Siebter Brief: Good bye , good bye! Auf dem Rückweg
San Francisco, Montag, 12. Mai 1997, Abend
O Yvonne!
Gestern Abend bin ich von Portland zurückgekommen und habe mich wieder im "New Central Hotel" eingemietet. Hier wohnt Alles vom sauber gewaschenen, unternehmungslustigen deutschen Touri bis zur verkannten Diva, vom supercoolen Dealer bis zum leicht alkoholischen Weltenbummler aus England ... Nachdem ich bei meinem ersten Aufenthalt hier das vermutlich nobelste Zimmer gekriegt habe - gross, mit Waschbecken, Tisch und Nachttisch, einem Doppelbett und Blick auf die belebte Market-Street, und nachdem ich dann - bei meinem zweiten Aufenthalt hier - auf die Rückseite des Hotels verbannt wurde - kleineres Zimmer, ähnliche Einrichtung -, habe ich diesmal ein Zimmer beim Lichtschacht gekriegt. Der Name "Lichtschacht" ist etwas irreführend, denn ein Schacht ist da, nur von Licht spüre ich beim besten Willen nichts. Immerhin, das Zimmer ist vergleichsweise Totenstill, wenn der junge Typ gegenüber - auch sein Zimmer geht auf den Lichtschacht - nicht gerade wieder einmal onaniert. Gestern hat er mich beim Ausziehen beobachtet, was ihm gefallen hat. Er hat mich daraufhin gebeten, mich ihm doch noch einmal nackt zu zeigen, worauf ich ihn gefragt habe, ob er nicht rüberkommen wolle. Ja, das ist das "New Central Hotel" und die Grosstadt! Verrufen und heruntergekommen. Man muss sich in Acht nehmen! Nicht nur wegen der bösen Tierchen, die den Körper attakieren und krank machen, auch wegen den bösen Menschen, die einem das Geld wegnehmen wollen, um sich irgendwie Drogen oder einen Hamburger zu kaufen. Man muss sich in Acht nehmen! Die Stadt und ihre dunklen Schlupflöcher bergen manche Gefahr!
Heute bin ich dann stundenlang am Telefon gehangen, um die nächsten Wochen meines abenteuerlichen Lebens zu organisieren und Bankgeschäfte zu erledigen. Alles sehr mühsam und unfruchtbar. Ich lebe in einer Art Industrie- und Kloakenromantik -, auf der Rückseite der Abenteuer -, in der totalen Negativität! Das Schlimmste: Der Held ist weg! Das macht mich selbst auch etwas ziellos und langsam in all den praktischen Dingen, die ich hier bewältigen muss. Es fehlt der innere Antrieb, die klare Richtung, die enthusiastisch kommandierende Kraft! - Ich weiss nicht, weshalb er fort ist und wo er sich herumtreibt. Er sitzt vielleicht irgendwo in einer Kneipe und lässt sich vollaufen; schien auch nicht besonders zufrieden - hat jedenfalls viel herumgemeckert, dass alles nicht so ideal sei, wie er es sich gedacht habe. Gott, was er über den Verkehr hier an der Marketstreet geklönt hat. All unsere Freunde mussten sich diese Klagen mitanhören! Dabei, was will man. Der Verkehr ist nun mal da und das Hotel -, nun ja, es sind wirklich spannende Leute und sehr nette Betreiber! Also was soll das klönen. Ich habe ihn klönen lassen, und mich um die praktischen Dinge gekümmert: Kaffee am Morgen, Bank, Post, Kontakte zu einem Segelclub von Behinderten, Kontakte zu bestimmten Schwulenorganisationen ... halt all das, was er so wollte. Aber während ich mich bemüht habe, ist er irgendwie weggelaufen. Jetzt sitze ich da in meinem totenstillen, stickigen Zimmer mit all seinen Aufträgen und Wünschen, und er ist weg! - Ich sollte einen Fragebogen für den Studienverlag ausfüllen betreffend diese Geheeb-Biographie! Und dann hat er sich ja in den Kopf gesetzt, nach Europa zurückzusegeln - nach Europa zurück oder über den Pazifik. Aber eben: Ich rackere mich ab, und er ist überhaupt nicht da. Ihm stinken diese Dinge - der Fragebogen, das Telefonieren etc. -, nur eben: irgendwer muss es ja machen!
Wie ist das mit dem klassischen Drama: Der dritte Akt bringt Peripathie - eine Art Verlängerung - Plateau - nichts passiert. Im vierten kommt dann der Höhepunkt, im fünften die Auflösung und Entspannung. - Es fühlt sich an, wie Akt drei: Alle sind beschäftigt und nichts geschieht. Alle sind irgendwie lustlos ... Ich scheine der einzige zu sein, der immerhin so viel Selbstdisziplin hat, dass er wenigstens noch probiert, den Karren in Schwung zu bringen.
Ja. Was möchte ich eigentlich. Weshalb schreibe ich Dir. Ich habe vielleicht gehofft, der Held sei bei Dir, sitzt vielleicht an Deinem Küchentisch und hält irgendwelche berauschenden Reden - vieleicht zum Goeth'schen Motto: "In der Idee leben heisst das Unmögliche behandeln als ob es möglich wäre". Vielleicht wollte ich auch nur etwas Zeit schinden, damit ich den Fragebogen nicht in Angriff nehmen muss, denn eigentlich stand der heute auf dem Programm. Nur - inzwischen ist es ohnehin schon Abend, also ...
Ja, der Held. Ich vermisse ihn. Vielleicht ist er auch weggelaufen, weil ich ihn enttäuscht habe. Ich habe ihn irgendwie nicht mehr ganz ernst genommen. Seine grossen Sprüche immer -, es ist mir einfach zuviel geworden. Erwartungen, Hoffnungen und dann wieder die mikrige Realität. Da ist er mir etwas lächerlich vorgekommen. Aber jetzt, wo er weg ist, fehlt er mir.