. Offiziell beschlossen wurde seine Anstellung am 4. September 1923; über seine Aufgaben heisst es im entsprechenden Beschluss des Thüringischen Staatsministeriums: "Dem Dr. Rudolf Laemmel in Dornburg wird eine Studienratsstelle (Gruppe X) mit Wirkung vom 1. Oktober 1923 ab übertragen. Er wird vom eigentlichen Schuldienst zunächst beurlaubt zur Mitwirkung bei Einrichtung der abgekürzten Sonderlehrgänge für begabte Berufsschüler durch Auslese der geeigneten Schüler mit Hilfe von Intelligenzprüfungen und durch Erteilung naturwissenschaftlichen Unterrichts."
Wir wissen nicht, wie sich Laemmels Tätigkeit während der nächsten Monate entwickelt hat. Die zu jener Zeit äusserst instabile politische Lage in Thüringen dürften bei der Durchführung seiner Untersuchungen jedenfalls nicht gerade geholfen haben. Im November und Dezember 1923 war es der deutschen Regierung zwar endlich gelungen, die ins Bodenlose gehende Inflation der Nachkriegsjahre zu stoppen; dieser volkswirtschaftliche Erfolg bedeutete allerdings für viele Menschen, darunter auch die Familie von Laemmels Frau, den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch und einen schweren Neuanfang. Dazu kamen die innenpolitischen Konflikte, die sich in Jenem Herbst wieder einmal zuspitzten: Ähnlich wie in Sachsen hatte die Beteiligung der Kommunisten an der thüringischen Regierung im Verlauf des Herbstes 1923 zu einer Erhöhung der Spannungen mit der Reichsregierung geführt. Aus Angst vor einem Generalstreik und einem möglichen Umsturz marschierten schliesslich - genau wie einige Wochen zuvor in Sachsen - am 5. November 23 auch in Thüringen Truppen der Reichswehr ein, woraufhin die thüringischen Kommunisten zum Widerstand aufriefen; als Folge davon wurde die einen knappen Monat zuvor gegründete Koalitionsregierung aus Kommunisten und Sozialdemokraten von diesen Mitte November wieder aufgelöst ...
Wie auch immer Laemmels Arbeit unter diesen Bedingungen angelaufen sein mag: Nach einem halben Jahr ist sein Traum bereits wieder ausgeträumt. Die neue bürgerliche Regierung Thüringens plant seine Stelle zu streichen. Offiziell werden Spargründe angegeben. Da eine Entlassung nicht möglich ist, wird er mit Beschluss vom 8. Mai 1924 „gemäss Art. 3 §1 (1) des "Notgesetzes über die Herabminderung der Personalausgaben" vom 28. Dezember 1923 mit Wirkung vom 1. Juli 1924 in den Wartestand versetzt. Als Studienrat im Wartestand erhält er 44% seines regulären Gehaltes sowie "den Frauenzuschlag und die Kinderbeihilfe".[42] - Laemmels am 8. April desselben Jahres unternommener Versuch, das Thüringische Volksministerium von der Notwendigkeit seiner Arbeit zu überzeugen, war dort offenbar nicht auf fruchtbaren Boden gestossen. Die Art und Weise, wie Laemmel sich gegenüber dem zuständigen Minister zu verkaufen versucht, lässt erahnen, wie schwierig seine Lage und die Lage seiner Familie damals gewesen sein müssen. Laemmel schreibt:
"Weder ich noch meine Frau besitzen das geringste Vermögen. Ich habe 7 Kinder. Was dies in der gegenwärtigen schwierigen Zeit heisst, muss ich dem Minister des Genaueren nicht auseinandersetzen! Ich habe mich seit Sommer 1923 gänzlich auf die Durchführung des im Februar (1924)-Memorandum erklärten Programms eingestellt, habe persönlich Zeit, Mühe und Liebe aufgewendet, anderweitige Beziehungen aufgegeben, um den von mir als wichtig und dringend erkannten Plan einer umfassenden wissenschaftlich begründeten Berufsberatung der aus der Volksschule Austretenden durchzuführen. Ich bin durch meine natürliche Begabung sowie durch vieljährige Erfahrung Spezialist für die Begabungsforschung und Berufsberatung. Warum soll ich als Arbeitskraft brachliegen, wenn sowohl das öffentliche Interesse an derartiger Beratung wie auch meine persönliche Eignung kaum bezweifelt werden kann. – Ich bin dabei, für die Durchführung meiner Beratungsmethoden auswärtige kapitalistische Hilfe (für die Einrichtung eines psychotechnischen Instituts) zu suchen. Auch hier bedeutet der Entzug der staatlichen Stellung die sichere Verunmöglichung des Planes." Laemmel schloss sein Schreiben an den zuständigen Minister Dr. Leuthäuser vom April 1924 mit der Bitte, "alle die angegebenen Umstände sachlich und menschlich zu erwägen und mit dem Abbau meiner Stellung zumindest noch zuzuwarten."
Laemmels Vorstoss blieb ebenso erfolglos wie die – vermutlich auf sein Ersuchen hin unternommene - Anfrage des Schweizer Konsulats in Leipzig, in welchem der Fall Laemmel beinahe zum Politikum wird. In seinem Schreiben vom 25. April 1924 macht der zuständige Konsul Minister Leuthäuser nämlich darauf aufmerksam, dass Laemmel in der Schweiz gegenwärtig unmöglich eine Stelle finden würde, "denn", so die vielleicht nicht ganz korrekte, aber moralisch wirkungsvolle Begründung, "in der Schweiz ist die Arbeitslosigkeit immer noch sehr gross, und es ist in der Schweiz das Verfahren bisher noch nicht ausgeübt worden, dass man Ausländer von den Stellen entfernt, um einem Inländer Platz zu machen. (...)". Der Schweizer Konsul schliesst sein nicht gerade taktvolles Schreiben mit der zeitgeschichtlich interessanten Feststellung, dass die Schweiz ausserordentliche Anstrengungen mache, Deutschland in jeder Beziehung helfend beizuspringen, obgleich auch die Schweiz finanziell schwer zu kämpfen habe. "Erst jetzt wieder hat sich ein Komitee gebildet, welches die Patenschaft der Stadt Jena übernommen hat und diese mit Lebensmitteln und Sachen zu versorgen beabsichtigt."
In der Antwort des Thüringischen Volksbildungsministeriums wird dem Schweizer Konsul gemäss einer Aktennotiz vom 9. Mai 24 versichert, dass es sich im vorliegenden Falle tatsächlich um eine rein sachlich begründete Sparmassnahme handle, die mit Laemmels Staatszugehörigkeit nichts zu tun habe. Interessant sind die in dem Schreiben gemachten Andeutungen darüber, weshalb Laemmels theoretisch sicher mögliche Verwendung im gewöhnlichen Schuldienst für die zuständigen Beamten damals offenbar auch nicht in Frage kam: "Da das Unterrichtsbedürfnis der höheren Schulen gegenwärtig die Verwendung einer Planstelle für andere als rein schulische Zwecke nicht zulässt, und da Dr. Laemmel nach Vorbildung und Eignung nicht in den Unterrichtsbetrieb einer hiesigen Schule eingestellt werden kann, so sind die Abbaubestimmungen anzuwenden. Es Bedarf keiner besonderen Versicherung, dass die frühere Staatsangehörigkeit Dr. Laemmels darauf ohne Einfluss ist. Wir dürfen noch bemerken, dass Dr. Laemmel vor seiner Anstellung in Thüringen nur in privaten Stellungen tätig war, und dass er mit der Versetzung in den Wartestand 40 v. H. seiner derzeitigen Bezüge behält."
Tatsächlich ging es bei dieser Aktion um mehr als eine blosse Sparmassnahme; man wollte ihn nicht mehr -, vielleicht wegen seiner Beziehungen zur Sozialdemokratie, vielleicht weil man mit seinem Temperament nicht zurecht kam. Wir wissen es nicht. Bis im Sommer 1933 kam die thüringische Regierung jedenfalls nie mehr auf Laemmels Angebot zurück, seine Tätigkeit vom Winter 1923/24 bei verbesserter Konjunktur wieder aufzunehmen. Laemmel wandte sich deshalb erneut seinen schriftstellerischen Projekten zu, wobei er die Pädagogik jetzt ganz hinter sich liess und sich als Aufklärer und Wissenschaftspopularisierer (ja gelegentlich sogar als Roman- und Kinderbuchautor) einer Fülle ganz neuer Themen zuwandte.[43]
1925 erscheint zunächst seine "Sozialphysik", eine gesellschaftspolitisch utopische Schrift über die Zukunft der menschlichen Arbeit. Es ist ein von vielen Tabellen und Graphiken begleitetes Plädoyer für die Befreiung des Menschen vom Zwang des täglichen Broterwerbs durch die gesellschaftliche Nutzbarmachung moderner Wissenschaft und Technik. Dabei geht es sowohl um die rationellere Nutzung natürlicher Resourcen als auch um eine rationalere Gestaltung der sozialen Organisation. Was Laemmel in dieser Schrift zum Thema Energiereserven sagt, klingt von heute aus gesehen verblüffend: Er spricht nicht nur von der möglichen Nutzbarmachung der Sonnenenergie und der Erdwärme und von der "Stoffkraft", d.h. der in den Atomen enthaltenen Energie. Er plädiert auch für den Bau gigantischer Windkraftwerke im Süden Lateinamerikas, für grosse Gezeitenkraftwerke und ähnlich futuristische Projekte. Anders als auf die „Erziehung der Massen" reagiert die NZZ auf Laemmels „Sozialphysik" eher wohlwollend. Man schätzt vor allem seine gründlichen Erläuterungen zu den technisch-wissenschaftlichen Aspekten der Ernährungs- und Energiefrage und seine diesbezüglichen Vorschläge.[44]
Wesentlich zwiespältiger fällt die Reaktion auf Laemmels 1927 veröffentlichte Biographie Galileo Galileis aus: Der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung schätzt zwar die Nüchternheit, mit der Laemmel sich dem Denkmal Galilei nähert, empfindet jedoch die zahlreichen zeit- und kulturkritischen Passagen des Buches, besonders die ausführliche Darstellung der damaligen Hexenprozesse und Laemmels ständige "Hiebe auf Gegenwart und Luthertum" als unangemessen und störend.[45]
Im selben Jahr wie seine Galileo-Biographie veröffentlicht Laemmel neben einigen kleineren Gelegenheitsarbeiten ein Buch mit dem Titel "von Naturforschern und Naturgesetzen". 1928 folgt sein bereits besprochenes Buch über den "modernen Tanz", und vier Jahre danach erscheint "Das moderne naturwissenschaftliche Weltbild". In diesem gegen 400 Seiten starken "Hausbuch für Naturfreunde und Grübler", so sein Untertitel, geht Laemmel auf die neuesten Erkenntnisse der Atomphysik, der Astronomie und Molekularbiologie ebenso ein wie auf Fragen der Vererbung und andere damals diskutierte Themen. Bei seinem Durchgang durch das naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit geht es Laemmel immer um die Frage, was diese Erkenntnisse für das Weltbild und Weltverständnis des modernen Menschen bedeuten oder bedeuten könnten. Dabei sind seine Schlussfolgerungen erstaunlich bescheiden, wenn wir an die Art und Weise denken, in der er noch zehn Jahre zuvor alle Probleme der Welt zu erklären und zu lösen versuchte. Diesmal gebiert er keine neue Logik, kein neues, die Welt erklärendes System. Im Gegenteil. Je mehr wir wissen, so Laemmels Fazit, desto klarer wird, dass dieses Wissen uns keine letzte Erkenntnis und keine letzte Wahrheit beschert, auf welcher wir unsere Welt aufbauen könnten. Nur das unmittelbar nahe können wir wirklich verstehen; in ihm liegt unsere Aufgabe und der letzte Sinn jeder Weltanschauung.
"Weltanschauung", so das melancholische Fazit am Ende seiner Darlegungen, "heißt also für uns nunmehr nichts anderes als Verhalten im kleinsten Kreise. Die Wirkung ins Größte ist uns versagt, die Arbeit aufs Große, z. B. das Volksganze, ist meist nutzlos und nie befriedigend, es bleibt nur die Gestaltungskunst des täglichen Lebens. Unsere Philosophie soll keine Maske für den Sonntag sein, sondern eine Lebensweisheit des Alltags. Unsere Weltanschauung ist bescheiden, sozusagen familiär. Aber das ist nicht die berechtigte Bescheidenheit des Naiven, sondern die doppelt berechtigte Bescheidenheit dessen, der nach langer Reise in fremde Weiten in die Heimat zurückkehrt und sagt: nur hier wohnt mein Glück!"[46] - So abgeklärt und ruhig sich Laemmel hier gibt: In seinen Worten sind der Schmerz und die Enttäuschung über die vielen, unerfüllt gebliebenen Hoffnungen seines bisherigen Lebens unüberhörbar.
" Der brennende Augenblick findet dürftige Menschen". Die Jahre nach 1933
Auf Grund des Reichsgesetzes über die "Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 wurde Laemmel im Sommer 1933 von den neuen Machthabern in Thüringen in den Ruhestand versetzt. Mit welchen Argumenten dies damals geschah lässt sich heute nicht mehr genau sagen, denn Laemmel war entgegen anderweitig geäusserten Vermutungen wenn nicht seinem Herzen, so doch dem Taufschein nach Katholik und kein Jude, eine Tatsache, welche seine in Österreich lebenden Verwandten einige Jahre später zu ihrem Glück mit einem amtlich beglaubigten Arierausweis dokumentieren konnten. Da Laemmel mit der Versetzung in den Ruhestand seine offenbar mit der Anstellung verbundene deutsche Staatsbürgerschaft verlor erloschen auch seine Ansprüche auf irgendeine Form der Pension oder Rente. Zu diesem Zeitpunkt hatten er und seine Familie Deutschland bereits verlassen und waren nach Zürich zurückgekehrt. Zwar hatten die rechtspopulistischen Bewegungen in der Schweiz damals ebenfalls einen grossen Zulauf, doch war man hier seines Lebens immerhin noch sicher, auch wenn man Jude oder Sozialdemokrat war, und man konnte reden und schreiben!
Das wirtschaftliche Überleben war für die grosse Familie anfänglich allerdings sehr schwierig. Auch in der Schweiz herrschte Arbeitslosigkeit und der inzwischen über 50 jährige Laemmel war froh über jede Arbeit, mit der er ein paar Franken verdienen konnte. Er habe, so erinnert sich sein Sohn, in der ersten Zeit nach der Rückkehr u.a. in der Zürcher Zentralbibliothek alte, aus dem Leim gegangene Bücher restauriert, bevor er dann eine Stelle als Lehrer an der Juventus-Schule, also an eben der Schule, in welche sein Reformgymnasium nach dem ersten Weltkrieg eingegangen sei, erhalten habe. Später – vermutlich um 1945/46 - wurde er dann als Physiklehrer an das neu eröffnete Zürcher Abendtechnikum berufen, wo er mit grosser Freude bis kurz vor seinem 80. Geburtstag unterrichtete.
Neben der Unterrichtsarbeit setzte Laemmel seine schriftstellerische Tätigkeit auch in der Schweiz fort; so erschienen in den 1940er Jahren eine Einführung in die Physik, eine an seine "Sozialphysik" anschliessende Arbeit über die auf der Erde bestehenden Energiereserven, einschliesslich der grossartigen Möglichkeiten der noch ganz ungenutzten Wind- und Sonnenenergie, sowie eine Darstellung der Schweizerischen Elektrowirtschaft. Dazu kamen zahlreiche Zeitungsartikel und, wenn sich eine Gelegenheit bot, auch Vorträge. Jetzt allerdings eher in kleinem Kreis, im Atelier des Malers Jona beispielsweise. Gelegentlich sprach er auch am Radio und versuchte sich sogar als Hörspielautor.[47]
Eine besondere Stellung unter Laemmels Veröffentlichungen aus jenen Jahren nimmt die 1936 erschienene populärwissenschaftliche "Einführung in die Grundprobleme der Rassentheorie" ein. Laemmel zeigt darin auf rund 300 Seiten, dass alle Menschen untereinander viel näher verwandt sind als man dies gemeinhin annehme, und dass die Konstruktion von klaren Rassengrenzen, welche für die Konstruktion des arischen Menschen so wichtig war, aufgrund der starken Durchmischung der Menschen vom wissenschaftlichen Standpunkt aus äusserst problematisch sei.
Mit diesem Buch reagierte Laemmel auf die von den Nationalsozialisten gepredigte Lehre der Überlegenheit der arischen Rasse - eine Lehre, die damals auch in der Schweiz eine grosse - zu grosse - Anhängerschaft hatte. Da dieses Thema ein ideologisches Kernstück dieses menschenverachtenden Regimes sei, sei es die Pflicht der Wissenschaft, soweit sie noch frei sprechen dürfe, sich einmal sachlich und in allgemeinverständlicher Form zu diesem Thema zu äussern. "Zur Zeit, da dieses Buch erscheint", so schreibt Laemmel im Vorwort, "stehen die 68 Mio. Deutschen des Dritten Reiches unter dem unerhörten Druck eines Parteiregimes. Jede Art Freiheit ist dort abgeschafft. Es gibt keine Freiheit der Meinungsäusserung, auch nicht in der loyalsten Form (...). Jede Art geistige Produktion ist im Dritten Reich unter Kuratel gestellt. (...) Eine kraftvolle Agitation für die Rassenlehre, für die kriegerische Rüstung des Volkes, für die Erlangung der Vorherrschaft in Europa wirkt seit Jahren auf die Seelen der Deutschen und hat ihr vorläufiges Ziel keineswegs verfehlt: Das Dritte Reich gleicht einem Heerlager. (...)".Dann fährt er - mit Blick auf seine schweizerische Umgebung - fort: "Viele im Lande schweigen. Das ist ein Schweigen der praktischen Gleichschaltung. Es wird dabei ein historischer Moment schmählich verpasst. Der brennende Augenblick findet dürftige Menschen."[48]
Die Reaktionen auf Laemmels Buch sind ein aufschlussreicher Spiegel der geistigen Situation jener Jahre. Die Schweizer Presse reagierte schnell und erstaunlich positiv. Was man begrüsste war allerdings nicht so sehr Laemmels kompromissloses Eintreten für die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Rassen und Kulturen und seine klare Ablehnung jeden theoretisch verbrämten Antisemitismus'. Diese in der damaligen Schweiz relativ seltene Eindeutigkeit der Stellungnahme wurde lediglich von einigen linken Blättern hervorgehoben. Nein, was die grosse Mehrheit der Schweizer Rezensenten mit Befriedigung feststellten war die Tatsache, dass Laemmel in seinem Buch u.a. auch sehr deutlich für die von den nationalsozialistischen Theoretikern so sehr geschmähte ostalpine Rasse eintrat, dass er sich also gewissermassen öffentlich gegen die ständige Beleidigung der Schweiz zur Wehr setzte und die entsprechenden Anschuldigungen mit viel wissenschaftlichem Schwung zurückwies.[49] Eine der wenigen Schweizer Zeitungen, welche sich kühl bis ablehnend über Laemmels Rassenlehre ausliess, war die Neue Zürcher Zeitung, zu welcher Laemmel in früheren Jahren recht enge Beziehungen gehabt hatte, für die er jedoch schon seit einiger Zeit nichts mehr schrieb. Der Rezensent der NZZ empfand es als Zumutung, dass auch Laemmel sein Buch "nur um der Judenfrage willen" geschrieben habe. Er kritisiert Laemmels Beweisführung als ebenso widersprüchlich wie die Argumente der nationalsozialistischen Rassentheoretiker, und er bestreitet - mit Blick auf ein weiteres Buch zur Rassenfrage und im scheinbaren Glauben, dass Laemmel Jude sei - das Recht bestimmter Autoren, "alles mögliche ungereimte und verzerrte Zeug zum besten zu geben, bloss weil sie Angehörige jenes Volkes sind, das man in manchen Ländern heute wieder aus sozusagen mythischen Gründen verfolgt."[50]
Die in Rom erscheinende, von Jesuiten getragene Zeitschrift „La Civiltà Cattolica" distanzierte sich im Sommer 1938 in einer ausführlichen Besprechung ebenfalls von Laemmels Buch. Obschon die Zeitung die nationalsozialistische Politik gegenüber den Juden genauso wenig gut heissen kann wie Laemmel wird doch kritisiert, dass dieser in seinem Eifer die dauernde Verfolgung der Christen, insbesondere der katholischen Kirche durch die Juden und die Beziehungen der Juden zu Freimaurern, Sozialisten und anderen antichristlichen Gruppierungen zu leicht nehme. Im übrigen lasse sich die grundsätzliche Einheit der Menschen nur auf dem Boden einer christlich katholischen Weltsicht wirklich begreifen und leben -, so wie ja auch die gegenwärtigen Wirren in Deutschland nur als Folge des im 16. Jahrhundert dort geschehenen grossen Abfalles verstanden werden können.[51]–Der grosse Augenblick fand tatsächlich ziemlich viele dürftige Menschen.
Trotz des beträchtlichen Erfolges seiner Rassenlehre bleibt Rudolf Laemmel ein Aussenseiter. Es ist auch jetzt wieder als ob er - wie damals nach dem ersten Weltkrieg - nirgends wirklich dazu gehört. Er ist kein öffentlicher Mensch, kein charismatischer Führer, kein erfolgreicher Lehrer mit einem ständig wachsenden Kreis von Schülern.[52] Seine manchmal unbequemen Stellungnahmen und seine ungewöhnlichen Ideen und Vorschläge irritieren seine Mitmenschen. Doch inzwischen scheint er sich mit dieser Situation etwas ausgesöhnt zu haben. Seiner 1932 gezogenen Lebensbilanz entsprechend lebt er mehr und mehr im und für den kleinen Kreis, die Familie, Freunde. Er bittet die Hausierer, die an der Türe der Laemmelschen Wohnung klingeln, in die Stube und unterhält sich stundenlang mit ihnen. Er hilft irgendwelchen Menschen, denen er auf der Strasse begegnet -, gibt hier einen Rat, vermittelt dort eine Adresse oder schreibt ein Gesuch. Dazu erteilt er mit Liebe und Erfolg Nachhilfeunterricht in Mathematik und Physik; er tut es, um zu helfen und um das nach wie vor knappe häusliche Budget aufzubessern.
Sein Rückzug aus dem öffentlichen Leben ist jedoch kein Verzicht auf Engagement und Konfrontation, wenn ihm dieses richtig und wichtig scheint. So ist es für ihn und seine Frau selbstverständlich, dass die zu Flüchtlingen gewordenen Freunde und Bekannte aus Deutschland und Österreich, die 1938/39 immer öfter bei Laemmels auftauchen, für eine Nacht, eine Woche, zehn Tage aufgenommen werden - manchmal drei oder vier Menschen in der engen Wohnung -, bis man eine "andere Lösung" für sie gefunden hat. Und einige Jahre später, nach dem Krieg, als man in der Schweiz hitzig um den Rheinwaldstaudamm stritt, durch dessen Bau das Bergdorf Splügen und ein Teil von Mendels überflutet worden wären, gehörte Laemmel mit zu denen, die sich zusammen mit der lokalen Bevölkerung gegen dieses Projekt der Elektroindustrie zur Wehr setzten und es schliesslich verhinderten.
In den 50er Jahren veröffentlicht Rudolf Laemmel seine letzte grosse Arbeit. Es ist eine umfangreiche Studie über "Newton und sein Zeitalter". So wie seine Auseinandersetzung mit Galilei wird auch seine Auseinandersetzung mit Newton zu einem gross angelegten Versuch, im Spiegel der Geschichte die geistigen und psychologischen Gesetze zu erkennen, die unser Verhalten und die Entwicklung unserer Kultur beeinflusst haben und beeinflussen. Noch einmal tauchen die drei grossen Denker auf, die ihn sein Leben lang beschäftigt haben: Newton, Galilei und Einstein, und er fragt sich, wer wohl den wesentlichsten Einfluss auf die Entwicklung der abendländischen Kultur gehabt habe.
Mit fast 80 Jahren gibt Rudolf Laemmel seine Tätigkeit am Abendtechnikum auf, um sich, wie die Zeitungen zu seinem 80. Geburtstag schreiben, neuen schriftstellerischen Projekten widmen zu können. Am 9. August 1962 verstarb er, 83 jährig, nach längerer Krankheit in Zürich, bis zum Schluss liebevoll umsorgt von seiner Frau.
"Ich sehe ihn immer an seiner Schreibmaschine sitzen", sagt Klaus Laemmel in Erinnerung an die letzten Jahre seines Vaters. "Er hat immer etwas getan - geschrieben, gelesen oder gerechnet. - Und dann sehe ich ihn, wie er am Fenster seines Arbeitszimmers steht und durchs Fernrohr schaut, und ich höre ihn sagen: "Zwei Dinge - zwei Dinge brauchen wir: Die Sterne und die Liebe"."
Schluss
Rudolf Laemmel soll hier nicht posthum zu einem verkannten Genie oder einer von der Geschichte zu Unrecht übergangenen Grösse emporstilisiert werden. Seine praktischen Initiativen als Reformpädagoge und Erwachsenenbildner haben auch da, wo sie mehr waren als blosse Träume, keine bleibenden Spuren hinterlassen, und seine Versuche der Popularisierung damaliger Erkenntnisse aus dem Bereich der Physik und aus anderen Bereichen der Wissenschaft waren in ihrer Zeit wohl gute, ansprechende Leistungen, entsprechen jedoch sowohl in Bezug auf ihren Inhalt als auch in Bezug auf ihre Form dem heutigen Stand längst nicht mehr. Er bleibt in vielem zeitgebunden, ja sein aufklärerischer Rationalismus und sein naiver Wissenschaftsglaube scheinen dem 18. und 19. Jahrhundert oft näher als seiner eigenen Zeit. Weshalb dann an ihn erinnern? Weshalb sich heute mit ihm befassen? – Nun, vielleicht um uns selber daran zu erinnern, dass wir diese Welt nicht einfach den Ausnahmemenschen, den 20 oder 50 grossen Namen eines Jahrhunderts überlassen können, sondern dass wir uns, trotz aller Beschränktheit der Kräfte und trozt aller Rückschläge, täglich selber um sie bemühen müssen.
Rudolf Laemmel hat sich nicht in irgendeinen Winkel der Wissenschaft oder eine stille Schulstube zurückgezogen, um dort in Sicherheit vor sich hin zu werkeln. Er hat auf seine Zeit reagiert, hat an ihr gelitten und sich in ihr engagiert. Dabei sind seine theoretischen und praktischen Anregungen oft originell und auch aus heutiger Sicht alles andere als überholt. Dass er äusserlich gesehen keinen grösseren Erfolg in seinem Leben hatte mag mit ihm, seinem "Charakter", zu tun gehabt haben. Vielleicht war er, um erfolgreicher zu sein, letztlich zu unstet, zu sehr Enthusiast und Schwärmer; schoss damit vielleicht auch zu häufig über sein Ziel hinaus oder war schon bei einem nächsten oder übernächsten Projekt, wenn man ihn noch beim ersten suchte. Sein mangelnder Erfolg hat jedoch mindestens so sehr damit zu tun, dass er in einem Umfeld lebte, welches mit seiner Art des wissenschaftlich denkerischen Temperaments, der Intensität seines Fragens und seiner ins utopische gehenden Sehnsucht nach einer heilen Welt wenig anzufangen wusste - noch heute wenig anzufangen weiss -, ein Umfeld, welches mit ängstlichem Misstrauen auf alle leidenschaftlichen Menschen reagiert und sie gerne als Träumer oder Spinner abtut, weil sie es wagen, grosse Fragen zu stellen und grosse Vorschläge zu machen anstatt sich an kleine, überschaubare Dinge zu halten! - Die Tatsache, dass Rudolf Laemmel, der Unruhestifter und Frager, von seiner Zeit so wenig wahrgenommen wurde hat so gesehen vielleicht mehr mit den Defiziten und Problemen dieser Zeit als mit seinen eigenen Unvollkommenheiten zu tun.
Auswahlbibliographie:
Laemmel, R.: Die Methoden zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten. Zürich 1904
Laemmel, R.: Notizen über die Atomwärme fester Elemente. Leipzig 1905
Laemmel, R.: Bemerkungen über die spezifischen Wärmen fester Grundstoffe. Leipzig 1907
Laemmel, R.: Reform-Gymnasium Zürich. Kurzer Prospectus. Zürich 1908
Laemmel, R.: Die Reformation der nationalen Erziehung. Mit einem Vorwort von Ernst Mach. Verlag von E. Speidel, Zürich-Oberstraß 1910
Laemmel, R.: Die Volkshochschule. Kritisches, pädagogisches und Programmatisches. Verlag Speidel und Wurzel, Zürich 1919
Laemmel, R.: Brief an alle Frauen der Welt. Meilen, Verlag des Verfassers 1921a
Laemmel, R.: Die Grundlagen der Relativitätstheorie. Springer, Berlin 1921b
Laemmel, R.: Wege zur Relativitätstheorie. Franckh, Stuttgart 1921c
Laemmel, R.: Intelligenzprüfung und psychologische Berufsberatung. Verlag des Verfassers, Meilen bei Zürich 1922
Laemmel, R.: Die Erziehung der Massen. Grundlagen der Staatspädagogik. Jena 1923
Laemmel, R.: Sozialphysik : Naturkraft, Mensch und Wirtschaft / Stuttgart, 1925
Laemmel, R. (Hrsg): Uraniakalender für das Jahr 1927. Urania Verlagsgesellschaft, Jena 1926
Laemmel, R.: Galileo Galilei im Licht des zwanzigsten Jahrhunderts. Berlin: Franke, 1927
Lämmel, R.: Moderne Elektrowirtschaft. Urania Verlagsgesellschaft, Jena 1927
Lämmel,R.: Von Naturforschern und Naturgesetzen. Verlag Hesse & Becker, Leipzig 1927
Laemmel, R.: Der moderne Tanz. Eine allgemeinverständliche Einführung in das Gebiet der rhythmischen Gymnastik und des neuen Tanzes. Berlin-Schöneberg 1928
Lämmel, R.: Das moderne naturwissenschaftliche Weltbild. Berlin 1932
Laemmel, R.: Die menschlichen Rassen. Eine populärwissenschaftliche Einführung in die Grundprobleme der Rassentheorie. Mit einem Vorwort von Dr. Wilhelm von Gonzenbach. Jean Christoph Verlag, Zürich 1936
Laemmel, R.: Physik für Jedermann. Eine Einführung. 1946
Laemmel, R.: Energie der Welt. Wädenswil 1947
Laemmel, R.: Miszellen um Newton. Selbstverlag 1954a
Laemmel, R.: Von den Anfängen der Schule. In: "Herrn Direktor S. Weyland zum 75. Geburtstag". Unpaginiert. Druck H. Börsigs Erben AG, Zürich 1954b
Laemmmel, R.: Isaac Newton und seine Zeit. Buechergilde Gutenberg, Zürich 1957