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Lieber Armin, 10. Juli 1990

Es würde Dir gefallen, mit mir in Briefkontakt zu bleiben bzw. zu treten. Ja. Eine spannende Idee! Aber wie anfangen?

Ich wüsste ja gern einiges von Dir, wenn du also schreiben magst, dann erzähl mal frisch drauf los: ein wenig von dem, wie Du lebst, auch wo, wie Du Deine Zeit verbringst, auch was Du arbeitest oder (vielleicht noch interessanter), was Du gerne arbeiten würdest und wie du gerne leben würdest, wenn du könntest, wie du möchtest ... Ich selbst würde mit dir sehr gern ein Stück weit über dein / mein Schwulsein ins Gespräch oder ins Geschreibe kommen - natürlich nicht nur, aber doch auch sehr! -, denn mit dieser Sache fühle ich mich, das schrieb ich ja schon, als ich mich für's Männertreffen anmelden wollte, tatsächlich ziemlich isoliert, in diesem Bereich habe ich ziemlich zu kämpfen, um innerlich am Leben zu bleiben und allmählich mehr Boden zu gewinnen für mein Dasein als Mann, der gern mit Männern ist. Wenn ich so über mein Leben hinkucke - ich wurde vor 3 Tagen 35, was wiedermal ne gute Gelegenheit dazu war -, dann spüre ich in diesem Bereich (Schwulsein, Liebesbeziehungen, sinnliches, körperliches Leben) die grösste Enge und auch wenig innere Kräfte, mich mutig mit diesem Thema zu befassen. Das ist wohl Erziehungssache: in vielen andern Dingen habe ich von meinen Eltern sehr oft gehört: "du kannst, wenn du willst", aber Beziehungen zu Männern aufnehmen, sie zu vertiefen, mich zu öffnen, ein Risiko und noch eins einzugehen etc., das kam in meiner Umgebung damals nicht vor und wenn's mal auftauchte, hat man dezent darüber hinweggeschwiegen und sich schnell wieder auf sichereres Gelände gehüstelt. Ich habe kürzlich "zum Greifen nah" von James Baldwin gelesen (ich weiss nicht ob du den ziemlich langen Roman kennst): an einer Stelle schreibt er, wie sein "Bruder" Arthur, ein schwuler Gospelsänger, um den sich der ganze Roman dreht, im Grunde ständig mehr oder weniger klar unter dem Gefühl der Diskriminierung und des Andersseins leidet, wie ihn dieses Grundgefühl immer wieder dämpft und schüchtern macht. Baldwin lässt irgendeine Figur in dem Roman an der Stelle von "verdammter Diskriminierung" oder so was ähnlichem reden. Da merke ich, dass ich schon zu sehr "erzogen" bin, um so was zu sagen, denn ich empfinde eine solche im Grunde andauernde Diskriminierung zwar tatsächlich, aber sie scheint meistens so subtil und fein, so höflich und selbverständlich ruhig, dass ich selber sie oft gar nicht klar ausmachen kann, und die Situationen, in denen ich das Diskriminiert sein klar empfinde, sind so "harmlos", dass ich immer wieder das Gefühl kriege, es sei doch nicht recht, sich über so was "banales" so aufzuregen. Dabei sind es wirklich häufig diese ganz "kleinen" Dinge, die mich innerlich irgendwie mürbe machen, z.B. die Tatsache, dass in jedem Schlager, der dir irgendwo aus einem Radio entgegenplärrt und der von "Liebe" handelt, mit arschkalter Selbverständlichkeit von der Liebe zwischen Mann und Frau gesungen wird, oder die Tatsache, dass in biographischen Angaben zu irgendwelchen Leuten (ich schlage mich im Zusammenhang mit meiner Arbeit zur Zeit mit solchen Dingen herum) häufig und wieder ganz selbverständlich was von "heiratete am ..." etc. steht, ich aber noch nie einen Eintrag gefunden habe, wo es hiess: "Lebte bis ... mit seinem Freund ... zusammen". Natürlich: die einzelnen Beispiele sind in gewissem Sinn banal (was kratzen mich diese Lexikoneinträge!?), aber irgendwie sind sie in ihrer Summe eben doch nicht banal -, und für mich habe ich jedenfalls das Gefühl, ich muss mich da immer wieder aus irgend einer dicken Schicht von Mist herausbuddeln - harmlose Sätze, Bilder und Beobachtungen, die mir ständig einzuflüstern scheinen: "so ist es richtig, nicht andersrum! ..." Lieber Armin: ich würde mich freuen, in nächster Zeit einmal von Dir zu hören! Sei nicht schüchtern: überschwemme du mich ruhig so, wie ich dich überschwemmt habe. Dabei lass Deine Gedanken und Worte ganz in die Richtung gehen, in die sie gehen wollen! - Leb wohl, und Danke für's Zuhören! Martin