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Vierter Brief: Sonne, Palmen, Kaffee, aber was mache ich hier?

Ach Yvonne! Es ist ein Jammer! Der Held liegt wieder einmal zerschmettert in der Grotte. Und ich, ich kann nicht schlafen!

Ojai Kalifornien, 9. März 1997

Ach Yvonne!

Man könnte es ja sehr schön haben hier! Es ist sonnig -, schon fast heiss -, die Menschen sind nett und mein Zimmer ist gemütlich. Aber er - er verdirbt einem immer alles! Zuerst rennt er durch das ganze Land und will unbedingt ein Abenteurer sein! Dann plötzlich muss er ein Schriftsteller werden! - Ich habe ja nichts dagegen -, aber er gerät immer so ausser sich, wenn er schreibt. Es ist ganz furchtbar. Entweder ist er völlig vernichtet - zerstört! Oder er kriegt sich nicht mehr vor lauter Jubel und euphorischem Siegesgefühl! Was in der Mitte kennt er nicht. Das Ganze ist furchtbar theatralisch und - anstrengend! Natürlich nicht nur für mich, der immer hinterher rennen und die Tränen aufwischen und den armen ins Bett bringen muss! Nein - auch für ihn ist es eine Scheisse! Er kann ja nichts dafür. Nur - weshalb ist er bloss so stur? So verbohrt! Er weiss doch, dass ihm die Schreiberei nicht gut tut! Du hast ihn ja selbst oft genug erlebt - Gott, diese Quälerei! Und was kommt dabei heraus. - Hier - ich sehe es hier neben mir - unter dem Tisch! Ein Berg zerrissenen Papiers. Das ist Alles! Und dafür all die schlechte Laune, all das Stönen und Jammern. Dabei könnte man ans Meer fahren oder mit den Menschen hier reden oder einfach an der Sonne liegen oder Briefe schreiben. Aber nichts von alle dem: Es muss ein Buch geschrieben werden! - Ich habe es mir ja gedacht. Aber als er unbedingt in dieses Ojai-Institut wollte, um dort "ein paar Wochen schreiben zu können" - naja, da habe ich gedacht: Gut. Gut. Wenn er es so sehr will! Im übrigen -, er würde ja nicht auf mich hören. Du kennst ihn ja! Wenn man was dagegen sagt, dann redet er und redet bis man so wirr im Kopf ist, dass man nichts mehr zu sagen weiss. Er setzt seinen Kopf doch immer durch! Und - es ist ja recht. Wenn er nur glücklich dabei würde! Aber - ach Yvonne -, es ist schwierig mit ihm! Du weisst ja, wie verbort er sein kann. Und ich muss ehrlich sagen, ich versteh's nicht -, was das Schreiben angeht verstehe ich das Theater wirklich nicht! Wenn er gegen die Schule ist, dann soll er das doch einfach schreiben: "Hallo Leute, ich finde unsere heutige Schule total daneben und destruktiv. Ich hab ein paar Ideen, wie wir's besser machen könnten: Vor allem, lasst die Betroffenen entscheiden und versucht nicht immer alles im vornherein zu regeln.Und dann, Leute, weg mit dem Schulzwang. Der verstösst gegen alle Menschenrechte und bringt ausser Frust überhaupt nichts!" Ja, ja - ich weiss schon, was ihm da im Kopf herum schwirrt. Ich bin ja nicht blöd, obwohl er mich manchmal so behandelt! Und ich habe ihn in den letzten Jahren ja oft genug über all diese Dinge sprechen hören. Ich finde es auch ganz o.k. -, ganz gescheite Gedanken. Ich verstehe nicht, weshalb er so ein Theater darum macht! Es ist ... naja! Ich versteh's nicht. - Ich habe ihm ja auch schon vorgeschlagen, das Buch für ihn zu schreiben. Das ginge doch einfach, und er bräuchte sich nicht mehr zu quälen. Aber nein. Er meint, er müsse "aufrichtig" sein -, ja. Ich glaube "aufrichtig" war das Wort, das er gebraucht hat! Man müsse IHN, einen konkreten Menschen spüren in diesem Buch; sein Anliegen dürfe nicht durch theatralische Mätzchen und kabaretistischen Schnickschnack verwässert und überdeckt werden. ... Na. Verstehst Du das? Also ich bin ihm nicht gut genug. Er kann es offenbar besser. Gut. Dann soll er sich halt plagen! Dann soll er halt unglücklich sein! Bitte.

Gott, ich rege mich so auf! Warum ist er so stur? Denkst Du nicht auch, dass ich ihm bei seinem verdammten Buch helfen könnte. In meinem Tempo, da wären wir doch an einem Abend fertig! "Also, die Schule ist doof, weil sie veraltet ist. Sie entstand in einer Zeit als man ein Volk alphabetisieren musste und als es noch so gut wie keine Möglichkeiten gab, sich über Dinge, die ausserhalb des eigenen Dorfes geschahen zu informieren. Aber heute, im Heftli und Fernseh- und Internetzeitalter - wo das Lesen und schreiben so verbreitet ist -bitte Leute! Da brauchen wir diesen Belehrungskasten doch nicht mehr. Das ist nur langweilig. Im übrigen läuft Euch die Kundschaft ja längst davon! Wer interessiert sich denn heute noch für die Schule. Seit doch mal ehrlich: Wenn die Sache freiwillig wäre - es käme doch kein Schwein mehr! In den ersten Klassen ja -, da kämen schon noch einige, denn Kinder sind ja an sich sehr neugierig. Die gehen überall hin, wo's was zu sehen gibt. Aber nach 3 oder 4 Jahren da haben die meisten die Nase doch voll. Dann wollen die doch mal was Anderes! Aber bitte. Wenn ihr Lust habt, die Menschen weiter in diesem Langweiligkeitskäfig zu quälen, dann los, dann macht mal! Nur lasst mich damit in Frieden. Ich sage Euch, die Idee ist blöd und veraltet und inhuman! Inhuman, weil - naja. Schon mal etwas von Hospitalismus gehört. Das ist, wenn man Säuglinge in Spitäler tut und sie in ihren Bettchen verkümmern, weil sie nicht rumkriechen dürfen und niemand mit ihnen spielt. Und so ist das in den Schulen. Wir meinen zwar, weiss wunder was die Kinder dort lernen, weil sie bei den Prüfungen immer so viele Antworten aufschreiben. Aber das vergessen sie doch zum allergrössten Teil wieder (falls sie nicht sowieso von Anfang an mit einem Spickzettel arbeiten!), und dann - was ist dann los. Nix. Genau. Sie kommen bleichgesichtig und kränklich aus diesen Kästen und haben nicht zu leben gelernt: Steuererklärung - Auto Flicken - Küssen - Tanzen - Nein sagen - sich Begeistern ... alles ist den Bach runter; sie sind geistig und seelisch und körperlich verkümmert, und wir nennen das Ganze "Bildung"! Klar. Wenn man sagen würde: Die LehrerInnen brauchen die Schule wegen des Geldes, was sollen sie den sonst tun? Wenn man das sagen würde, das wäre etwas anderes! Das leuchtet mir ein. Aber davon redet ja offiziell niemand. Es geht immer um unsere armen Kinderchen, die ohne diese "Bildung" ganz verlorenwären!"

Siehst Du. So könnte man das doch abhandeln. Vielleicht würde es schon etwas länger gehen als ein Abend; aber in zwei drei Sessions wäre das leicht zu machen! Aber ich höre ihn schon brummeln, wie das alles zu vereinfachend sei und wie die Sprache der Eleganz entbehre und wes des edlen Quarkes mehr ist! Da flucht er immer, wie die Schule eine Zwängerei und überflüssig und starr sei, aber er selbst - er quält sich am meisten. Jedes Sätzchen wird von ihm wie von einem Polizeioberinspektor unter die Luppe genommen und ... ach, Yvonne, wem sage ich das! Du hast es ja selber erlebt!

Also bitte. So ist die Lage hier bei uns! - Zum Glück will er nur bis Anfang April hier bleiben. Danach wird's vielleicht wieder etwas lustiger! Ja! Es könnte sogar richtig spannend werden, denn er hat sich in den Kopf gesetzt - fall nicht vom Stuhl! - per Segeljacht nach Hawaii und wenn möglich weiter - bis irgendwohin in Asien zu segeln. Anfang Mai ungefähr soll's los gehen. Na. Ich hoffe nur, dass daraus was wird, denn das fände ich nun wirklich spannend, und Segeln hat mir bis jetzt immer sehr gut getan! Aber ich sehe schon, wie er die ganze Sache wieder verdirbt, weil er mit seinem Buch unzufrieden ist und sich ständig vorwürfe macht, weshalb er das Projekt hingeknallt hat oder weshalb es nicht anders geworden ist, als es wurde und so! Sicher! Er ist unausstehlich in diesen Dingen, und ich - ich kann ja nicht fort - jedenfalls nicht so leicht!

Ich habe mir übrigens überlegt, ob wir für ihn nicht etwas anderes finden könnten. Weisst Du, einem Hund nimmt man doch auch manchmal seinen Knochen weg, wenn man glaubt, dass er sich damit verletzen könnte oder wenn das Ding total vergammelt ist. Also. Wir sollten ihm diesen Schreibknochen einfach wegnehmen. Das ist nichts für ihn! Ich habe mir überlegt, ob wir nicht sonst etwas für ihn finden könnten. Er könnte doch z.B. die Leitung eines Altersheimes übernehmen. a wäre er beschäftigt und die alten Leutchen - die würden sich sicher freuen! Oder sonst was: Psychologe vielleicht, da scheint er ja eine Neigung für zu haben und gut bezaht ist das jedenfalls! Einfach etwas anderes, wo er seine Kräfte sinnvoll einsetzt, nicht immer dieses Schreiben! Mir graut schon jetzt, wenn der Nationalfond wirklich ja sagen sollte! Ich sage Dir, das ist unser Ende! - Aber vorläufig besteht ja noch Hoffnung! Wenn die Leute dort nur ein bisschen Grips im Kopf haben, dann lachen die doch einfach bei einem Projekt wie diesem "Geheeb II"! Als ob die Welt keine anderen Sorgen hat! Überall Geld einsparen, Budgets kürzen und dann so einen verstaubten Quark unterstützen! Also, wenn die "ja" sagen, dann ... naja. Entweder lachen oder weinen oder Beides!

Yvonne! Ich bin ja wirklich froh, dass ich Dich habe. Ich meine, er ist ja ganz o.k.; im grossen ganzen habe ich ihn ja wirklich gerne. Aber manchmal - Gott, so kompliziert! Sooo kompliziert, Du würdest es nie glauben, wenn Du es nicht selbst gesehen hättest. Und ich kriege ja alles mit - alles. Mir kann er ja nichts vor machen, auch wenn er sich sonst bemüht und den geselligen, den gelassenen spielt. Ist ja gut, dass er das tut, und nicht allen Leuten auf die Nerven fällt, wie mir. Aber noch besser wäre es, wenn er mal in ein Sanatorium ginge, zu einem guten Doktor, der ihn wieder hinbiegt! - Ich weiss schon, so leicht ist das nicht, und er hat's ja auch schon versucht -, aber trotzdem: soll er es wieder versuchen! Das Ganze geht zur Zeit einfach auf meine Kosten! Ich muss immer der Geduldige sein - eine Art Urmutter oder Urvater! Irgendwann hört das doch mal auf, findest Du nicht auch. Wenn das ewig so weiter geht -, nun, vielleicht schupse ich ihn wirklich mal von einer Brücke runter, wenn ich es nicht mehr aushalte. Im Moment geht es ja noch, aber ..

Ja siehst Du, jetzt klöne ich Dir die Kappe voll, weil er den ganzen Tag nur an seinem blöden Knochen nagt und knurrt, wenn man ihm zu nahe kommt! Naja. Vielleicht sieht er es ja selber ein, dass das mit dem Schriftstellern eine Sackgasse ist, oder er lässt mich mal ran oder kauft sich einen Schreiber - ja, warum eigentlich nicht! Dann kann er sich in seinen Stuhl setzen und drauf los quaseln. Das kann er fast immer phantastisch. Und der Schreiber würde seine Fragen stellen und dann heim gehen und die Sache zu einem Buch verarbeiten. Aber auch da höre ich ihn schon: "Nje neje ... dazu muss man zuerst berühmt sein ... nje nje nje". Was ich auch vorschlage, er weiss es immer besser! Sturer Bock!

Nein nein. Es war nicht immer so, seit ich Dir zum letzten Mal geschrieben habe! Es gab auch friedlichere, stressfreiere Zeiten. Die zwei Wochen in San Diego waren z.B. recht schön, überhaupt die ganze Reise: bis jetzt irgendwo zwischen langweilig und schön. Und langweilig ist es hier wirklich nicht. In diesem Sinne hat sich die Lage eigentlich eher verbessert. Seit er sich mit diesem Schreiben herumquält läuft wiedermal etwas - etwas, was nicht nur schön und gemütlich, sondern irgendwie relevant ist. Aber siehst Du, ich fange auch schon an zu spinnen! Nun. Es wird hier noch ein paar Wochen so weiter gehen. Der Ort ist übrigens ein Krishnamurti Studienzentrum! Während unserer "Endlich"-Zeit haben wir uns doch mal mit dem Herrn K herumgeschlagen; naja, und jetzt bin ich hier! Es ist ein bisschen wie bei den Steiner-Leuten, nur weniger Ete Petete und verknöchert! Aber doch so ein Hauch von Glasglocke und schummriger Mystik, wenn Du weisst, was ich meine! Die ganze Bewegung ist ja auch bedeutend jünger als die Bewegung der Anthros, , sodass die Verkrustung noch nicht richtig eingesetzt hat!

Tja. Du fragst nach der Liebe -, ach, Du hast nicht danach gefragt? Na. Um so besser. Das war auch eines der Versprechen, die er mir gross in mein kleines Ohr geflüstert hat, und aus denen bisher nichts - aber auch nicht die Bohne - geworden ist! Nicht, dass mich das besonders bekümmert, aber ein Versprechen war es schon von unserem Helden! Traritrara! Er würde so herrlich anders und offen sein, hat er gesagt, dass alle Jünglinge der Vereinigten Staaten an seinem Busen Schlange stehen würden, um von ihm angelächelt zu werden ... Naja. Die Idee war schön, und die Vorfreude ist ja auch nicht zu verachten! Aber die Jünglinge - sie stehen also noch nicht Schlange, und - ehrlich gesagt - ich bin nicht sicher, ob sich das noch gross ändern wird!

So. Jetzt will ich meinem Helden auf sein Lager folgen, damit ich ihn morgen wieder einigermassen ertrage! - Sei Du mir deshalb heftig umherzt und geküst, o süss duftende Lilie, o Du -, Glitzerstern am Dunkel meines Himmels, Du Zierde meines Alters und Gefährtin meiner Niederlagen, Du Hort der Kultur und des Verstandes! Sei mir für immer gegrüsst und mit tausend guten Wünschen bedacht und gesegnet! Möge Gesundheit Dir üppig vergönnt sein und Lachen und was der schönen Empfindungen mehr sind!

Dein Martin - ein bisschen genervt