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Überfahrt und erste Tage in Tanger

Nach ein paar friedlichen Tagen bei Freunden in Frankreich und in Barcelona ist es so weit: Am 14. November gehe ich an Bord der Fähre, die mich in 24 Stunden von Barcelona nach Tangier bringen wird, und dann bin ich tatsächlich dort - in Tangier, der berühmten internationalen Stadt der 1930er und 1940erjahre, die ich während vier Tagen teils allein, teils mit meinem Couchsurfing-Gastgeber Abdelkader und andern "Couchsurfern" durchwandere und erkunde.

Das schwimmende Labyrinth und der blinde Passagier, Tanger und ein Afrikaner, wie er nicht im buche steht

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Am Strand in Tanger mit Spanien im Hintergrund.

Als mein Taxifahrer mich am Sonntag Mittag in Barcelona an der Mole San Bertran am Schalter von Gran Navi Veloci abgab, ging dort eine grosse Diskussion darüber los, was man mit mir tun solle. Die Debatte lief in einem Gemisch aus spanisch und italienisch. Ich verstand nur einzelne Worte. Allein ... Begleiten ... Du ... Auto ... Schiff ... Wagen ... - Ein- oder zweimal griff ich ein und versuchte zu erklären, dass ich auch zufuss zum Schiff gehen könne, und sie sich keine Sorgen wegen Treppen zu machen brauchen, doch im allgemeinen beschränkte ich mich darauf, geduldig dazustehen und abzuwarten. Dabei fiel mir wieder ein, dass ich bei der Buchung meines Tickets einen kleinen Hinweis darauf gelesen hatte, dass man behinderte Menschen je nach dem nicht an Bord nähme, weil die entsprechenden Einrichtungen fehlten. Was, wenn sie jetzt überlegten, ob sie mich überhaupt mitnehmen können, da der Lift an Bord des Schiffes ja nur bis auf's Achte Oberdeck fährt und die Knöpfe keine Blindenschriftmarkierung tragen und es auf dem Schiff auch keine Behindertenclos gibt? Wohlgemeinte Fürsorge kann manchmal etwas ausser Kontrolle geraten. Die Situationen sind zwar selten, aber es gibt sie noch immer. Zum Glück sind meine Bedenken diesmal unbegründet. Die Aufregung legt sich, und ich spaziere schliesslich am Arm einer charmanten Stewardess an Bord der Fähre.
Unser Schiff, die Excellent der Linie Grandi Navi Veloci, ist eine grosse Fabrik. Ein Labyrinth von Gängen und Treppen, ganz unzusammenhängend und geheimnisvoll. 9 Stockwerk insgesamt, davon etwa 5 für uns Menschen und 4 für Autos und Lastwagen. Die offenen Decks sind riesig, wie Flugfelder, mit ölig salzigen Scheiben über den Relings, um den aus allen Richtungen daherkommenden Wind abzuhalten! Nachdem mir ein zweiter Steward meinen "Poltrone" im "Salon Rossini" gezeigt hat, spaziere ich herum wie ein 2jähriger. Viele freundliche Menschen, vor allem Männer, haben sich meiner angenommen. Eine Hand, die mich sacht ein wenig nach rechts schiebt, jemand, der mich bei der Hand nimmt und mich zurück zu meinem Sitz im 9. Stock unserer Fabrik, bringt, wieder jemand, der mich zur Bar bringt und mir mit freundlichen Schulterklopfen einen schönen Tag wünscht ... Dabei sind es fast ausschliesslich Männer, die sich um mich kümmern, und sie nehmen mich alle bei der Hand. Keine Angebotenen Ellbogen, kein Griff um meinen Oberarm. Ich habe beinahe vergessen, wie angenehm es ist, einfach so an der Hand genommen zu werden, und es beginnt mir richtig Spass zu machen, mich so durch die verschiedenen Stockwerke des Schiffes driften zu lassen: Von der Bar zum Restaurant und wieder hinauf zu meinem Schlafplatz und dem windigen Oberdeck. Es ist wie ein Spiel mit dem Zufall.
Solange ich in Bewegung bleibe bin ich in Kontakt, denn solange falle ich auf und solange will ich offenbar etwas, und die Menschen helfen, greifen zu und fragen, wenn es auch nur geschieht, um sich vor mir zu schützen, denn mit meinem Stock komme ich direkt auf sie zu, die doch eben alles auf der Erde ausgebreitet haben, um zu essen, oder die sich eben in ihre Decke gerollt haben, um ein wenig zu schlafen. Sie nehmen das Ende meines Stockes und setzen es dort hin, wo ich weiter gehen kann, und jemand steht auf und sagt etwas zu mir - in spanisch oder französisch oder arabisch oder, weil die Fähre von einer italienischen Gesellschaft betrieben wird, auch in italienisch.
Die meisten Menschen auf der von Genua herkommenden Fähre sind Marokkaner, die irgendwo in Italien oder Spanien leben und zur Feier von Al Aid, einem wichtigen, wenn nicht dem wichtigsten Fest im islamischen Kalender, das unmittelbar bevorsteht, für ein paar Wochen nach Marokko zu ihren Familien zurückkehren. Mit einigen von ihnen komme ich ein wenig ins Gespräch.
Wenn ich nicht mehr in Bewegung bin, sondern irgendwo stehe oder sitze, gerate ich manchmal in die Nebel der Isolation, mit denen ich mich so schwer tue. Es sind Fragen, auf die ich gerne eine Antwort hätte und die sich zum unangenehmen Nebel verdichten, wenn ich nicht etwas tue, um meine Neugier zu befriedigen oder mich ihnen bewusst entziehe, indem ich mich mit etwas anderem beschäftige: Da raschelt etwas am Tisch neben mir. Ob da jemand sitzt? Da schreit ein Kind so eigentümlich. Ob es vielleicht irgendwie behindert ist? Da sitzen doch ein paar Leute auf der Erde. Ob man das hier auf dem Schiff einfach so tut? Dann könnte ich ja auch meinen Schlafsack irgendwo ausrollen statt mich die ganze Nacht auf diesem Stuhl abzuquälen. Ist dieses vage Gefühl von Mensch vor mir vielleicht der Barkeeper, der auf meine Bestellung wartet? Sitzen da noch andere auf der Bank neben mir? - Die Fragen werden zur Plage. Ich beginne zu spekulieren, werde missmutig, fühle mich isoliert und werde immer unfähiger, meine empfundene Isolation zu durchbrechen. - Die Nebel lösen sich auf, wenn ich mich bewusst einer anderen Sache zuwende, oder wenn ich mich erneut bewege, wenn ich nicht grüble, ob ich soll oder darf, sondern wenn ich einfach handle, doch dies ist leichter gesagt als getan: Die Direktheit und Spontaneität, die wir alle als kleine Knirpse und Knirpsinnen hatten, ist von tausend Hemmungen und Bedenken zugedeckt! Nicht auffallen, nicht das falsche Fragen, nicht im falschen Moment ... Es lebe der gehemmte Mensch, und es lebe der, der ihn überwindet!

Die Besorgnis beim Verlassen des Schiffes war noch grösser als zu Beginn der Reise. Ein Passagier, der mich im Gedränge der Ankunft gefragt hatte, wer in tanger Med auf mich warten würde, bot mir sein handy an und meinte, ich müsse unbedingt meinen Kontaktmann in Alger anrufen, er müsse zum Hafen kommen. Ich erkläre ihm, dass ich den Menschen kaum kenne und das er arbeiten müsse. Er könne mich nicht abholen. Tanger Med sei zu weit weg. Schliesslich einigen wir uns darauf, dass ich ihn wenigstens anrufen würde, um ihm zu sagen wo ich bin. Als wir endlich von Bord konnten - wir hatten Tanger Med mit anderthalb Stunden Verspätung erreicht und mussten dann noch einmal eine Stunde warten, bis die ersten Autos vom Schiff waren -, diskutierten vier Männer darüber, was jetzt mit mir geschehen sollte. Sie waren besorgt und etwas ratlos, denn sie hatten kein Extrapersonal für solche Fälle, niemand, der mich in Tanger Med auf den Zug setzen oder mich bis Tanger Ville bringen kann, und sie konnten sich offenbar nicht vorstellen, dass ich diese Hilfe nicht brauche und nicht erwarte. Der Knoten löste sich erst, als ich mit franglesischem Wortgemisch in die Debatte eingriff und herauszufinden versuchte, wie man denn normalerweise am besten nach Tanger Ville kommt. Nach zehn Minuten war schliesslich alles geklärt und auch diejenigen, die mich etwas irritiert und vorwurfsvoll gefragt hatten, ob ich denn keine Familie oder Freunde habe, die mit mir kommen könnten, waren glücklich.
Zwei Stunden später war ich beim Busterminal am alten Hafen in Tanger, und noch einmal zehn Minuten später war Abdelkader da. Ich bin erleichtert! Während ich vor dem Busterminal auf ihn gewartet habe, fühle ich mich zum ersten mal nicht mehr ganz in Europa, denn es gibt zu viele schlurfende Menschen, die sich in alle Richtungen bewegen ...Überhaupt zu viel Bewegung und Leben in der Luft.
Ich wusste schon, dass ich nicht bei Abdelkader würde schlafen können, weil er bereits drei oder vier Couchsurfing Leute übernacht hat. Doch er hatte versprochen, sich um alles zu kümmern. Er hat deshalb ein Zimmer in einem kleinen Hotel in der Medina für mich reserviert. Das Zimmer ist einfach: Ein Waschbecken, ein breites, bequemes Bett mit reichlich Kissen und einer dicken Wolldecke, dazu ein Tisch und ein Stuhl aus Plastik - das ist die Einrichtung. Es gibt keine Haken, kein Regal und keinen Schrank, dafür einen kleinen Balkon auf die etwa zwei Meter breite Gasse hinaus. Das Clo draussen auf dem Flur ist einfach - indian Toilet. Alles ist sauber und der Preis von 70 Dirham (chf 8.75) pro Nacht ist wohltuend niedrig. . Eine Steckdose gibt's in meinem Zimmer nicht. Der leise sprechende, ziemlich müde wirkende Mann, der dieses winzige Hotel hier tag und nacht zu betreuen scheint, zeigte mir eine Steckdose hinter der Rezeption, an der ich meinen Laptop aufladen könne. "Pas de problème".
Nachdem ich mein Zimmer bezogen habe, gehen Abdelkader und ich noch raus, meine Gasse hoch in Richtung Café Central, einem durch Paul Bowles und andere Künstler offenbar berühmt gewordenen Ort. Von dort weiter zum Boulevard, wo wieder Autoverkehr ist. Die Gassen der Medina sind tatsächlich weitgehend autofrei, weniger, weil Autos hier verboten wären. Die Gassen sind dazu einfach zu eng und es gibt zuviele Treppen. Die vereinzelten Autos, die sich dennoch in diese Strässchen verirren werden mit viel set oder ser (weiter, weiter) durchgelotzt. Man ist geduldig und tollerant. Kein Gehupe und Gefluche, sondern freundliche Aufmerksamkeit.

Abdelkader ist ein eigenartiger Mensch. Auf dem Photo in seinem Couchsurfing Profil trägt er eine Maske. Er hat es mir im Verlauf unseres Abendspaziergangs gesagt. Hätte ich es gewusst, hätte ich ihn vielleicht nicht angeschrieben. Mich haben die Texte in seinem Profil angesprochen. Er kuriert mich im nu von jeder Hoffnung, dass es so etwas wie einen typischen Afrikaner gibt. Wir sprechen weder von Armut, noch von Urwäldern und Elefanten oder Entwicklungshilfe oder Sandstürmen. Er läuft fast immer mit aufgesetzttem Kopfhörer rum, um jederzeit auf sein handy reagieren zu können, und er hat stets seinen Laptop dabei. Wenn wir irgendwo Pause machen und uns setzen checkt er immer ein paar Messages, macht einen Anruf oder wirft einen kurzen Blick auf die aktuellen Währungskurse. Beruflich ist er offenbar als Informatiker tätig. Im übrigen ist er ein überzeugter Anhänger vieler Verschwörungstheorien. Er hat unorthodoxe und extreme Meinungen über Vieles und liebt es, andere damit zu schockieren. Sein Couchsurfing-Profil ist voller irritierender Widersprüche. Er liebt denkende Menschen und hasst Intolleranz jeder Art ... Er sagt es und lacht. "Yes, we should kill such stupid intollerant people".

Wir reden viel miteinander, wobei er mich andauernd ermuntert, irgend etwas zu essen oder einen Tee oder einen dicken Fruchtsaft zu trinken, den man Panasch nennt. "ich will nicht, dass du nachher sagst, du hättest in Afrika immer Hunger haben müssen. Unser Image in der Welt ist schlecht genug." Ich beruhige ihn und verspreche, dass ich schreiben werde, dass ich bei meinem Gastgeber gesehen habe, dass alle Afrikaner teure, mit modernstem Cruise Control und Autoparking ausgestattete Schlitten fahren, und wir kein Bedauern mehr mit diesem Kontinent von Betrügern haben müssen. Tatsächlich hat er offenbar solch ein Auto, denn - naja - vor ein paar Jahren habe er mit Geldgeschäften ziemlich viel verdient ... Seither habe er allerdings das meiste wieder verlloren. "Stupid decisions". Wiedr lacht er.

Dienstag, 16. November 2010, erster Tag in Tanger.

Ich habe mit Abdelkader abgemacht, dass wir uns zwischen zehn und elf Uhr früh entweder in meinem Hotel oder in dem nur hundert Meter weit entfernten Café Central treffen. Ich bin schon früh wach und warte dort auf ihn. Er kommt gegen elf. Wir spazieren noch einmal ein wenig durch die Medina und besuchen dann die Kaspa, von wo aus man einen prächtigen Blick nach dem nahen Spanien hat. Bei guter Sicht könne man, so sagt Abdelkader, sogar einzelne Schwimmer im Meer erkennen. Er erzählt von der strengen Kontrolle der marokkanischen Grenze. Dabei spricht er nicht von den Menschen, die nach Europa rüber wollen, sondern vom Drogenhandel. Er lacht: "Ja, da sind die Marokkaner genau so hinterher wie die Spanier, denn wwenn die Polizei Drogen findet, so werden die nicht vernichtet, wie es offiziell heisst, sondern zu
Geld gemacht. Das Geschäft will sich natürlich niemand entgehen lassen."
Am Nachmittag sitzen wir in einem Kaffee und versinken in unseren Computern. Ich kopiere einige der Dokumentarfilme, von denen er mir erzählt hat, auf mein netbook, dann schreibe ich ein paar kurze Mails. Danach gehen wir zum nahen Strand hinunter - keine zehn Minuten von der Medina entfernt und beinahe leer. Der Strand liegt nahe beim alten Hafen und ist als Badestrand deshalb nicht die erste Wahl, aber da er so nahe bei der Stadt liegt, wird er im Sommer doch gerne besucht. Wir sitzen im Sand, essen ein Sandwitch (mit Kartoffel- und Tomatenfüllung) und reden. Dann gehen wir zurück zu meinem Hotel. Er drückt mir ein Handy in die hand, damit wir uns morgen sprechen und treffen können. Er ist ein moderner Mensch und ein sehr gewissenhafter und fürsorglicher Gastgeber.
Am Abend gehe ich noch einmal für zwei Stunden raus. Die Strassen sind voll menschen. Erst gegen elf Uhr wird es ruhiger. ich kaufe mir irgendwo eine kleine Tüte Erdnüsse, die vor Ort geröstet werden. Das krickkrickchrick der in der Pfanne gedrehten Nüsse hat mich auf den kleinen Stand aufmerksam gemacht. An einer Ecke bleibe ich stehen. Ein eigenartiges Geräusch macht mich wachsam. Es klingt wie eine Schleifmaschine oder ein Mahlwerk. Als ich jemanden danach frage, sagt er, ja, für die Messer! Morgen ist Al Aid und da werden die Hammel geschlachtet. "Fête du mutton". - Tatsächlich hört man in der Stadt immer wieder Hammel blöken und hie und da steigt mir ihr Geruch in die Nase.
Zurück im Hotel rede ich noch ein wenig mit dem alten Besitzer oder Bewacher.
Er spricht ein gutes Englisch. Ja, das habe er in der Schule gelernt, und auf der Strasse. Tanger sei früher ja ganz international gewesen. Viele europäer. Viel mehr als heute. Bis 1957 als es zu Marokko kam. Vorher sei es eine freie Stadt gewesen, aber nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 ... Damals hätten auch Menschen, die nie in die Schule gingen, auf der Strasse englisch lernen können. - Im Laufe des Gesprächs beginnt er zu jammern. Tanger ist nicht mehr, was es einmal war. Ich solle nachts nicht an den Strand. Die Medina sei sicher. Da gäbe es auch viel Polizei. Im Café Central sässen immer einige Beamte der Brigade Touriste, um die Fremden vor Belästigungen zu schützen. Aber ausserhalb der Medina. Nein. Er gehe auch nicht allein an den Strand, wenn es dunkel sei. Es sei zu gefährlich. Zu viel Gewalt wegen Drogen. Nicht haschisch, das sei unproblematisch, denn das mache die menschen nicht Agressiv, aber Heroin und andere Drogen. Auch über die verbreitete Prostitution und die Pédés aus Europa, die hier nach jungen Männern suchen, klagt er. Es gehe Marokko nicht gut. Dabei sei Marokko eigentlich ein reiches Land, aber die Politiker seien korrupt und unbrauchbar, wie überall auf der Welt. Sie arbeiten nur für die Reichen. Dabei nehme die Armut andauernd zu, auch in Marokko. 50% der menschen hier könnten nicht lesen. Da sei Demokratie ja ein Witz. Man gibt ihnen 50 Dirham und sagt, du stimmst für mich, und dann tun sie es natürlich. Ihr Horizont ist klein. Sie hatten nie die Gelegenheit, sich mit wichtigen Dingen zu befassen. ich frage ihn, ob viele Marokkaner so denken wie er. Er sagt "nein, die meisten denken überhaupt nicht". Ob es Menschen gibt, die er als Vorbilder respektiert? vielleicht jemanden wie Gandhi? Er scheint nur halb hinzuhören. Er kauert auf der Erde und klappert mit einem Blechtopf. Er hat etwas von Tee gemurmelt. Vielleicht störe ich ihn bei seinem Abendzeremoniell. Gandhi, Gandhi! Ach die Engländer. Die hätten ja überall die leute unterdrükt, und was sie in Indien gemacht hätten ... Alle guten Leute, die wirklich etwas verändern wollen, landen im Gefängnis, und Gandhi, na ja, man sehe es ja. Auch er wurde ins Gefängnis gesteckt.
Schliesslich gebe ich auf und überlasse ihn seinem Tee. ich liege im Bett und lese in Ermangelung anderer Lektüre weiter in John Henry Mackays "Schwimmer". Gegen eins schlafe ich. Draussen ist es mittlerweile ruhig. Nur hie und da ruft jemand oder geht schlurfend unter meinem Balkon durch. Hie und da blökt ein Hammel oder es wird irgend etwas herumgeschoben. Enge Gassen in einer romantischen Altstadt haben auch ihre Nachteile, denn etwas ist immer irgendwo los und die steinernen Mauern verstärken jedes Geräusch.

Mittwoch, 17. November 2010, zweiter Tag in Tanger.

Es ist acht Uhr in der früh. Ich wache langsam auf. Es ist viel los in meiner Gasse. Begrüssungen und reden. Viele Männer nebenan. Grosses Stimmendurcheinander und im Hintergrund - jetzt regelmässig wie eine Uhr - das Blöken eines Hammels. Vielleicht sind es auch zwei. Im Halbschlaf versuche ich zu begreifen, was da draussen geschieht. Heute sollen die Hammel geschlachtet werden. Ich horche auf ihr Blöken. Ob sie es wissen? Sie scheinen sich jedenfalls nicht wohl zu fühlen, denn ihr bäää bäää bäää klingt nicht glücklich.

Nach einer Stunde stehe ich auf und wecke meine Lebensgeister im Café Central mit zwei grands cafés cassés aus ihrem Dämmer. Ich schreibe Tagebuch und versuche später vergebens online zu gehen: irgend ein Signal ist da; auch ein Passwort gibt man mir, doch ins Internet komme ich nicht.

Abdelkader hat heute erst gegen vier Uhr zeit sodass ich mich um zwölf allein aufmache und ein wenig durch die Gassen und Gässchen der Umgebung wandere. Plötzlich rieche ich ein Feuer und höre vor mir das Rufen und Lachen einer aufgeregten Menschenschar. Viel Lachen und ein Geräusch als ob etwas zurechtgehämmert und ein Eisengerüst aufgebaut wird. Ich gehe näher. Was ist hier wohl los? Ich stehe an einer Hauswand und horche in das Gemenge von Rufen und Klopfen, Laufen und Lachen. Das Feuer riecht angenehm. Fast ist es mir als ob ich auch etwas gebratenes Lamm rieche. Nach ein paar Minuten kehre ich um und gehe durch eine andere Gasse weiter. Was ich zwischendurch spüre ist unspektakulär: Unregelmässig verputzte Wände, hie und da eine unverputzte Steinreihe; viele heruntergelassene Metallrolläden, vielleicht anderthalb Meter breit, hinter denen sich wahrscheinlich irgend einer der über Mittag geschlossenen Läden oder Werkstätten verbirgt. Die gelegentlichen Haustüren machen weder einen besonders schönen noch einen besonders alten Eindruck. Die Strassen sind mit flachen Steinen oder Kacheln gepflastert und wirken insgesamt sehr sauber. In den breiteren Strassen stehen hie und da Autos oder Motorroller. Ab und zu geht jemand vorüber. Angesprochen werde ich nie.

Bald rieche ich ein zweites Feuer und wiederum stehe ich rätselratend vor einer Ansammlung laut lachender Menschen. Jetzt nimmt jemand meinen Arm und schiebbt mich weiter. Er fragt mich irgend etwas und als ich "je ne comprends pas" sage, winkt er einen anderen herbei, der mich fragt, ob ich zur amerikanischen Botschaft will. Ich schüttle den Kopf. Ein Junge hakt sich bei mir ein und schiebt und zieht mich halb die Gasse hinunter durch die lachenden und schwatzenden Menschen. Ich muss über irgendwelche Hölzer steigen. Das ganze ist etwas grob, eher wie eine Zirkusvorführung als eine freundliche Hilfestellung. Andere Jugendliche lachen über den Spass. Jetzt lässt der Junge mich los. Die Strasse ist wieder frei. ich gehe weiter.

Hinter mir noch immer Gelächter. Die Szene erinnert mich an die Schilderung von Valentin Haouy, der in den 1780erjahren in Paris das erste moderne Blindeninstitut gründete, nachdem er erlebt hatte, wie ein paar blinde Menschen in grotesken Kostümen von ein paar geschäftstüchtigen Marktfahrern zur Belustigung des Volkes vorgeführt und ausgelacht wurden. Bevor ich um die nächste Ecke gehe, drehe ich mich noch einmal um und winke meinen zweifelhaften Rettern zu. Ganz behaglich ist mir nicht. Ist das vielleicht Afrika oder zumindest eine Seite davon, mit der ich künftig noch öfter zu tun haben werde? Rückständig und herzlos derb oder habe ich die Signale verkehrt aufgefasst.

Nach fünf Minuten stehe ich wieder vor einem Feuer; wieder kommt es mir vor, als ob ich gebratenen Hammel rieche. Diesmal spricht mich ein Mann an, fragt, wohin ich wolle. Wir kommen ins Gespräch. Er erzählt mir, dass sein Vater schon seit einiger zeit tot ist, in Lybien bei einem Umfall ums Leben gekommen - vor, er überlegt kurz, 14 Jahren. Der Vater habe dort gearbeitet. Ja, Lybien sei ein begehrtes Land für arbeitsuchende Marokkaner. Nach zehn Minuten lädt er mich zu sich heim ein. Ich soll mit ihm essen. Wir stehen direkt vor seinem Haus, bzw. vor dem Haus seiner Familie, denn mit ihm lebt seine Mutter und mindestens eine Schwester, und heute sind noch weitere Verwandte zu Besuch da. Ich bin eine gute Stunde bei ihm. Wir sitzen in einem wohnzimmerartigen Raum und unterhalten uns. Seine jüngere Schwester bringt Essen: einen marokkanischen Salat, der mich an russischen Salat ohne Mayonäse erinnert, und danach an kleinen Spiessen gebratene Leberstückchen vom eben geschlachteten Hammel sowie Brot und eine etwas ölige Sauce, in die ich das Brot tauchen soll, ehe ich es esse. Laarbi Mohameds Schwester tut alles schnell und unauffällig. Sie ist es offenbar gewohnt, ihrem Bruder zu dienen, doch im Vergleich zu vielen Frauen, die ich in Pakistan und Indien erlebt habe, wirkt sie wesentlich offener und entspannter. Hie und da schaut ein Kind um die Ecke, aber der fremde Gast, der da bei ihrem Onkel sitzt, interessiert sie weniger als die Computerspiele, mit denen sie auf dem Flur beschäftigt sind.

Laarbi ist Jus-Student. Er muss eigentlich nur noch ein Jahr studieren, doch mache ihm einer seiner Professoren Schwierigkeiten. Er könne deshalb zur Zeit nicht an die Uni. Man müsse in Marokko sehr still und brav sein. Wer seinen Mund auftue bekomme schnell Probleme. Wenn man Pech habe, tauche die Polizei auf und man lande im Gefängnis. Ich will nicht weiter nachfragen, was genau geschehen sei. Vielleicht hätte er es gewollt und hätte gerne erzählt, doch ich habe das Gefühl, dass das Thema dazu zu sensibel ist. Politik. Zensur. Jetzt arbeite er dies und das, auch mit Fremden, vor allem mit Freunden aus arabischen Ländern. Bis zum Tod seines Vaters hätten sie ja alle in Lbien gewohnt. Und natürlich habe er auch viele Kontakte zu Menschen aus Europa. Ja, er sei so eine Art Touristenführer, aber ein inoffizieller. Er sammle seine Touristen nicht auf der Strasse zusammen. Es seien oft Freunde von Bekannten. Die europäer klagten zur Zeit häufig, dass sie kein Geld hätten. Die Araber bezahlten besser. Ob er an die Uni zurück könne wisse er nicht. Die Situation sei schwierig.

Nach dem Essen spaziert Laarbi mit mir noch durch seine Strasse und zwei oder drei andere Gassen. Ob ich nicht irgendwo einen Kaffee trinken wolle? Ich will und will nicht. Ich will ihn nicht von seinen Familienpflichten abhalten, denn als gelernter Schweizer bin ich sicher, dass er solche hat. Er sagt, "non, non, pas de problème", aber ich entschliesse mich schliesslich doch dazu, ihm tschüss zu sagen und allein weiter zu gehen. Eine Viertelstunde später sitze ich tatsächlich an einem Tischchen und trinke Kafee als er noch einmal bei mir auftaucht, und sich erkundigt, ob alles okay sei. Ich sage ja, und er geht wieder. ob er sich zurückgestossen fühlt, als ob ich nicht mit ihm kaffeetrinken will oder ob dieses zusammenkommen und sich trennen viel unkomplizierter abläuft als ich mir dies vorstelle? Wie verpflichtend ist Gastfreundschaft und wie lange habe ich mich als Gast welchen Regeln zu unterwerfen, um meinen Gastgeber nicht zu verletzen? ich habe keine Ahhnung. Wahrscheinlich mache ich sowieso andauernd irgend etwas falsch, ohne es zu bemerken.

Plötzlich steht Abdelkader, mein unglaublicher Gastgeber, neben mir. Ich habe ihn von Laarbi aus zu erreichen versucht, doch war kein Geld mehr in dem Kistchen, das er mir am Abend vorher gegeben hat, und das wir zuvor noch mit 20 Dirham beladen haben. Dann hat Laarbi es noch von seinem Telefon aus versucht. Wieder kein Glück: Der teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Jetzt steht er also da und lacht. "I tracked you, of course". Alles ist bei ihm "of course". "That's why I gave you the phone. I can see on google maps, where you are. I always give to my guests, coz sometimes they get lost and then they can call me and I can give them directions where to go".

Abdelkader erwartet einen neuen Couchsurfer, der mit seinem Fahrrad unterwegs ist. Wir treffen ihn am Hafen, bringen sein Fahrrad zu Abdelkader nachhause, holen meinen Rucksack im kleinen Hotel und gehen dann dem Strand entlang zu Beatrice's Wohnung. Beatrice ist einne Freundin Abdelkaders. Sie ist nicht hier, doch hat er ihre Schlüssel, und wenn er Couchsurfer zu Besuch hat, so bringt er sie hie und da bei ihr oder anderen Freunden unter. "I have key to many places", erklärt er, während Francesco, der italienische Neuankömmling, und ich immer noch nicht ganz verstehen, wohin wir jetzt eigentlich gehen.

Beatrice's Wohnung liegt im 10. Stock eines vierzehnstöckigen Hochhauses mit wunderbarer Aussicht auf den Strand und das meer. Sie liegt an einer ziemlich verkehrsreichen Strasse, die auch nachts nie ganz ruhig ist. Der erste Eindruck ist umwerfend: ein riesiges Wohnzimmer mit unendlichen Sofas und kreuz und quer stehenden kleinen Tischen. Hier sollen wir übernachten. Ich benütze die Gelegenheit und nehme eine Dusche. Wasser kommt nur wenig und es ist bestenfalls lauwarm. Jenseits der langen Sofas verbergen sich noch andere Mängel: Eine Wohnungstüre, deren Schloss klemmt, Fenster, durch die der Wind bläst, eine nur halb funktionierende Clospülung etc. etc. Ich bin beruhigt. Denn zunächst kam ich mir vor wie im exklusiven Paradies der Superreichen.

Mittlerweile ist es Abend. Nachdem Francesco ebenfalls geduscht hat gehen wir in die Stadt und essen in einer kleinen Beiz, eine enge und steile Treppe hoch. Das Essen - Fleischspiesschen (Khrebat) und Tajine - ist angesichts des guten Rufes der marokkanischen Küche eher enttäuschend. Das Fleisch ist fad und die Tajine schwimmt in Öl. Möglicherweise habe ich allerdings auch irgend etwas verpasst: ein Gewürz, das auf dem Tisch steht oder sonst etwas wesentliches. Vielleicht gilt ja auch gerade dieses Öl als Delikatesse?

Ich bin etwas müde. Abdelkader redet andauernd. Er wirkt wie ein Lehrer, der auf alles eine Antwort hat, sodass ich als Schüler immer mehr zum stummen Statisten werde. Er ist nett und engagiert, aber anstrengend. Zurück in unserem Apartment machen wir unter Francescos Anleitung Ballonskulpturen. Nach einer Weile beschränke ich mich auf's zuschauen bzw. zuhören. Abdelkader ist mit Eifer und viel Spass bei der Sache. Sein lehrerhaftes Getue ist wie weggeblasen. Francesco fährt am nächsten Tag früh per Bahn nach Marakesch. Er wird sein Fahrrad hier lassen und es auf seinem Rückweg am Sonntag oder Montag abholen.

Donnerstag, 18. November 2010, dritter Tag in Tangier

Abdelkader wollte ursprünglich heute Abend für ein paar Tage fort - irgend ein Familienbesuch -, doch scheint er seine Pläne inzwischen geändert zu haben, weil er mich nicht alleine lassen will. Er wird erst Samstag Abend wegfahren. Ich weiss nicht, ob ich solange hier bleiben will. Seine Fürsorge ist rührend, aber auch anstrengend. Ich merke, dass ich mich etwas zurückziehen möchte, aber wie? Solange ich in Tangier bin, bin ich sein Gast, ob ich will oder nicht. Da ist nichts zu machen. Allmählich begreife ich, dass ich entscheiden muss, ob und wann ich weiter will.

Während des Frühstücks erkläre ich ihm, dass ich über Asilal und Chefchaouen nachgedacht habe. Wir reden noch einmal ein wenig über die beiden Orte, die er mir als nächste Reisezile empfohlen hat. Dann sage ich, dass ich morgen nach Chefchaouen fahren wolle. Er ist etwas überrascht. Weshalb schon Freitag. Ich könne doch auch am Samstag ... Doch ich glaube, er ist im Grunde ganz zufrieden mit diesem Entscheid, denn wahrscheinlich hat die Gastgeberei auch für ihn zwei Seiten.

Nach dem Frühstück spazieren wir ein wenig durch die Stadt. Ich wechsle ein paar Euros, und schliesslich trinke ich im Café Central meinen zweiten Café cassé. Dazu essen wir etwas kleines: eine Teigtasche mit Zwiebeln und Hühnerfleisch, hausgemachte Pommes und ein wenig Salat. Diesmal schmeckt das Essen und meine Stimmung hellt sich auf. Ich merke, dass ich in einem Wildbach nichht wie in einem Feuerteich schwimmen kann. Abdelkader verlangt ein temperamentvolles und entschiedenes Gegenüber, das zum Streitgespräch und zu schnellen Entschlüssen bereit ist. Mit einem stets nachgiebigen, auf Kompromiss und Harmonie bedachten Zögerer kann er nichts anfangen.

Gegen vier sind wir wieder in Beatrice's Wohnung. Abdelkader schläft ein wenig, während ich Tagebuch schreibe und durch die Weltgeschichte Surfe. Am Abend kommen zwei Frauen aus Finnland. Abdelkader holt sie am Hafen ab. Ich skype in der Zeit mit Gilles. Ich bin plötzlich ganz zurück in der Schweiz und in den dortigen Geschichten. Ich erzähle Gilles ausführlich von meiner Woche im Jura. Es tut gut so zu reden. Die Verbindung ist sehr gut und das ganze kostet uns keinen Rappen. Gleichzeitig ist es jedoch auch als ob der Glaube an das Christkind verloren geht. Man meint, man sei schon recht weit weg in einer anderen Welt und pufff - mit einem Tastendruck - hebt man die Illusion dieses Wegseins auf. Immer online, immer in Kontakt ... Dabei liegt ein Teil meiner Reiselust doch genau in der Sehnsucht nach einer anderen Welt, nach Abstand und für mich sein.

Die zwei Frauen aus Finnland sind angekommen. Beide sind sehr jung -, nicht nur an Jahren, sondern auch an Welterfahrung. Paula ist zum ersten mal in Afrika. Ann hat ein halbes Jahr als Voluntärin in Tansania mit behinderten Kindern gearbeitet. Wir reeden ein wenig. Dann kommt Abdelkaders Freund Adile, und wir fahren in seinem Auto in die Stadt, essen gebratenes Huhn, Pommes und Reis. Wieder ist das Essen nicht berauschend. Zum Schluss trinken wir Tee in einem Cafe, das Abdelkader mir am ersten Abend gezeigt hat: Drei Treppen hoch durch zwei kleine, gut besetzte Räume. Das Klickklickklick fallender Würfel und leichter Haschischgeruch. Wir bestellen Tee und sitzen danach auf der Dachterasse mit Blick über die Häuser der Medina und hinaus auf's Meer. Der Ort gefällt mir und wir unterhalten uns gut.

Später stösst noch Adile's älterer Bruder Driss zu uns. Wir fahren zurück in Beatrice's Wohnung, sitzen, tauschen Adressen aus und plaudern. Adile wirkt sehr bodenständig und organisiert. Er reist beruflich viel, auch in Europa. Er spricht fliessend englisch und französisch. Driss ist viel stiller. Adile's Stimme ist laut, Driss spricht leise. Ich bin froh, die beiden kennengelernt zu haben. Adile sagt mehrmals, ich solle ihn anrufen, wenn ich irgendwoo in Marokko ein Problem habe. Schliesslich gehen Abdelkader und die zwei heim, und bald sind auch wir im Bett.

Freitag, 19. November 2010, good bye Tangier

Gegen neun aufgestanden und eine Stunde Tagebuch geschrieben. Um halb elf kommt Abdelkader. Bis Paula und Ann soweit sind, alle Photos gezeigt und alle Emails gecheckt sind, ist's fast halb zwölf. Unterwegs zum Busbahnhof haben wir noch ein paar Photos gemacht. Dann hab ich eine Fahrkarte nach Chefchaouen gekauft (45 Dirham) und noch schnell einen Kaffee getrunken. Danach grosses Good Bye and Thank You. Das Gepäck für weitere 5 Dirham im Bauch des Busses verstaut,, und mit höchstens fünf Minuten Verspätung vom Busbahnhof am Hafen in Richtung Chefchaouen abgefahren. Die Fahrt nach Chefchaouen, meiner nächsten Station, soll etwa drei Stunden dauern. Ich entspanne mich und freue mich auf das, was kommt! Wieder unterwegs. Das gefällt mir.

©Martin Näf 2010