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Wissen ist ... oder: "Wir brauken keine Lerer, wir sind selber slau"

Es heisst, Sokrates habe gesagt, "ich weiss, dass ich nichts weiss". Der Satz hat in unserer Kultur überlebt: Wir trösten uns gerne mit seiner sympathischen Bescheidenheit, wenn wir wieder einmal das Gefühl haben, im Grunde trotz all unseres "Wissens" eigentlich nichts zu verstehen. Im Normalfall tragen wir unser Wissen jedoch stolz vor uns her und geniessen das Gefühl, "gebildete Menschen" zu sein. Heisst es nicht, wir leben in einer Zeit, in der die Menschen mehr wissen als je zuvor, und wozu wären wir denn sonst so lange zur Schule gegangen! Nein: Sokrates' bescheiden skeptisches "ich weiss, dass ich nichts weiss" scheint doch eher etwas für Feiertage zu sein.

Im tätlichen Leben glauben wir weit mehr an die Slogans von der modernen Wissensgesellschaft und an den vom deutschen Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht Ende des 19. Jahrhunderts zum Schlagwort gemachten Satz, "Wissen ist Macht". Wenn ich allerdings in den in meinem Kopf angehäuftn und an anderen Orten auffindbaren Wissensbeständen krame, so spüre ich von dieser Macht in der Regel nicht viel. Im Gegenteil: Bei diesen Besuchen in den Vorratsräumen unseres Wissens beschleicht mich oft ein Gefühl der Ohnmacht. Wir scheinen so viel zu wissen, doch welchen Wert hat all dies Wissen für uns? Was wissen wir wirklich? Ich jedenfalls suche in dem Wust des verfügbaren Wissens häufig vergeblich nach einem Stück Wissen, welches mir in wichtigen Fragen wirklich weiter hilft. Natürlich: Solange es nur um den Namen der Hauptstadt Ägyptens oder um die Einrichtung eines Email-Kontos und ähnlichen Kleinkram geht, solange kann ich mit einigen nützlichen Kenntnissen aufwarten. Wenn ich aber wieder einmal - und dies geschieht vermutlich nicht nur mir fast täglich - die Vorgänge in der Welt zu verstehen versuche, wenn ich also beispielsweise verstehen will, weshalb in Ägypten kürzlich wieder einige Bomben explodiert sind oder weshalb ich Bauchweh habe, dann hilft mir das in meinem Kopf oder meiner Umgebung verfügbare Wissen meist wenig, ja schlimmer: oft habe ich das Gefühl, dass dieses Wissen mich eher daran hindert, die Welt wirklich zu begreifen.

Das Wissen, welches ich mit mir herumtrage, scheint irgendwie nicht die Art von Wissen zu sein, an die Liebknecht dachte als er - kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen - 1872 vor dem Dresdener Arbeiterbildungsverein für einen Ausbau der allgemeinen Volksschule und eine Ausweitung der Arbeiterbildung plädierte. Der Satz "Wissen ist Machtlosigkeit" oder "Wissen macht blind" scheint mir jedenfalls ebenso wahr wie die Behauptung, dass Wissen Macht sei.

Tatsächlich wird das in der Schule vermittelte Wissen seit Jahrhunderten immer wieder als tot und deshalb letztlich wertlos kritisiert. Der französische Philosoph Michel Montagne verspottete die Gelehrten seiner Zeit im ausgehenden 16. Jahrhundert als "mit Büchern bepackte Esel" und Pestalozzi klagte 200 Jahre später wiederholt über das in den Schulen seiner Zeit vorherrschende leere "Maulbrauchen". In jüngerer Zeit sprachen Pädagogen wie Martin Wagenschein oder Horst Rumpf von Scheinwissen oder vom "verdunkelnden Wissen", also von einer Art Wissen, welches unser Verständnis der Dinge eher behindert als ihm voran zu helfen.

Im Alltag sprechen wir oft von "totem Wissen". Das lässt vermuten, dass es auch so etwas wie "lebendiges Wissen" gibt. Was von diesen und vielen anderen Kritikern und Kritikerinnen in Frage gestellt wird ist nicht das Wissen an sich. Sie sind nicht intellektfeindlich; sie plädieren auch nicht für eine Erziehung ohne Autorität und ohne Strenge oder dergleichen mehr. Der Stein des Anstosses ist nicht die Idee, dass ein mensch etwas wissen könne oder solle, sondern es ist die Institutionalisierung der Wissensvermittlung in besonderen, zu diesem Zweck geschaffenen Einrichtungen. Hier liegt tatsächlich ein Problem, welchem auch mit der differenziertesten Didaktik nicht beizukommen ist, denn die moderne, von oben verwaltete Massenschule basiert auf einigen bis heute nicht aufgegebenen Grundannahmen, welche beinahe zwangsläufig dazu führen, dass sie trotz aller gegenläufigen Bemühungen bis heute kaum mehr als eine reine Dressuranstalt ist, in denen die nachwachsende Generation (nach sozialem Status und künftigen Aufgaben vorsortiert) in einem langwierigen Prozess auf ihr späteres Dasein in der modernen Zivilisationsmaschine vorbereitet wird. Als solche sind unsere Schulen tatsächlich erfolgreich, doch angesichts der immer mehr ausser Kontrolle geratenden Entwicklungstendenzen dieser Zivilisationsmaschine, scheint es heute dringend notwendig, dass wir auch die negativen Auswirkungen dieser gerne idealisierten Institution wahrnehmen und ernsthaft darüber nachdenken, wie viel Konformität wir uns in Zukunft noch leisten können und wollen. Es geht dabei um das Glück und die Lebensfülle viler Einzelner. Das ist schlimm genug. Es geht jedoch auch um eine Art kollektiver Selbstzerstörung, in die wir scheinbar blindlings hineinlaufen. Das ist schlimmer, denn es könnte unser Ende oder doch einen dramatischen Zusammenbruch unserer Zivilisation bedeuten, deren Folgen für uns alle gravierend sein dürften.

Der zentrale Irrtum der Schule liegt meines Erachtens in der Tatsache, dass sie nicht begreift, in gewissem Sinn auch nicht begreifen darf, dass sinnvolles, d.h. persönlich bedeutsames Lernen seinem Wesen nach nicht von der Person des Lernenden gelöst und unabhängig von dessen konkreten Interessen, von dessen Fragen und Bedürfnissen organisiert werden kann. Wirklich bedeutsames Lernen geschieht vor allem da, wo ich engagiert, intensiv und lustvoll lebe, wo ich etwas mir wichtiges zu verstehen oder zu meistern versuche.

Diese Feststellung klingt zunächst banal. Es ist eine Tatsache, die so selbstverständlich scheint, dass die meisten Menschen, auch die meisten ErziehungswissenschaftlerInnen ihr ohne weiteres zustimmen. Trotz dieser Zustimmung scheint diese Erkenntnis in unseren Schulen jedoch keine grosse Rolle zu spielen. Wir leben diesbezüglich vielmehr in einer typischen "ja aber-Haltung". Es ist, als ob wir wissen, dass eine Sache eigentlich stimmt, doch haben wir aus irgendwelchen Gründen das Gefühl, sie uns nicht leisten zu können. Also ziehen wir uns mit einem etwas halbherzigen, aber auch in anderen Zusammenhängen oft benützten, "ja schon, aber" aus der Affäre. Wir drücken uns damit gewissermassen vor unserem eigenen besseren Wissen. Es gibt gute Gründe für dieses ausweichende Verhalten. Unser konkretes Leben ist immer ein Gemisch verschiedenster Elemente, eine ganz stimmige, ganz reine, widerspruchsfreie  Praxis ist eine Illusion. Aber wir sollten doch immerhin so ehrlich und mutig sein, uns diese Praxis etwas genauer anzusehen ohne uns bei der erst besten Schwierigkeit mit einem "ja schon aber" aus der Verantwortung zu stehlen.

Einer, der sich diesem in uns selbst und in unseren Bildungseinrichtungen bestehenden Konflikt stellte und sich nicht mit dem beschriebenen "ja aber"-Reflex zufrieden gab, war der us-amerikanische Psychologe Carl R. Rogers. Als Psychotherapeut und Hochshullehrer setzte er sich während Jahrzehnten mit der Frage auseinander, unter welchen Bedingungen Menschen wirklich "signifikante", d.h. intellektuell und emotional bedeutsame Lernerfahrungen machen. Dabei kam auch er zum Schluss, "dass die einzigen Lerninhalte, die Verhalten signifikant beeinflussen, selbst entdeckt, selbst angeeignet werden müssen." Aus dieser immer wieder gemachten Erfahrung zog er nach langem Zögern den in seinen Auswirkungen radikalen Schluss, dass wir anderen Menschen eigentlich nichts beibringen können. Lehren im herkömmlichen Sinn, als planvolle, von oben gesteuerte Wissensvermittlung,  wird damit zu einem illusionären, ja geradezu destruktiven Unternehmen. "Sobald ein Mensch versucht", so Rogers dazu, "solch eine Erfahrung, oft mit einem völlig natürlichen Enthusiasmus zu vermitteln, wird Belehrung daraus und die Ergebnisse sind irrelevant." Da wo sie relevant erscheinen, wo Stoffvermittlung also erfolgreich scheint, empfinde er, so Rogers weiter, die Auswirkungen als schädlich, denn sie bringe den Lernenden dazu, "seinen eigenen Erfahrungen zu misstrauen und signifikantes Lernen zu ersticken." Die Folgen des Lehrens seien also "entweder unwichtig oder verletzend". (Lernen in Freiheit, S.153-154) Dabei geht es nicht nur um abstrakte intellektuelle Einsichten, sondern auch um scheinbar einfache Erkenntnisse und Fertigkeiten, um das Dividieren oder um das Fahrradfahren. Jedesmal, wenn wir dem Lernprozess durch direkte, planvolle Belehrung nachzuhelfen versuchen, beeinträchtigen wir die Qualität des Ergebnisses.

Der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte hat den von Rogers beschriebenen Sachverhalt am Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Weise auf den Punkt gebracht als er schrieb: "Kein Mensch wird kultiviert; jeder hat sich selbst zu kultivieren. Alles bloss leidende (d.h. passive, MN) Verhalten ist das gerade Gegenteil von Kultur. Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit ab." Kürzer und prägnanter lässt sich der Widerspruch, an dem unsere Schule krankt, kaum formulieren.

Wenn wir "Lernen" über längere Zeiträume vom einzelnen, konkreten Menschen und seinem Umfeld trennen, und es in eine standartisierte Operation in einem speziell dafür geschaffenen Raum verwandeln, reduzieren wir nicht nur die Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Menschen. Wir Schwächen auch das Gewebe von Fragen und Auseinandersetzungen, Neugier und Anteilnahme, Gesprächen und Aktivitäten, welches die eigentliche Basis unseres gesellschaftlichen Lebens bildet. Pointiert ausgedrückt könnte man sagen, wir zerstören durch ein zu viel an belehrung in sehr grundlegender Weise die Seele, die Intelligenz und die Handlungsfähigkeit des Einzelnen und der Gesellschaft. Der dadurch angerichtete Schaden kann durch die didaktisch methodischen Bemühungen, durch welche wir den Lernprozess in den heutigen Schulen am Leben zu erhalten oder wieder zu beleben versuchen, nur zu einem sehr geringen Teil verhindert oder behoben werden.

Dies ist nicht eine prinzipielle Absage gegen jede Art von "Unterricht". Im Rahmen von Unterricht organisiertes Lernen, also mehr oder weniger zielgerichtete Belehrung von oben kann durchaus sinnvoll und nützlich sein, doch gilt hier wie bei allen Dingen des Lebens: Zu viel davon ist ungesund. Was Parazelsus vor bald 500 Jahren über Heilkräuter und Arzneien sagte gilt auch für unsere Bemühungen, andere Menschen zu belehren: Jedes Heilmittel kann zum Gift werden. Die richtige Dosierung ist entscheidend, auch in Sachen Schule. Dabei gibt es keine allgemeine Norm, insgesamt scheint mir die Dosis an organisierter Bildung, die wir uns heute zumuten, jedoch längst jedes vertretbare Mass überschritten zu haben.

Die Symptome sind bekannt: Schulmüdigkeit, Desinteresse, Pseudobegeisterung, eine Subkultur von Heuchelei und Betrug, Enttäuschung und Mutlosigkeit bei den sogenannt "schlechten" SchülerInnen,grosse Mengen halb verstandenen Wissens auch, ja gerade bei sogenannt "guten" SchülerInnen etc. etc. Doch es geht uns mit der Sache wie allen Süchtigen: Wir haben uns an den Stoff und seine Wirkungen Gewöhnt. Seine Produktion und sein Vertrieb sind zum Geschäft, seine Einnahme zum festen Ritual geworden. Wir wollen nicht an die negativen Seiten der Sucht erinnert werden. Wir wollen überhaupt nicht als "süchtig" bezeichnet werden! Wir wissen, das etwas nicht stimmt, doch uns fehlt der Mut oder auch der äussere Druck, uns dem Problem zu stellen.

Dass mein Interesse an einer Sache um so grösser ist, je mehr sie mit den Dingen zu tun hat, die mich zur Zeit gerade beschäftigen, weiss die Schule natürlich auch. Ihre Lehrkräfte werden deshalb angehalten, bei der Einführung eines neuen Lehrstoffes diese Verbindung zu den Interessen der SchülerInnen nach Möglichkeit herzustellen oder das entsprechende Interesse in ihnen zu "wecken". Dies gelingt bei kleinen Kindrn in der Regel noch recht gut, doch im Verlauf der Jahre wird aus diesem Versuch allmählich ein ziemlich klägliches Spiel, denn den Lehrkräften fehlt letztlich sowohl die Freiheit als auch die innere Ruhe, die Tiefe eines ihnen entgegengebrachten Interesses zu prüfen. Noch schwieriger ist es, im Laufe des Unterrichtsprozesses in dauerndem Kontakt mit den Interessen ihrer Schülerinnen zu bleiben, Interessen, die sich naturgemäss ständig weiter entwickeln und die darüberhinaus stets von zahlreichen anderen, mindestens so starken und legitimen Interessen konkurrenziert werden. Das Bemühen trotz Lehrplanvorgaben, kollegialem Druck und Elternerwartungen längerfristig in wirklichem Kontakt mit ihren SchülerInnen zu bleiben und die Konkurrenz der anderen Interessen andauernd in Schach zu halten, ohne damit zu viel Frust zu erzeugen, erweist sich deshalb in der Praxis trotz TZI, trotz Projektunterricht und Wagenschein-Didaktik, trotz Wochenplan und all der anderen, um dieses Ziel bemühte Didaktiken immer wieder als ein Ding der Unmöglichkeit.

Die LehrerInnen wären verloren und das System wäre am Ende, wenn ein Teil der SchülerInnen nicht bald begreifen würde, dass es zu den wichtigen Überlebensstrategien in unserer Gesellschaft gehört, in der Schule (und anderen offiziellen Veranstaltungen) auch dann interessiert zu erscheinen, wenn sie es im Grunde nicht oder doch nur sehr bedingt sind. Sie werden deshalb zu ExpertInnen im Heucheln und im so tun als ob. Dabei werfen die meisten von ihnen notgedrungen auch den Anspruch über Bord, das, was ihnen von der Schule tag täglich vorgesetzt wird, wirklich zu verstehen. Es ist ein Spiel auf welches sich ihre von heimlicher Verzweiflung geplagten (Be)-lehrerInnen gerne einlassen, wird damit doch zumindest der Schein gewahrt, dass es sich bei der Schule um eine wenn nicht gerade beliebte, so doch nützliche und sinnvolle Einrichtung handelt.

Die in diesem beschränkten Sinn erfolgreichen SchülerInnen verlieren dadurch zwar allmählich das Gespür für ihre wirklichen Interessen und das, was sie eigentlich denken und wollen, doch ist dies ein Problem, welches ihnen falls überhaupt meist erst Jahre oder Jahrzehnte nach ihrem Schulabschluss bewusst wird, für das die Schule also nicht mehr zuständig ist. Die SchülerInnen, welche weniger Talent oder weniger Wille zum Heucheln haben oder auf die ihnen zugemutete übermässige Belehrung gar mit aggressivem Verhalten und mehr oder weniger offener Verweigerung reagieren sind zu diesem Zeitpunkt weitgehend aus den Schulzimmern ihrer erfolgreicheren KollegInnen verschwunden. Da "schulische Bildung" innerhalb der Gesellschaft nach wie vor einen hohen Stellenwert hat und die einzelnen Elemente des Vorgehens regelmässig von angesehenen "ExpertInnen" überprüft, revidiert und abggesegnet werden und da den Lernenden last but not least auf Grund äusseren Drucks und innerer Gewöhnung in der Regel der Mut und die Entschlossenheit zur Dienstverweigerung fehlen, wird der ganze Betrieb heute kaum je in Frage gestellt. Er scheint legitim und das bisschen Heuchelei und Langeweile, die fragwürdige Gebildetheit der "guten" und die Entmutigung der "schlechten" SchülerInnen und andere Dinge werden als normal oder als unvermeidliche Kollateralschäden hingenommen.

Unser glaube an die Vermittelbarkeit von Wissen beruht laut dem brasilianischen Pädagogen Paolo Freire u.a. auf der Annahme, dass die Wirklichkeit statisch, in ordentliche Fächer eingeteilt und vorhersagbar sei. Als weitere Elemente dieser Weltanschauung könnte man den Glauben nennen, dass die Wirklichkeit von den einzelnen Menschen unabhängig existiert und eindeutig beschreibbar sei. Auf dem Hintergrund dieser Auffassung scheint es ausreichend, wenn die Aktivität der SchülerInnen im wesentlichen daraus besteht, die ihnen vermittelten "wichtigen" Lerninhalte in Empfang zu nehmen, sie zu Ettikettieren und irgendwo in ihren Köpfen abzulegen. Da ihnen allerdings ständig weitere Dinge nachgereicht werden, gerät die ordnung im Kopf leicht durcheinander; die Ablage wirkt oft schon nach kurzer Zeit ziemlich chaotisch, die Ettiketten sind teils abgefallen, teils scheint bei der Beschriftung ein Fehler unterlaufen oder die Stichworte machen keinen rechten Sinn mehr. Da wir das im 40 oder 45-Minutentakt angelieferte "Wissen" aufgrund des Zeitdrucks nur sehr oberflächlich oder gar nicht auf seinen Inhalt untersuchen können, besteht der Grossteil von dem, was wir in der Schule und bei späteren Gelegenheiten "lernen" aus Dingen, über die wir eigentlich nichts wissen. Die so erworbene "Bildung" besteht also vor allem aus leeren Worten -, Worten ohne Wirklichkeitsbezug, ohne Inhalt, ohne Verbindung mit unserem Denken und Fühlen, ohne Verbindung mit unserem Alltag und der Welt um uns her, "leere Worte, die uns schmeicheln, wissend zu sein und uns taub machen für die Wirklichkeit", wie der deutsche Pädagoge Martin Wagenschein schrieb. ($Verstehen Lehren S. 46)

Was wir in der Schule eingeübt haben, begleitet uns als Gewohnheit und Ritual durch unser Erwachsenenleben: Wir hören Nachrichten oder lesen Zeitung - ein paar Worte und Namen ziehen an uns vorbei: "Sicherheitsrat, Harz 4, WTO,  Börsendaten von Reuters, Hugo chavez, NASTAK Index, Hypo Real Estate, Finanzaufsicht, Bail-Out, Biodiversität  ..." - vertraute Klänge, vertraute Schriftbilder. Sie geben uns das Gefühl, dass wir im Bilde sind und dass wir wissen, was vorgeht in der Welt. Vielleicht, das geben wir zu, wissen wir nicht alles, aber doch das Wesentliche. Wichtig sind nicht die konkreten Inhalte, sondern das durch sie (und allerlei andere Unterhaltungsarten) vermittelte Gefühl, dazuzugehören. Wenn die mediale Berieselung - andere sagen das mediale Bombardement oder die Informationsflut - aussetzt, macht sich Leerre und Unbehagen breit.

Wie dünn unser "Wissen" in Wirklichkeit ist wird uns klar, wenn wir eine Viertelstunde nach den Nachrichten gefragt werden, was eben von Chabez gesagt wurde. "Chabez? Ja ... irgend eine Konferenz. Er hat irgend etwas gesagt ... Ich weiss nicht mehr, irgend etwas über Bolivien glaub ich." Wir hören nicht hin. Der Klang reicht und beruhigt. Aber auch da wo wir hinhören und die Begriffe kennen, vielleicht selbst mit ihnen jonglieren, haben wir häufig keine oder nur eine sehr vage Vorstellung, was sich hinter den Worthülsen verbirgt.

Das wäre an sich kein Problem, denn wir können und müssen nicht über alles Bescheid wissen. Dass eigentliche Problem besteht darin, dass wir die Dürftigkeit unseres Wissens in der Regl kaum mehr wahrnehmen. Stattdessen halten wir die Ansammlung zufälliger, weder mit uns noch mit der Welt verbundener Begriffe und theoriefetzen, aus denen der aller grösste Teil unserer "Bildung" besteht für tatsächliche Bildung und den rituellen Austausch dieser Phrasen für echte Gespräche. Unsere „Bildung" schiebt sich gewissermassen zwischen uns und unsere Wirklichkeit, wobei unsere vor dem Einzug in die Schule schier unstillbare Neugier und unser Sinn für das Richtige und das Bedeutsame allmählich zu Grunde geht. Die spontane Bereitschaft und Fähigkeit, uns einzumischen, zu fragen, zu protestieren oder zu helfen, bestehende Probleme anzupacken und zu lösen, über die wir in so reichem Mass verfügten, als wir noch „kleine Wilde", d.h. ungebildete Kinder waren, wurden zu steifer Unbeholfenheit, vorsichtiger Zurückhaltung, eitler Rechthaberei und komplizierter Gelehrsamkeit.

Das Spiel, welches in den ersten Tagen unserer Schulzeit einsetzt und bald einen grossen Teil unserer aufmerksamkeit absorbiert, wäre langweilig wenn es nicht an das Versprechen von Erfolg und Aufstieg und die Drohung von Ausschluss und Abstieg gekoppelt wäre. Das macht die Sache tatsächlich spannend. Allerdings geht es jetzt nicht mehr oder nur noch nebenher und eher zufällig um die Freude am Verstehen und um das Wissen selbst. Was jetzt aktiviert wird  könnte man als sekundäre Motivationen bezeichnen. Wir tun das, was wir tun, nicht mehr in erster Linie, weil uns die Sache Spass macht oder weil wir sie für wichtig oder richtig halten, sondern weil wir auf Anerkennung und Erfolg hoffen oder weil wir den betreffenden Stoff für unseren Schulabschluss, für's „Diplom" oder für die Karriere brauchen. Unsere ursprüngliche Neugier, unser Wunsch zu begreifen und unsere Suche nach dem persönlichen oder gesellschaftlichen Sinn einer Beschäftigung und andere, innere Beweggründe kommen bei dieser Art des Lernens allenfalls gelegentlich und eher zufällig ins Spiel. Was jetzt dominiert sind Ehrgeiz und Konkurrenz, Angst, Unterlegenheitsgefühle, Schahm, Triumph und Macht. „Wissen" und „Bildung" werden zum Mittel, in der Welt voranzukommen, seine Gegner zu überrunden, das Publikum zu beeindrucken und für sich zu gewinnen, den Vorgesetzten zu schmeicheln, die Untergebenen in Schach zu halten, andere für eigene Pläne zu gewinnen, sie zu verwirren und zu begeistern ...

Ehrlichkeit und Fleiss werden zwar nach wie vor als hohe Tugenden gefeiert, doch in der Praxis können diese und ähnliche Dinge leicht zum Problem werden. Wer Karriere machen will ist gut beraten, wenn er solchen Idealen keinen allzu grossen Wert beimisst, denn im allgemeinen Wettbewerb um die besten Noten, welche uns später die besten Jobs garantieren sollen, kommt man mit einer gewissen Oberflächlichkeit, mit etwas Heuchelei und geistiger Piraterie in der Regel weiter als mit den genannten und ähnlichen Tugenden. Der schöne Schein und die schnelle Erledigung einer Aufgabe sind das, worauf es in der Schule ankommt. Dabei muss man natürlich – wie im späteren Leben auch – darauf achten, dass der Schein der Ehrlichkeit und des Fleisses allzeit gewahrt bleiben, und man von der Unmoral des Systems offiziell nichts weiss. So tun als ob ist also angesagt, und seine Gegner anzulächeln während man sie aus der Bahn drängt ist die oberste der zu erlernenden Künste.