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An Renzo C., im September 1991

Hochliebster Renzo! Freude meines Herzens, Freude meines Leibes, Freude meiner Seele

K.O. nach wieder unruhvoll verbrachter Nacht, hab ich heut früh schon dies und das gemacht. Doch könnt' ich, wie ich will, so läg' ich jetzt ganz still bei Dir!

Weil das nicht geht, umarm ich Dich auf indirekte Weise und schicke ein Gedicht von Hermann Hesse auf die Reise als lieben Gruss von mir zu Dir!

STUFEN

Wie jede Blühte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen. Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht erschlaffen; nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden. Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden! Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!