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An Martha und Willi H., im Dezember 1990

Liebe Martha, lieber Willi! Ich bin dabei, aufzuräumen, Paierberge auf meinem Schreibtisch abzutragen, Dinge, die in den letzten Wochen liegen geblieben sind zu erledigen etc. etc.. Irgendwann, so hoffe ich, komme ich dann zu den besinnlichen, persönlichen Neujahrsbriefen und zu den nachweihnächtlichen Dankesbriefen ... Irgendwann - ja, das hoffe ich!

Euch will ich aber nicht auf dieses ungewisse "irgendwann" warten lassen. Nein, euch will ich gleich jetzt danken. Ich habe mich sehr gefreut an eurem lieben Päckchen, das ich hier bei mir am 24. abends ausgepackt habe: gefreut über die ganz unerwartete Musik, die ich da drin fand, über die Schokki und über das Schellenband. Dieses klingt ganz hervorragend; ich war völlig überrascht über den starken, hellen Klang dieser Schellen; bis jetzt habe ich diese Bänder eher als Notbehelf, nützlich, aber doch eben behelfsmässig empfunden, doch das hier ist ein richtig erfreulicher Klang- bzw. Klingelkörper. Für alles also ganz herzlichen Dank! - Die Musik-Kassette eignet sich übrigens ausgezeichnet zum Mitspielen und Mitimprovisieren, da die meisten Stücke eine harmonisch sehr einfach Anlage haben. Ich habe sie gleich am heilig Abend durchgespielt und mit abwechselnd mit Klavier und Klarinette begleitet, etwas, was ich hier, in unserem Haus, noch nach Mitternacht tun kann, ohne dass mir die Nachbarn den Besen durch die Decke rammen oder die Polizei bei mir anruft.

Ich habe mich natürlich sehr gefreut, nach den ersten Schreckensnachrichten wegen Deinem Ohr, Martha, bald wieder besseres zu hören. Schon was mir Hanspeter und Heidi zwei Tage nachdem ich Dich auf dem Weg von Oma zum Bahnhof auf der Strasse getroffen hatte, erzählten, klang eher hoffnungsvoll, und was ich seither hörte, klingt ja schon fast wieder gut. Dass ich für euch beide hoffen, dass ihr in dieser Sache endgültig mit dem Schrecken davongekommen seid und sich etwas derartiges auch nicht wiederholt, das könnt ihr euch denken! Natürlich weiss man so was ja nie und hat es letztlich auch nicht in der Hand, aber wenn's nicht sein muss, ist es sicher auch recht. Ich habe seit einer Woche keine Nachrichten mehr über euer ergehen, auch nicht über Dein Ohr, Martha. Ich hoffe aber, dass sich der gute Trend vor Weihnachten noch fortgesetzt und Du wieder möglichst gut hergestellt bist! Und ich hoffe und wünsche, dass es euch überhaupt gut geht, körperlich und in der Seele, allein und zusammen!

Von mir kann ich das derzeit ganz überzeugt sagen: ausser dass ich im Augenblick ziemlich übermüdet und deshalb innerlich etwas leer bin, geht's mir schon seit längerem wirklich gut. Ich staune zwar immer wieder, in was für Mengen von Arbeit ich mich mehr und mehr verstricke (obwohl ich immer alles abgeben und reduzieren will), habe auch das Gefühl, dass das Alles eigentlich gar nicht zu schaffen ist, dass ich überall nur noch ganz oberflächlich etwas tun kann etc., gleichzeitig spüre ich aber auch viel Tatkraft in mir und viel Lust auf all diese Dinge, sodass ich halt doch immer wieder "ja" sage: wie alles geht, wird sich in den nächsten Monaten zeigen, wenn wir mit dem Aufbau der Vereinigung der freien Schulen der Schweiz beginnen, vielleicht ein eigenes Vereinsorgan (auch für ein weiteres, interessiertes Publikum) ins Leben rufen, und ich nun endlich auch an dem Geheeb-Buch schreibe, statt wie bisher nur immer mehr Material zu sammeln und zu sichten, Notizen zu machen und mich in irgendwelchen Detailfragen weiterzubilden. - Ja: die Vereinigung, die Zeitschrift und das Buch sind die drei grossen Projekte, die mich gegenwärtig beschäftigen. Die Vereinigung und die Zeitschrift sind Dinge, die ich nur in Zusammenarbeit mit andern tun kann und will; das Geheeb-Buch ist dagegen eine Sache, in der es letztlich vor allem auf mich ankommt. - Neben diesen drei grossen Dingen ist da ein ständiges Quirlen und Gurgeln von kleineren Sachen, die auftauchen, wichtig werden und dann wieder versinken: Besprechungen in der Ecole über die Zukunft der Schule -, einzelne Menschen (Erwachsene und Jugendliche), die etwas von mir wollen -, ein Forum "Freiheit im Schweizer bildungswesen", das sich in Zürich zur Zeit bildet und wo ich gerne auch etwas dabei wäre -, das "Anna-Göldin Gymnasium" in Basel, ein freies Gimmi, wo ich vorübergehend in der "Werbegruppe" mithelfe, um meinen Teil mit dazu beizutragen, dass dieses spannende Experiment weitergehen kann! - Daneben ist immer wieder ausreichend Platz für "Privates", Freunde, Musik, Nichtstun, Herumgammeln, Briefe oder Tagebuch Schreiben etc. etc. - Wie gesagt: ich bin ganz überrascht, wie voll und wie schön das Leben zur Zeit ist!

Ich höre hier auf mit erzählen und wende mich wieder der Aufräumerei zu, damit ich noch ein bisschen etwas erledigen kann, bevor ich nach Riehen aufbreche, um mich dort mit Pina und ihrer Freundin Andrea (beiden waren mal in der Basler Blindenschule vor ca. 14 Jahren meine Schülerinnen) zu treffen. Habt beide noch einmal ganz herzlichen Dank für die liebe Weihnachtsüberraschung und macht euch auf ein ganz wunderbares Jahr gefasst -, dann ist die Chance vielleicht am grössten, dass es auch ganz wunderbar wird!

Lebt beide wohl! Viele und herzliche Grüsse,