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An Herr und Frau Ost, im August 1991

Liebe Frau Ost, lieber Herr Ost, Sie erinnern sich: Bei Krimsekt soll man nicht sparen -, wir wollen drum nach Deutschland fahren, und, so wie's geraten, dort nicht sparen! Als Dank für Ihren Notvorrateschrank! Falls es was zu feiern gibt, oder auch - ganz wie's beliebt, wenn's nichts zum Feiern gibt! So weit für heut die Poesie - was jetzt noch kommt ist ohne sie!

Ja, sie zwei gute und gastfreundliche Menschen!

Wir sind ja schon bald 3 Wochen wieder in Basel. Dass wir unsere Reise überstanden und wo wir überall gewesen, das haben sie inzwischen ja vernommen. Ein Zollbeamte bot sich an der Schweizer Grenze freundlicherweise an, die auf dem Weg von Hamburg nach Basel an Sie geschriebene, bereits mit deutschen Briefmarken beklebte Karte, für uns einzuwerfen. Von Basel aus, hätten wir die Karte nicht mehr schicken können.

Die Reise war alles in allem sehr interessant. Die Zeit bei Ihnen sowieso, und dies nicht zuletzt dank Ihnen, dank der interessanten Gespräche, der guten Tipps und Ihren Chauffeur- und Fremdenführerdiensten. - Von Lehnstedt bzw. Weimar sind wir gleich nach Dresden durchgefahren; haben Leipzig nur aus der Eisenbahn betrachtet. In Dresden haben wir zweimal übernachtet, bei Privatleuten, deren Adresse wir durch eine bereits recht gut ausgebaute Zimmervermittlung erhalten hatten. Freundliche Menschen, die wir allerdings kaum gesehen haben, da wir die ganze Zeit auf Achse waren: Zwinger, Albertinum, Frauenkirche, Elbeufer, Semperoper -, dann am nächsten Tag Meissen und Moritzburg. Moritzburg hat uns beiden besonders gut gefallen, während vor allem Renzo von der Stadt Dresden ziemlich enttäuscht war. Zwar wird auch dort jetzt viel restauriert, aber man scheint seit Kriegsende insgesamt so wenig gemacht und zugleich an vielen Stellen so schnell und lieblos dazwischengebaut und -geklotzt zu haben, dass die Stadt eher Schrecken als Genuss und Freude hervorruft.Bevor wir Dresden verliessen, machten wir noch einen kurzen Abstecher in Richtung südliche Schweiz. Wir fuhren in einem sehr konfortablen, doppelstöckigen Vorortszug bis Raten (wohl 40 km elbaufwärts). Kurz vor Raten verwandelte sich - fast von einem Moment zum andern - die zuvor mit Fabriken und Industrieanlagen aller Art vollge­packte Landschaft zu einer äusserst friedlichen Idylle, die mir selbst sehr gut gefallen hat. Da wir am selben Mittag Richtung Rögen abfahren wollten – den Vormittagszug hatten wir um wenige Minuten versäumt - waren wir nur eine gute Stunde in Raten, gerade lange genug, um ein kurzes Bad in der dort sehr sauberen Elbe zu nehmen (das, hab ich, Martin, getan), einen kleinen Trabbi, made in China zu kaufen (das war Renzos Tat) und uns einen leckeren Eiskaffee zu Gemüte zu führen (das war unser gemeinsamer Nenner). Am Mittag ging's dann auf nach Rögen. Aus den ca. 6 Stunden, die die Bahnreise dauern sollte, wurden wegen Sturm fast 8 Stunden, sodass wir

erst sehr spät am Abend in Bins ankamen. Wir fanden nach längerem Suchen noch ein Zimmer im ehemaligen Rosa-Luxemburg©Haus, das heute "Strand-Promenade" oder so ähnlich heisst. Am nächsten Tag stellten wir, was wir schon am Abend vorher geahnt hatten: wir waren im nobelsten und grössten Touristenort der Insel -, ganz und gar nicht in dem idyllischen Dörfchen, von dem wir träumten. Also auf: weiter gesucht. ... Die Suche dauerte eigentlich bis wir Rögen nach ca. 5 Tagen verliessen. Wir haben zwar auch dort viel Interessantes gesehen und gehört, aber die Ruhe und Erholung, die wir wollten, fanden wir nicht. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr war dies Jahr bereits wieder sehr viel los. Zwar sind ein grosser Teil der Ferienheime zur Zeit geschlossen - vieles soll auch abgerissen oder umgebaut werden -, doch die Plätze, die da sind - Privatunterkünfte, Hotels, Pensionen - waren voll, und die Insel erschien uns insgesamt bereits wieder ziemlich belebt und voll. Nun, schliesslich sind wir wieder gen Süden gefahren, habe noch einen Abend und eine Nacht in Hamburg zugebracht, uns die Reperbahn angeschaut und die obligate (und lohnende) Hafenrundfahrt gemacht und sind dann per ICE (Intercity Express) mit beeindruckend 250 km pro Stunde Höchstgeschwindigkeit nach Basel zurückgefahren.

Hier hat uns nun der Alltag wieder. Renzo ächzt und stönt wegen des Seminars, überlegt, ob er diese Zweitausbildung vielleicht doch abbrechen und auf seinen alten Beruf zurückkehren soll. Ich habe mich mit einer weiteren Nummer unserer neuen pädagogischen Zeitschrift herumgeschlagen, Artikel redigiert, recherchiert und selbst ein wenig geschrieben. In nächster Zeit will ich für ein paar Tage in die Berge, zu meinen Eltern nach Reuti und in die Ecole d'Humanité in Goldern, dem Nachbardorf von Reuti. In Reuti möchte ich meine Eltern wiedermal sehen und sprechen, dazu Verwandte, die dort zur Zeit Urlaub machen. In Goldern will ich das Zimmer, das ich während der letzten beiden Jahre dort an der Schule hatte, aufräumen, da ich meine Arbeit dort oben so gut wie abgeschlossen habe. Was danach geschieht ist noch einigermassen unklar.

Wir haben seit unserem Besuch bei Ihnen immer wieder daran gedacht, wie es Ihnen wohl geht. Was haben die hohen Herren entschieden in Bezug auf Ihre Stellen? Hat man Sie in Ihrer Arbeit bestätigt oder stehen Sie auf der Strasse? Und, falls einer von Ihnen die alte Arbeit nicht mehr tun darf, was für Pläne haben Sie? Wie kommen die nötigen Märker für das tägliche Brot zusammen? Was geschieht sonst im Lande Türingen? Und was in Weimar und in Lehnstedt?

Wir wüschen Ihnen jedenfalls Alles Gute - Glück in diesen turbulenten Zeiten und neben den schwierigen, bedrückenden Erfahrungen doch auch solche, die wieder Mut machen und helfen, nicht aufzugeben!

Wir würden uns sehr freuen, einmal kurz von Ihnen zu hören, wie's nun steht, wie's Ihnen beiden geht, ob Sie Reisepläne oder (notgedrungen) berufliche Neuorientierungspläne haben! Lassen Sie doch mal kurz von Sich hören!

Indem ich Ihnen noch einmal ganz ganz herzlich für die gewährte Gastfreundschaft danke grüsse ich Sie auch im Namen von Renzo herzlich,

Martin Näf