Rundbrief 7: Uncle, Hausgott und Chefsponsor. 12 Tage als Gast in Bhagalpur
Die gesamte Familie hat sich zwar ruehrend um mich gekuemmert, doch schon bald haben sich in mir so viele Themen und Fragen angestaut, das ich zunehmend missmutig wurde. Damit war der Teufelskreis natuerlich perfekt, denn auch dafuer gab es kein Ventil - keinen Gespraechspartner, kein Klavier, mit dem ich mich haette ablenken, keine Arbeit, in die ich mich haette stuerzen koennen. Zu dem Gefuehl der Isolation kam die Auseinandersetzung mit der Armut, in der Vickys Familie lebt, und die er mir - so sein expliziter Wunsch - zeigen wollte. Dabei schien mir diese Armut zunehmend kein bloss materielles Problem zu sein. Sicher. Die Menschen hier haben sehr wenig, und wenn einmal eine groessere Ausgabe noetig wird, sind sie mit ihren Mitteln oft am Ende, was zB bedeutet, dass Vickys juengere Geschwister seit dem Beginn dieses Schuljahres nicht mehr in die Schule gehen, weil das Geld fuer die notwendigen Schulbuecher fehlt, und das sein Vater trotz grosser Schmerzen in den Schultern, den dringend noetigen Arztbesuch immer wieder hinausschiebt. Diese Dinge sind (zumindest auf den ersten Blick) schlimm - und sie waren natuerlich (bewusst oder unbewusst) auch ein dauernder Appell an mich, der ja das Geld haette zu helfen. Doch das eigentliche Problem liegt von mir aus gesehen fast noch mehr in der Armut in den Koepfen und Herzen, d.h. in der Hilflosigkeit, in irgendwie positiver Weise mit ihrer schwierigen Situation umzugehn. Doch statt weiter zu theoretisieren will ich versuchen, euch einen einigermassen konkreten Eindruck meiner Erlebnisse in Bhagalpur zu geben. Dabei begann die Geschichte eigentlich noch waehrend unseres Besuches der blind boys academy in Nanindrapur, denn als Vicky von dort aus nach Hause anrief und dort unser Eintreffen für den nächsten Tag ankündigte, war sein Vater offenbar vor allem an der Frage interessiert, was ich ihm von unserer Reise mitbringen würde. Er könne, so liess er seinen Sohn wissen, ein oder zwei paar neue Hosen und ein Hemd sehr gut gebrauchen!
Ich wusste zuerst nicht recht, ob ich über diese Unverblümtheit lachen oder mich über sie ärgern sollte. Vickys Vater hat mich noch nie gesehen, aber fragt schon nach den Geschenken. Irgendwie rührend, so naiv und offen, aber der Mann ist doch kein Kind mehr! andererseits wurden von mir vielleicht wirklich Geschenke erwartet, denn schliesslich gehörte ich mittlerweile ja zur Familie, und wir waren immerhin vier Wochen weg gewesen. Vicky war die Direktheit seines Vaters zwar auch etwas peinlich, doch erwarte man von uns tatsächlich Geschenke – am besten Kleider, Saris für die Frauen sowie Hemden und Hosen für die Männer.
Wir hatten eben unsere Tour in der Blindenanstalt hinter uns, und ich war eigentlich ausreichend müde, doch da war offenbar nichts zu machen. Wenn ich als Bruder, Neffe, Schwager und Onkel nicht versagen wollte, mussten wir vor dem Abendessen unbedingt noch etwas shoppen gehen, denn am nächsten Morgen würde die Zeit dazu nicht reichen. So kamen wir am Abend des 10. Februar, genau vier Wochen nach unserem Aufbruch, immerhin nicht mit ganz leeren Händen in Bhagalpur an:
Zwei Saris konnten wir vorlegen – einen für die Mutter und einen für die Frau von Vickys älterem Bruder. Diese konnte ihr Geschenk allerdings nicht in Empfang nehmen, denn während wir auf Reisen waren, hatte es zuhause (offenbar nicht zum ersten Mal) Krach gegeben. Vickys älterer Bruder Guddu hatte rebelliert. Danach hatte er seine Angetraute mitsamt ihrem 3-jährigen Sohn in die Verbannung, d.h. in ihr rund 30 km entferntes Elternhaus geschickt. Er selbst war seither ebenfalls nicht mehr heimgekommen, sondern wohnte im bicycle repair shop der Grosseltern.
Guddu sei eben ein "hot mind" erklärte mir Vicky, aber wenn ich mit ihm reden würde, würde er sicher wieder nach Hause zurückkehren ... Ich war etwas skeptisch, aber Vicky meinte zuversichtlich "he will listen to you", und ich begriff, dass auch diese Friedensmission zu meinen Aufgaben als Onkel gehörte. Sie sollte am folgenden Tag stattfinden, denn dann sollten alle, denen wir nichts mitgebracht hatten, in Bodh Gaya mit neuen Kleidern eingedeckt werden. Bei der Gelegenheit würde ich den rebellischen Guddu und seine Grosseltern kennen lernen, denn natürlich konnten der Grossvater und die Grossmutter von der Geschenkeaktion nicht ausgeschlossen werden, und auch Guddu brauchte dringend ein paar Hosen ... Dazu kam dann noch die im selben Haushalt lebende jüngere Schwester von Vickys Vater und ihr 2-jähriger Bub. Auch sie würde einen Sari kriegen.
Als wir am folgenden Tag im alten Bicycle Repair Shop der Familie aufkreuzten war von Streit nicht viel zu merken. Nachdem ich die runzlige Hand des Grossvaters ausgiebig gedrückt, mich mehrmals in Richtung Grossmutter und Tante verneigt und alle mit meinem "Namaste" beglückt hatte, drückte Vicky mir das übliche Glas Tee in die Hand und fragte "will you talk to my brother now?" Das ganze Ambiente schien mir zwar nicht gerade ideal für ein tiefschürfendes Konfliktgespräch, doch was sollte ich tun. Ich bat Guddu, sich neben mich auf die Pritsche zu setzen, die in dem kleinen, einfachen Shop als Tisch, als Bank und als Bett dient, und fragte ihn nach ein paar hilflosen Begrüssungsworten, ob er nicht wieder nach Hause kommen und dort wohnen wolle. Er sagte nein, und als ich fragte, weshalb nicht, seufzte er und meinte "big problem". Auf meine Frage, ob er mir mehr davon erzählen wolle, sagte er "no, no.".
Für mich war der Fall damit erledigt. Guddu ist immerhin 24 Jahre alt und muss doch letztlich selbst entscheiden, was er wem anvertrauen und wie er leben will. Ich erklärte Vicky deshalb, dass ich Guddus"nein" akzeptiere, doch diese schwächliche Westpsychologie leuchtete ihm offenbar nicht ein. Er meinte, ich müsse Guddu sagen, dass ich mich sehr freuen würde, wenn er wieder im Dorf wohnen und heute Abend mit mir essen würde. Das Verstehen von Guddus Problemen scheint also weniger wichtig als die äusserliche Wiederherstellung der aus den Fugen geratenen Familie. Nun, obwohl mir diese Art der Konfliktlösung suspekt war und ist, versuchte ich es, und siehe da:
Als ich Guddu sagte, wie sehr ich mich freuen würde, wenn er heute Abend wieder bei seinen Eltern wäre, und wir dort miteinander essen könnten, schmolz sein Widerstand dahin wie die sprichwörtliche Butter an der Sonne. "You would like to eat with me", fragte er mit schüchternem Lächeln. "I come home tonight, seven o.clock? Yes, okay, I would like to. Yes I coming seven o.clock.". Damit war die Welt wieder heil, zusammengeklebt mit uncle Martin's magic glue, und der Weg zum grossen Kleiderkaufen war frei.
Am Abend tauchte Guddu tatsächlich auf. Er ist mir seither sehr zugetan, kommt immer wieder zu mir, seufzt und jammert ein wenig und fragt mich dann: "Any problem, uncleji, any problem?" Guddus Eltern, die laut Vickys Aussagen vom Vorabend sehr unglücklich über den Auszug ihres Sohnes waren, scheinen seine Rückkehr allerdings kaum zur Kenntnis zu nehmen. Überhaupt wirkt die Art, wie die einzelnen Mitglieder der Familie miteinander umgehen, auf mich ziemlich distanziert. "We don't touch" hatte mir Vicky bereits auf der Rückfahrt nach Bodh Gaya erzählt. "No no, no hugging or kissing!" Seine Mutter berühre ihn nur, wenn er krank sei, sonst nie, und auch zum Vater scheint kein näheres Verhältnis zu bestehen. Die Familie scheint vor allem eine Art Arbeitsgemeinschaft. Jeder kennt seine Aufgaben und seinen Platz in der Familienhierarchie. Diese ist deutlich ausgeprägt und wird nicht (oder doch nicht direkt) hinterfragt.
Vickys 10-jährige Schwester, Raki, ist, so mein Eindruck, zu unterst in der Familienhierarchie angesiedelt. Sie ist diejenige, nach der man ruft, wenn beim Essen etwas fehlt oder sonst etwas zu holen oder zu bringen ist. Dabei bittet man nicht, sondern man sagt einfach "bring Wasser" oder "gib mir die Seife". Man scheint dies nicht als unhöflich zu empfinden. Auch ausserhalb der Familie höre ich nie ein "Bitte" oder ein "Danke", zumindest nicht in dem Milieu, in dem Vicky aufgewachsen ist und verkehrt. Wenn Raki nicht da ist, tritt die Mutter an ihre Stelle, danach kommt Vickys 12-jähriger Bruder Vikram. Vicky nimmt den dritt obersten, Guddu den zweit obersten und der Vater den obersten Platz in der Hierarchie ein.
In Vickys Familie komme ich mir vor allem während der ersten Tage wie eine Art Hausgott vor, und in gewissem Sinn bin ich dies auch, denn, so erklärt mir Vicky, "you are like God for us, in our culture the guest is like God.". Zu der Rolle als Ehrengast gehört es u.a., dass ich als erster esse. Ich sitze dabei auf einer kleinen, reichlich abgenützten Matte auf dem Fussboden und schaufle mit Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger meiner rechten Hand das Essen in mich hinein, welches Vickys Mutter und seine jüngere Schwester Raki mir auftragen. Erst wenn ich fertig gegessen habe werden die anderen essen. Während der ersten Tage begreife ich das noch nicht, was zu ziemlichen Verspätungen im Ablauf des üblichen Abendprogramms führt. Wenn ich gefragt werde, ob ich hungrig sei, sage ich jeweils brav "no no, not yet", denn ausser mir scheint niemand Lust auf's Essen zu haben. Erst als mir klar wird, dass es so etwas wie eine gemeinsame Mahlzeit im Haus von Vicky nicht gibt, und dass die Frage "are you hungry" ungefähr so viel heisst wie setz dich hin, dein Essen ist fertig, pendeln sich die abendlichen Abläufe in Vickys Familie allmählich wieder ein. Das bedeutet, dass ich die eher ungemütliche und unorganisierte Esserei zwischen halb acht und acht Uhr eröffne, und wir alle gegen 21:30 im Bett sind.
Am Samstag dem 12. Februar, dem Tag nach dem grossen Begrüssungsshopping, statteten wir (Vicky, sein Freund Sahid, ich, Guddu und Sanje) Guddus Frau und seinem Sohn einen Besuch ab. Den mitgebrachten Sari behielt Vickys Mutter zuhause. Die Schwiegertochter würde ihn kriegen, wenn sie wieder zurück kommt. Das Geschenk für Guddus temperamentvollen und witzigen Sohn – meinen Neffen – durften wir mitnehmen. Guddu freute sich offensichtlich darüber, dass ich "ja" zu dem Besuch gesagt hatte. Was den Konflikt mit seiner Frau anging, wirkte er jedoch nach wie vor ratlos.
Im Laufe der etwa 3 Stunden, die wir bei Guddus Schwiegereltern zugebracht haben, scheint er seine Frau zwar einmal gefragt zu haben, ob sie nicht wieder zu ihm nach Bhagalpur ziehen möchte. Ihre diesbezügliche Weigerung schien ihn jedoch nicht weiter zu beunruhigen. "No problem" sagte er mir, als ich ihn auf dem Heimweg danach fragte. Dass er seinen Sohn mag und ihn irgendwie vermisst scheint klar. Ob er seine Frau vermisst, scheint er selbst nicht zu wissen. Vicky, der in der Sache diesmal vergebens auf Martins magic glue gesetzt hatte, ist zwar zuversichtlich, dass die Frau in ein paar Wochen zurückkommen werde, doch sie selbst will davon zumindest im Augenblick offenbar nichts wissen: Ihr Mann sei schlecht, sehr schlecht, erklärt sie mir am Ende unseres Besuches. Weshalb erfahre ich nicht – weder von ihr, noch von Vicky oder von Guddu. Konfliktlösung à la indiènne – miteinander reden ohne miteinander zu reden?
Ehe wir abfahren machen wir noch einen ausführlichen Spaziergang durchs Dorf, wobei ich mich wieder einmal in der Kunst übe, alles, auch das, was ich bereits zu kennen glaube, anzusehen, d.h. hinzugehen und es zu betasten, um mein "Bild" von Indien zu ergänzen und diesen Teil der Welt besser zu begreifen. In Erinnerung bleibt mir dabei vor allem eine kinderkopfgrosse Frucht mit sehr regelmässigen, kurzen Stacheln und ein kleines Zicklein, das sich so weich anfühlt, dass ich es zunächst für eine etwas missratene Katze halte. Um fünf Uhr abends sitzen wir wieder in Sanjes abenteuerlichem Kleintransporter und rumpeln und schlingern die 30 km nach Bhagalpur zurück.
Exkurs: Bihar - der wilde Westen Indiens
Damit ihr euch ein besseres Bild vom wirtschaftlichen und politischen Umfeld machen koennt, in dem Vickys Familie und seine Freunde leben, will ich kurz aus einem Artikel ueber das weiter vorne bereits kurz erwaehnte umstrittene Maitreya Project zitieren, den ich nach meiner Heimkehr im Internet gefunden habe. Es heisst dort ueber Bihar, in dem auch Bodh Gaya und Bhagalpur liegen u.a.: "As the poorest and least developed Indian state, Bihar has the lowest literacy rate, highest number of deaths in police custody, worst roads, and highest crime in all of India. Its per capita income is less than half the Indian average. Villages around Bodh Gaya have been the scenes of vicious inter-caste violence while revolutionary communist militias are engaged in a low-level civil war with the private armies of local landowners. Estimates put the numbers killed in caste-related violence around 6,000 per year. In 1997 there were 2,625 murders, 1,116 kidnappings and 127 abductions. - Despite Bihar's poverty and its population of over 60 million, it recives little international aid because most development agencies consider that the level of state and local government corruption make it impossible to work there. Many members of the State legislature – and this includes the Chief Minister and several members of his cabinet – have been charged with crimes including rape and murder. According to journalist critics, they enter parliament through election rigging, and stay out of prison because their position affords them immunity from imprisonment on remand. The justice system is so chaotic that it will be many years before their cases come to court. (...)."[1] - Im Vergleich zu anderen Laendern auf dieser Welt mag das ja noch zivilisiert sein, im Vergleich zum uebrigen Indien (und zu dem, was ich in dieser Sache gewohnt bin) scheint Bihar jedoch wirklich nicht gerade der freundlichste Staat. Man hatte Amie und mir zwar erzaehlt, dass Bihar gefaehrlich sein koenne, und wir vor allem nachts nicht allein ueberland fahren sollten, und auch Vicky hatte mir oft gesagt, dass Bihar anders sei als das uebrige Indien, doch so genau wollte ich dies damals nicht wissen. - Jetzt wo ich gewissermassen Familie in Bihar habe, fange ich mir an, Sorgen ueber die dortige Situation zu machen.
Das Fest des Lernens
Während unserer ersten Tage in Bhagalpur herrschte dort und überall in und um Bodh Gaya eine grosse Aufregung, denn am Sonntag sollte das Fest des Lernens gefeiert werden. Zu diesem Zweck wurde auch gegenüber von Vickys Haus eine kleine Bude aus Bambusstangen und Plastikplanen aufgebaut und mit bunten Stoffen und Blumen dekoriert. Im Zentrum dieses Tempels wird die Statue von Saraswathi, der Göttin des Lernens aufgestellt. Sie wird vom lokalen statue maker geliefert. Sie sollte irgendwann im Verlauf des Sonntags von einem Sadu, d.h. einem heiligen Mann, enthüllt werden. Danach werden der Göttin verschiedene Opfergaben dargebracht, wobei der grössere Teil der essbaren Dinge nach der Berührung mit der heiligen Statue (als materielle Garantie für das Wohlwollen der Göttin und ihre Unterstützung auf dem Weg des Lernens) in die eigenen Mägen wandert. [2]
Nachdem ich in den Schulen Pakistans und Indiens soviel leeren Formalismus, soviel unkritische Autoritätsgläubigkeit und soviel methodische Fantasielosigkeit erlebt hatte, war ich von dem Gedanken an die bevorstehende Feier zunächst angetan, denn ich nahm naiverweise an, dass man diese Gelegenheit dafür nützen würde, wieder einmal über echtes und scheinbares Lernen, über echte und wirkliche Bildung u.ä. zu reflektieren und die Göttin um die Erlösung vom Elend der bestehenden Schulen zu bitten. Die mageren Antworten auf meine diesbezüglichen Fragen liessen zwar nichts Gutes ahnen, doch wozu sollte man sonst feiern. Weshalb einen Tag zu Ehren der Göttin des Lernens, wenn es dabei nicht auch um lernen geht? Nun. Ich lernte ..., wenn auch nicht unbedingt das, was ich lernen wollte.
Ich lernte im Verlauf des Wochenendes, dass die Feier vor allem darin besteht, alle verfügbaren Soundsysteme in Schwung zu bringen, sodass man von Samstag früh bis Montag Mittag möglichst ununterbrochen beschallt und bedröhnt wird. In diesem Tumult geht die Enthüllung der Statue eher beiläufig vor sich, und auch die übrigen zeremoniellen Handlungen, das Darbringen der Gaben und das Singen der richtigen Mantras, werden in einer Art und Weise vollzogen, die mir sehr oberflächlich und mechanisch vorkam. So etwas wie einen verlässlichen Zeitplan für das Fest oder wirklich besinnliche Momente konnte ich nicht erkennen. Das Geplärre der Lautsprecher setzte nur dann für ein paar Minuten aus, wenn die Stromversorgung wieder einmal zusammenbricht, etwas was glücklicherweise auch an diesem Wochenende mehrmals geschehen ist. - Mintu, der von mir gesponserte Zehntklässler, von dem gleich noch die Rede sein wird, hatte mich eingeladen, am Sonntag Vormittag mit ihm in seine Schule zu kommen, wo man ebenfalls feierte. Doch auch dort fehlte jede ernsthafte Reflexion und jede Besinnlichkeit. Die Stimmung war ausgelassen und für alle Beteiligten ist dieses alljärhliche Fest sicher ein ganz besonderer Tag, doch für mich und meine strapazierten Ohren, war es vor allem eine Quälerei, und für meinen dauernden Drang zur Weltverbesserung war es eine verpasste Chanc.
Meine leise Frage, ob es nicht möglich wäre, die obligatorischen Saraswathi-Statuen mit eigenen Mitteln und gemäss eigenen Vorstellungen selber zu bauen, statt sie für relativ teures Geld beim statue maker machen zu lassen, zeigte mir deutlich, wie weit meine Vorstellungen von der dörflichen Realität Indiens entfernt sind. Die Frage löste in meiner Umgebung jedenfalls nur ratloses Kopfschütteln aus. Auch in den Schulen scheint kein Gefühl dafür vorhanden, wie spannend ein solcher Statuenbau mit all den sich dabei entspinnenden Diskussionen und Aktivitäten für SchülerInnen und LehrerInnen sein könnte. Auch Mintu und Shamsad, ein kluger, ansonsten sehr kritischer Schüler der Maitreya School, reagierten ganz verstört auf meinen entsprechenden Vorschlag.
So wie der Statuenmacher für das Gestalten der Statue zuständig ist, so ist die Schule für die Bildung der Menschen und der Staat oder irgendwelche Sponsoren für deren Wohlergehen zuständig. Dass man die Dinge des Lebens auch in seine eigenen Hände nehmen kann (oder gelegentlich auch muss) ist für die Menschen um Vicky – auch für ihn selbst –ein schwer fasslicher Gedanke. Er setzt ein Gefühl für die eigene Situation und eine Kenntnis der Welt voraus, welches in diesem Milieu fast ganz zu fehlen scheint. In wie weit dies mit der besonderen Religiosität Indiens zu tun hat oder eher Ausdruck einer bestimmten sozialen Schicht ist, weiss ich nicht, die allgemeine Apathie und Hilflosigkeit der Menschen, die mir in Bhod Gaya und Bhagalpur begegnet sind, ist jedenfalls auffällig. Man kann in ihrer Passivität natürlich die Schicksalsergebenheit eines grossen, weisen Volkes sehen, doch halte ich dies für Schönfärberei. Ich erlebe diese Menschen eher als mut- und ratlos, wobei die Schule, soweit sie überhaupt eine Rolle spielt, nichts zur Behebung der Misere beiträgt. Sie ist eher eine zusätzliche Last, eine neue Göttin, vor der man lange Knien und beten muss, waehrend man von ihr mit tausend belanglosen Floskeln bespuelt wird, ehe sie einem fuer die gezeigte Demut und Geduld mit einem Zehnt- oder Zwoeltklassediplom belohnt.
Sozialarbeiterblues
Meine Stimmung gegenüber der ganzen leeren Festlichkeit und der nervigen Dauerbeschallung wurde auch durch die Kriminaltragödie nicht aufgeheitert, die sich an diesem Sonntag um mich zu entfalten begann. Während ich in Mintus Schule war und von ihm und seinen Klassenkameraden mit farbigem Puder beworfen und mit essbaren Opfergaben gefüttert wurde, lernte ich nämlich einen ca. 14-jährigen Jungen kennen, dessen Eltern laut Mintu vor etwa 6 Jahren ums Leben gekommen seien. Ich begriff bald, worum es ging: Kumar, der arme Kerl, möchte ebenfalls gerne zur Schule, doch hat er dazu kein Geld ... Da ich mich zwischen den lachenden und herumtollenden oder neugierig zuhörenden Jungens in Mintus Schulzimmer nicht auf irgendwelche Sponsorengespräche einlassen wollte, reagierte ich freundlich, ging aber nicht weiter auf die Geschichte und Kumars offensichtlichen Wunsch nach Unterstützung ein.
Auf dem Weg zu den Arbeitgebern seiner Mutter, wo ich zum Mittagessen eingeladen war, erzählte Mintu mir von der Schule und seinen dortigen Erfolgen. Dann sprach er von seiner Mutter. Er habe mir bei unserer ersten Begegnung vor fünf Wochen nicht erzählen wollen, wie schlecht ihr Gesundheitszustand sei, doch mittlerweile seien ihre Beschwerden derart, dass ihr Arzt dringend zu einer Herzoperation rate. Diese würde allerdings rund 5.000 Rupien (ca. 150 Franken) kosten; dazu käme der Spitalaufenthalt und allfällige Nachbehandlungen. Wieder war der Appell an meine Hilfsbereitschaft unüberhörbar.
Als die alte Frau mich nach dem Essen begrüsste versuchte ich mir ein genaueres Bild von all ihren Leiden zu machen und schlug ihr schliesslich vor, dass ich am folgenden Tag mit ihrem Arzt sprechen würde, um zu sehen, ob und wie ich helfen könne. Sie war damit einverstanden und auch Mintu schien erleichtert. Auf dem Rückweg zu Vickys Haus fragte ich Mintu dann noch, ob ich seinen Freund Kumar am Abend einmal in Ruhe sprechen könne, da mir seine Situation durchaus nicht gleichgültig sei! Es war ein Höhepunkt in meinem Helferdasein!
Die Talfahrt begann als Vicky, den ich seit unserem morgentlichen Schulbesuch nicht mehr gesehen hatte, mir eine halbe Stunde später eröffnete, dass Kumar nicht Kumar sondern Rashid oder sonstwie heisse und dass er kein Waisenknabe, sondern Mintus jüngerer Bruder sei. Er habe bereits in der Schule gemerkt, dass hier etwas faul sei und Mintu irgend ein Spiel mit mir treibe. Inzwischen habe er einige Erkundigungen eingezogen und dabei erfahren, dass Mintus Mutter einen Schönheitssalon in Bodh Gaya führe und weder alt noch krank sei. Vickys Freund Sahid – eine Art Berner Sennenhund in Menschengestalt, pummelig, treu und immer in der Nähe – ergänzte diesen Bericht ein paar Stunden später durch die Mitteilung, dass die alte Frau, die Mintu mir als seine Mutter vorgestellt hatte, in Wahrhheit seine Grossmutter und die Besitzerin des Hauses sei, in dem sie angeblich als Angestellte arbeite.
Ich war platt und ergriff zunächst Partei für Mintu, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser sympathische und intelligente Junge mich so schamlos belügen würde. Ich hatte inzwischen auch das gewünschte Gespräch mit Mintu und seinem angeblichen Bruder gehabt, während dem dieser mir u.a. erzählte, dass Mintu ihn oft seinen Bruder nenne, weil sie beide wirklich wie Brüder füreinander fühlten. Möglicherweise, so plädierte ich am Abend gegenüber Sahid und Vicky, sei Kumar also tatsächlich ein Waisenkind und nicht Mintus Bruder. Die beiden wollten davon nichts wissen: Mintu sei ein Lügner und ein schlechter Mensch, und ich solle mich in Zukunft von ihm fernhalten. Ich versuchte den beiden klar zu machen, dass eine solche Verurteilung in Abwesenheit ohne einen unwiderleglichen Beweis seiner Schuld äusserst unfär und gefährlich sei, und ich mich deshalb nicht von Mintu trennen wolle, ohne dass er Gelegenheit habe, zu den gemachten Vorwürfen Stellung zu nehmen.
Vicky und Sahid schien diese Rücksichtnahme unnötig. Für sie war der Fall klar. Ein offenes Gespräch würde nichts bringen, im Gegenteil! Als ich vorschlug, die beiden sollten Mintu in meiner Gegenwart mit ihren Vorwürfen konfrontieren, lehnte Vicky rundweg ab: So etwas komme für ihn nicht in Frage. Wenn Mintu herauskriege, dass er ihn "verraten" habe, so könnte dies sehr unerfreuliche Folgen für ihn und seine ganze Familie haben. Dies wolle und dürfe er seiner Familie nicht antun. Mintu dürfe deshalb auch nicht erfahren, dass er und Sahid mich vor ihm gewarnt hatten. Diese Unehrlichkeit gefiel mir zwar nicht, doch Vickys ungewohnt eindeutige und klare Reaktion auf meinen Vorschlag gaben mir zu denken. Möglicherweise würde mein naives Vorgehen wirklich zu einer ewigen Familienfede führen ... Vendetta à la indiènne -, ich hatte davon zwar noch nie gehört, aber weshalb sollte es so etwas in Bhagalpur mit all seinem rigiden Familienstolz, seinem Familienzusammenhalt und seiner immer wieder beschworenen Rückständigkeit nicht geben. Ich durfte und wollte Vicky und seine Familie nicht gefährden, doch Mintu ohne irgendeine Möglichkeit der Stellungnahme fallen zu lassen schien mir ebenfalls nicht richtig, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an seine Unschuld glaubte.
Als ich Vicky vor dem Einschlafen noch einmal von meinem Dilemma erzählte tröstete er mich: "Tomorrow I will know how to do, don't worry". Tatsächlich schlug er mir am folgenden Morgen vor, Mintu einfach zu erzählen, dass mich jemand im Dorf gewarnt habe, mich allzu sehr mit ihm einzulassen, da er als Lügner und unehrlicher Mensch bekannt sei. Wenn Mintu frage, wer dieser jemand gewesen sei, solle ich einfach sagen, ich wisse es nicht. Ein älterer Mann, seinen Namen hätte ich vergessen, doch er habe mir dies und das erzählt ...
Mit dieser strategischen Lüge war ich einverstanden, doch hatte ich die ganze Helferei mittlerweile gründlich satt. Ich hatte Vicky am Sonntag Abend auch von einem anderen jungen Mann erzählt, der auf der Suche nach einem Sponsor sei und mit dem ich mich deshalb am Montag vormittag treffen wolle. Als ich seinen Namen nannte, hatte Vicky nur gelacht und "o no uncle" gesagt. Er kenne den Betreffenden zwar selber nicht, doch habe er in Bhod Gaya einen sehr schlechten Ruf.
Mich ärgerte Vickys Reaktion, seine scheinbare Negativität und sein herablassendes Lachen. Andererseits konnte ich meinem Gefühl in diesen Dingen offenbar nicht trauen. Vicky meinte, ich solle mich bei Anderen erkundingen. Er würde sich am liebsten nicht einmischen, aber er fühle sich für mich verantwortlich. Er könne mich nicht einfach in alle ausgelegten Schlingen treten lassen, ohne zu reagieren.
Weshalb war das alles so mühsam? Weshalb können diese sympathischen Bittsteller nicht einfach ehrlich sein? Weshalb stört Vicky meinen Traum vom selbstlosen Wohltäter mit seinem besserwisserischen Lachen? Weshalb ist dieses Kaff so verseucht von Klatsch und Tratsch und Missgunst? Weshalb soll ich eigentlich Vicky glauben ... wenn mich jemand eingewickelt hatte, dann doch er ... Er? Nein ... oder doch? Ich hatte ihn während unserer vierwöchigen Reise wirklich ins Herz geschlossen, aber mein Herz scheint ja nicht besonders schlau zu sein ...
Als ich am Montag früh vor meinem geliebten Ohm-Restaurant sass war meine Stimmung ziemlich trüb. Zum Glück ist der Kaffee, den sie dort brauen, einigermassen brauchbar! Als Guddu, so der Mensch mit dem schlechten Ruf (nicht zu Verwechseln mit Vickys älterem Bruder), auftauchte, erklärte ich ihm ohne grosse Umschweife, dass ich mich vorderhand in Bhod Gaya auf keine Hilfsaktionen mehr einlassen und auch ihn nicht unterstützen wolle. Ich hätte zu schlechte Erfahrungen gemacht und sei auch vor ihm gewarnt worden. Er habe mir zwar Menschen genannt, die für ihn eintreten würden, doch könne ich mich auf deren Aussagen letztlich ebenso wenig verlassen, wie auf das, was er mir sage. Um der Sache wirklich nachzugehen fehle es mirjedoch an Zeit und Energie ... Guddu reagierte wider erwarten gelassen, und es tat mir schon beinahe etwas Leid, als er ohne weiteren Widerspruch abzog.
Um zehn Uhr tauchte Mintu auf. Als ich ihn mit dem konfrontierte, was ich im Laufe des letzten Abends über ihn gehört hatte, stritt er zunächst alles ab. Wer auch immer diese Dinge über ihn erzählt habe lüge! Er würde mich nie betrügen – nie, nie! Zwei Tage später kam er dann zu mir und gestand, dass alles, was ich über ihn herausgefunden habe, stimme, dass er mich von jetzt an aber nie mehr belügen wolle. Ich erklärte ihm, dass ich ihm dies nicht so leicht glaube, denn neben ihm hätten ja auch seine Grossmutter, seine Mutter und sein jüngerer Bruder gelogen. Da reiche ein wenig Reue nicht aus, denn egal ob er diese Posse inszeniert habe oder von den anderen zum Mitspielen gezwungen worden sei -, wenn er künftig wirklich nicht mehr lügen wolle, dann müsse er sich entweder klar von seiner Familie absetzen oder diese vom Vorteil der Ehrlichkeit überzeugen, was beides sehr schwer sei. - Ich unternahm zwar noch einen halbherzigen Versuch, herauszufinden, ob Mintu in diesem Spiel eher Täter oder Opfer war, doch im Grunde hatte ich die Nase voll.
Unser Abschied war traurig, denn ich mochte und mag Mintus Ernsthaftigkeit, sein seltenes Lachen und seinen intellektuellen Ehrgeiz. Er wird sein 10. Schuljahr sicher zu Ende machen. Mein Geld ist also nicht verloren, möglicherweise trägt es jedoch zur Bildung eines Gauners bei, der das, was er im hinterwäldlerischen Bodh Gaya begonnen hat, später in grösserem Masstab und mit mehr Erfolg in der Wirtschaft oder der Politik betreiben wird. IN Bihar scheint es ja keinen Mangel an entsprechenden Vorbildern zu geben.
Mangla Gauri, die Kokusnuss essende Göttin
Im Verlauf des Montag Nachmittags schlug Vicky vor, dass wir am folgenden Tag nach Gaya fahren könnten, um der Göttin Mangla Gauri oder Mangalagauri unsere Bitten vorzutragen und einige weitere Teile seiner / meiner Familie kennen zu lernen. Für mich war die Hauptattraktion Gayas bisher der Bahnhof mit seinen Zügen in Richtung Delhi oder Kolkata gewesen, doch für viele InderInnen ist diese vielleicht hundert oder zweihundert Tausend EinwohnerInnen zählende Stadt ein ähnlich bedeutsamer Pilgerort wie Benares. Vicky sagt, Mangla Gauri sei für die Bitten und Anliegen der Menschen am Dienstag besonders empfänglich. Wir müssten allerdings sehr früh aufbrechen, denn die Mangla Gauri-Statue werde in einem sehr kleinen Heiligtum verehrt, sodass wir je nach dem sehr lange warten müssten. Diese Statue sei vor langer Zeit aus der Erde gekommen, einfach so. Deshalb sei dieser Ort etwas ganz besonderes ... Ich bin etwas unentschlossen, denn seit vier Wochen ist mein Bedarf an religiösen Ritualen imgrunde gedeckt. Ich merke jedoch, dass die Sache für Vicky wichtig ist, und so beschliessen wir, hinzufahren.
Das Erlebnis ist eigenartig: Zuerst das Zusammenstellen der Opfergaben – eine Art Kuchen, irgendwelche Körner, eine Blütengirlande, Räucherstäbchen, eine Kokusnuss und ähnliche Dinge. Man erhält alles in einem hübschen Korb im Vorhof des Tempels. Danach geht's – natürlich barfuss - ins eigentliche Tempelareal. Wir sind tatsächlich nicht die einzigen, die Mangla Gauri heute ihre Gaben darbringen wollen. Nach einigem Warten beginnen wir mit den obligaten Rundgängen um die kleine Kapelle, in welcher die Mangla Gauri-Statue steht. Schliesslich sind wir an der Reihe und drängen uns in den Vorraum des Heiligtums. Die Stimmung in diesem engen Raum wirkt angespannt.
Während wir warten scheint ein Streit auszubrechen. Lautes Schreien, Befehle ... Allmählich begreife ich, dass einige Menschen in dem Gedränge Angst haben, erdrückt zu werden, denn von draussen wollen immer neue Gläubige rein, sodass diejenigen, die bereits drin sind, nicht mehr raus können. Ich halte meinen Gabenkorb fest und versuche mich von der aufkommenden Panik nicht anstecken zu lassen. Wieder Gedränge. Vicky schiebt mich durch eine weitere Tür, eigentlich eher ein Loch, über eine hohe Stufe in einen zweiten Raum. Nach zwei missglückten Versuchen sind wir drin. Auch hier ist es eng. Die Luft ist stickig. Wir knien uns nieder, und Vicky beginnt mir zu zeigen, auf welche Weise und in welcher Reihenfolge ich der Göttin meine Gaben darbringen muss. Dann beginnt er selbst zu opfern. Die Panik von vorhin hat sich gelegt, doch ist die Stimmung nach wie vor alles andere als besinnlich. Ich komme mir vor wie vor einem Wühltisch während eines nachweihnachtlichen Ausverkaufs. Von hinten drängen andere Gläubige nach und beugen sich über unsere Schultern, um ebenfalls zu opfern. Alles geht schnell. Die vorgeschriebenen Bewegungen sind bekannt. Ein Tempeldiener ist andauernd damit beschäftigt, die mitgebrachten Kokusnüsse, auf welche Mangla Gauri offenbar besonders scharf ist, aufzuschlagen. Die Kokusmilch wird über die Statue gegossen. Vom Fruchtfleisch erhält die Göttin ein kleines Stück. Der grössere Teil wandert nach einer flüchtigen Berührung mit der heiligen Statue zurück in den Korb. Dasselbe gilt für den besonderen Kuchen, die Blumen und die anderen mitgebrachten Gaben, denn nach Mangla Gauri gilt es noch anderen Göttern zu opfern. Was am Ende übrig ist, wird zu Hause verteilt. Auf diese Weise können auch diejenigen von der göttlichen Kraft profitieren, die heute nicht mitkommen konnten oder wollten. Um die Göttin scheint alles feucht und unordentlich. Von der Statue selber bekomme ich nichts mit. Irgendwo stehen Kerzen. Mehr begreife ich nicht, denn die Hektik lädt nicht zu ausgiebigen Erkundungen ein. Nach ein paar Minuten haben wir unsere Gaben notdürftig dargebracht und nach erneutem Drängeln und stossen sind wir endlich wieder draussen. Ich bin ziemlich erledigt und irgendwie auch enttäuscht, denn so habe ich mir die Begegnung mit Mangla Gauri nicht vorgestellt.
Wir wandern noch zwei oder drei Mal um Mangla Gauris Kappelle, entzünden einige Räucherstäbchen und drücken unsere Stirn an die dicken Mauern des heiligen Schreins. Jetzt sei der Moment, mit der Göttin zu sprechen und ihr meine Bitten vorzutragen, sagt Vicky. Wir stehen beide ein paar Minuten an der Mauer, und auch ich spreche zur Göttin. Für einen kurzen Augenblick bin ich ganz bei mir und meinen Wünschen für mich und die Welt. Der Andrang bei den anderen in dem Tempelareal befindlichen Statuen, die wir sämtlich auch besuchen, ist weniger gross, sodass ich am Ende unseres Tempelbesuchs wieder einigermassen bei Kräften bin. – Es sei nicht immer ein solches Gedränge, aber die Statue sei eben berühmt, sagt Vicky, während er die restlichen Gaben aus seinem und meinem Korb in ein paar Säckchen verstaut, um sie den Verwandten zu bringen, die wir jetzt besuchen wollen.[3]
"Concept development" oder das mühsame Zusammenpuzzeln der Wirklichkeit
Als erstes steht das Haus, in dem Vickys Grossmutter aufgewachsen ist, auf dem Programm. Am Nachmittag folgt das "mother house". Wie stets bei diesen Gelegenheiten schüttle ich viele grosse und kleine Hände, denn eine Familie in Indien besteht selten nur aus zwei oder drei Personen. Da gibt es eingeheiratete Frauen und Kinder, Brüder und Cousins, Nichten und Neffen aller Alter und Grade. Ich verliere bald die Übersicht; der Klang der indischen Namen scheint nicht für mein Ohr gemacht. Ich bin etwas müde. Was soll ich hier eigentlich? Irgendwie ist meine Anwesenheit wichtig, das spüre ich, doch weshalb dies so ist begreife ich nicht. Bin ich vor allem ein Prestigeobjekt, ein neues Familienmitglied oder der Mensch mit dem dicken Checkbuch oder alles in einem? Auch hier reichen die Englischkenntnisse nur für ein verlegenes "hello" oder ein "what's your country?". Ich konzentriere mich deshalb zunächst auf mein Lächeln und mein Namaste, Namaste und trinke und esse brav, was man mir vorsetzt. Manchmal protestiere ich mit einem entschiedenen "bas, bas" (genug, genug!), oder ich erkläre, dass ich leider nur thola thola (wenig wenig) Hindi verstehe und unterstreiche diese Tatsache mit einem bedauernden Schwenken meiner Hände. Allmählich beginnt mich dieses Spiel jedoch zu langweilen. Ich habe das Gefühl, in einer Glaskugel eingeschlossen zu sein. Depressive Schleier legen sich ueber mich. Ich fuehle mich isoliert, ein Gefangener meiner Behinderung ... Schliesslich gebe ich mir einen Ruck und stehe von meinem Platz auf, um zu sehen, wie leer die Leere um mich wirklich ist. Ich will nicht in dieser Art unproduktiven Selbstmitleids versinken. Echte Anteilnahme an meinen Gefuehlen, meinen Sehnsuechten und Wuenschen ja, aber nicht dieses ziellose Jammern.
Meine Hände gleiten über unebene Wände. Gelegentlich fehlt ein halber Backstein, in die Löcher sind Kleider gestopft. Damit spart man Bügel und Haken. Irgendwo liegen zwei drei verstaubte Hefte oder Schulbücher. Fenster finde ich keine. Mein Herumgehen fällt auf. Ich versuche den Kindern und Frauen um mich her begreiflich zu machen, dass alles okay sei, und ich mich bloss ein wenig umschauen wolle. "Look with my hands" sage ich und setze meine Entdeckungsreise in Richtung Küche (oder dorthin, wo ich die Küche vermute) fort.
Vicky ist für eine halbe Stunde zu einem Freund gegangen, sodass die sprachliche Verständigung auf ein Minimum reduziert bleibt; die übrigen Männer sind ebenfalls alle verschwunden. Ich stosse auf ein Tischchen, beinahe zufällig merke ich, dass es ein Nähmaschinentischchen ist. "Sawing machine" bestätigt eine der Frauen um mich herum voller Begeisterung, während ich meine Hände über die altertümliche Mechanik der fussbetriebenen Maschine gleiten lasse. Das lange Bambusrohr an der Wand bleibt mir dagegen ein Rätsel. Ich bin zu träge oder zu schüchtern oder beides, um mir diese seltsame Stange genau genug anzusehen. Mittlerweile bin ich tatsächlich in der Küche angekommen. Regale scheint es keine zu geben; auch einen Tisch finde ich nicht. Allerdings reicht meine Ausdauer auch jetzt nicht, um jeden Winkel dieses Raumes genau zu untersuchen. In einer Ecke stosse ich auf einige grössere Behälter, in denen ich irgendwelche Körner ' vielleicht Reis? – und Mehl finde. In einer anderen Ecke stehen zwei Behältnisse mit Wasser. Zur Strasse hin gibt es zwei offene Fenster. An der gegenüberliegenden Wand hängen zwei Siebe und eine Art Tablett, welches dazu verwandt wird, die Spreu vom Reis zu trennen. So jedenfalls interpretiere ich die Erklärungen der zwei oder drei Frauen, die meine Erkundungen mit grossem Interesse begleitet haben, die jetzt aber wieder damit beginnen, mich zum Sitzen aufzufordern. So ganz geheuer scheint ihnen mein Herumtasten doch nicht zu sein.
Ich setze mich neben der Kochstelle auf den Boden und versuche, die vereinzelten Eindrücke meiner kleinen Expedition zu einem Ganzen zusammenzufügen. Dabei merke ich, wie unvollständig mein Bild der erforschten Räume und Dinge noch immer ist. Bei dem Gedanken, wie leicht und diskret ein sehender Mensch seine Umgebung zu erfassen vermag, mischen sich Neid und Eifersucht in meine Zufriedenheit. Im Vergleich mit der Effizienz eines Blickes empfinde ich Meine Art der Wahrnehmung nicht nur als äusserst plump; sie ist auch enorm zeit- und energieaufwändig, und die Ergebnisse sind im Grunde kümmerlich. Und doch: Wenn ich mir ein einigermassen zutreffendes Bild meiner physischen Umgebung machen will, so kann ich nicht einfach auf meinen vier Buchstaben sitzen bleiben. Auch die Beschreibungen Anderer können meine eigenen, mühsam gewonnenen Eindrücke nie ganz ersetzen. Dadurch würde meine Welt nicht nur sehr abstrakt und dürr. Worte können auch leicht in die Irre führen - Vor allem an Orten, wo vieles anders ist als zuhause, und sich hinter scheinbar bekannten Begriffen wie Küche oder Pferd oft ganz andere Dinge verbergen als diejenigen, die wir auf Grund unserer bisherigen Erfahrungen vermuten. Damit müsste aber alles und jedes so genau erfragt und beschrieben werden, dass der Aufwand ebenfalls unendlich wird.
Angesichts meiner Unbeholfenheit in dieser Sache wirkt es tatsächlich etwas absurd, dass ich überhaupt versuche, mir ein einigermassen adequates und differenziertes Bild der konkreten physischen Welt Indiens zu machen. Ich könnte mich ja auch auf abstraktere Themen wie Religion oder Politik und ähnlich „unsichtbare" Dinge beschränken. Andere „Blinde" tun dies vielleicht – aus Resignation oder Weisheit -, aber ich will unbedingt auch meine physische Umgebung kennen, will sie – vielleicht aufgrund reiner Neugier, vielleicht aus Konkurrenzmotiven – mindestens so gut kennen wie andere IndienfahrerInnen auch. Dabei will ich mich nicht andauernd auf Wissen aus zweiter Hand, auf blosses Wortfutter verlassen . Ich muss und will sinnlich begreifen, was ich nicht sehen kann. Es ist beinahe wie eine Sucht, ein tiefes Beduerfnis. Wenn ich es zu lange ignoriere, geraet etwas in mir aus dem Gleichgewicht. Aber die unangenehme Wahrheit bleibt, dass andere in zwei drei Tagen mehr von Indien sehen als ich auf meine Weise in drei Monaten zusammenpuzzeln kann. Wieder einmal ist Geduld angesagt -, Geduld und Einsicht in die Notwendigkeit des Prozesses, den eine Lehrerin der Blindenschule in Nanindrapur eine Woche zuvor als „concept development" bezeichnet hat. Es ist ein besonders fuer blind geborene Kinder nicht immer selbstverstaendlich ablaufender Prozess, der in der Blind Boys Academy u.a. durch den gezielten Einsatz von Modellen unterstuetzt wird. Modelle. Ja, das wuerde mir einiges an Arbeit und meiner Umgebung einiges an Verwunderung ersparen.
Als Vicky wieder auftaucht versuche ich mit seiner Hilfe einige meiner Wissenslücken zu schliessen. Er erzählt mir, dass es in dieser Küche tatsächlich kein fliessendes Wasser gibt. Dieses müssen die Frauen aus dem unteren Stockwerk herauftragen. Gekocht wird auf einem in einem Kessel brennenden Kohlefeuer. Das Feuer wird mit getrocknetem Kuhdung in Gang gebracht. Die mysteriöse Bambusstange an der Wand neben der Nähmaschine war der Holm einer wagerecht an der Wand hängenden Leiter. Vicky hat mir während unserer Reisen viel erzählt und erklärt. Er hat aber auch begriffen, dass ich immerwieder hingehen und anfassen muss, um wirklich zu sehen. Dabei scheint ihm die Umsetzung dieser Erkenntnis wesentlich leichter zu fallen als mir. Ich habe zu gut gelernt, dieses aus der Reihe tanzende Beduerfnis abzuwerten und zu verdraengen. Der aengstliche Wunsch, "normal" zu sein ist der eigentliche Grund meiner "Sehbehinderung" und all unserer Behinderungen. Ich weiss es, aber ich muss es immer wieder neu begreifen: Ich bin letztlich derjenige, der mich behindert und einengt. Alles andere sind Ausreden. Ich weiss es. Das ist immerhin ein Anfang. Doch die Enthinderungsarbeit ist und bleibt eine zaehe Angelegenheit, egal, um welche Enthinderung es dabei geht. Der geist verschleimt in der Regel sehr schnell, und wir gewoehnen uns an vieles, ohne die Enge wahrzunehmen. In diesem Sinn wirkt das Unterwegssein auf mich belebend, denn dabei komme ich oefter an meine Grenzen als zuhause, und ich beginne beinahe wie von selbst, mit mir zu experimentieren und meine Grenzen zu erweitern.
Die letzten Tage in Bhagalpur
Nach dem zweiten Verwandtenbesuch und einem Zwischenhalt in einem Sportgeschäft, wo ich für Vikram, Vickys jüngeren Bruder, einen Fussball und für Vickys Freund Sahid ein paar Batmintonschläger kaufe, sind wir gegen Abend wieder in Bhagalpur. Es war ein voller und interessanter Tag, während welchem ich jedoch auch gemerkt habe, dass ich nicht mehr viele derartige Tage ertrage, denn im Grunde verbringe ich meine ganze Zeit damit, zu warten, dass Vicky sich um seine schulische Zukunft kümmert. Unsere Reise sollte ja auch dazu dienen, abzuklären, was in dieser Hinsicht sinnvoll und möglich wäre. Dabei blieb schliesslich die Idee übrig, zunächst einmal das 11. und 12. Schuljahr zu absolvieren und zwar in Gaya, also ziemlich nahe von zuhause. Deshalb war ich nach vier Wochen noch einmal hierher zurückgekehrt. Sonst wäre ich vermutlich – mit oder ohne Vicky – in den Süden gefahren und hätte versucht, noch ein Stück des „modernen", „entwickelten" Indien, dem ich bis dahin kaum begegnet war, zu sehen. Jetzt aber sitze ich hier und warte ... Anfänglich fiel es Vicky schwer zu verstehen, was es denn da alles abzuklären gäbe, doch als ich ihm verschiedene Dinge aufzählte begriff er allmählich und machte sich an die Arbeit. Er fuhr noch einmal nach Gaya um herauszufinden, ob er mit seinem bald 4 Jahre alten Zehntklassediplom überhaupt in die Elfte Klasse des Gaya-College aufgenommen würde, und kümmerte sich dann um die Einrichtung eines Bankkontos -, ein Projekt, welches allein fast vier Tage in Anspruch nahm. Ich benützte die Zeit, endlich wieder einmal zu schreiben und meine Eindrücke von Belur Math, Santiniketan, Sikkim und der Blind Boys Academy in Nanindrapur an euch weiterzugeben.
Am Sonntag, dem 20. Februar, machten Bapu, Vicky und ich noch einmal einen grossen Ausflug. Wir brachen früh auf, alle drei (in T-Shirt oder Hemd und ohne Helm!) auf einem Motorrad – gefährlich vielleicht, aber zugleich auch sehr romantisch. Zuerst besuchten wir eine Höhle ausserhalb Bhodgayas, in welcher Budha einmal meditiert haben soll. Danach fuhren wir zu Vickys in sehr armen Verhältnissen lebenden jüngsten Tante. Wir hatten uns bei ihr ebenso wenig angemeldet wie bei den anderen Verwandten, die wir im Laufe der letzten Woche besucht hatten. Auch jetzt verstand ich nicht recht, was mein Besuch für diese Frau bedeutete. Dass er ein ganz besonderes Ereignis war glaube ich, denn in den Dörfern dieser Gegend sind Weisse noch immer so selten, dass sich die Menschen auf den Strassen alle nach uns umdrehten, wenn wir auftauchten.
Vickys Tante wusch mir zur Begrüssung die Füsse, ob als Zeichen der Verehrung oder als Bitte um Unterstützung oder beides weiss ich bis heute nicht. Es war das erste und letzte Mal, dass mir dies passiert ist.
Auch jetzt versuchte ich mir ein Bild der äusseren Lebensverhältnisse dieser Familie zu machen. Was mir dabei besonders auffiel, war die kleine, einfache Kochstelle in der Ecke des Raumes, in welchem Vickys Tante mit ihrem Mann und ihren Kindern wohnte. Das gesamte Haus bestand im übrigen aus vier oder fünf weiteren, nach und nach um einen Innenhof entstandenen Räumen, in welchen jeweils ein Bruder der Familie mit seiner Frau und seinen Kindern untergebracht war. In jedem dieser Räume gab es – sozusagen als Grundausstattung – ein grosses, fest eingebautes Gefäss zur Aufbewahrung irgendwelcher Vorräte. Von der kleinen Kochstelle bis zu diesen amphorenähnlichen Gefässen war alles – auch das Haus selbst – aus ungebranntem Lehm.
Es seien, so hatte Vicky mir bereits einige Tage zuvor erklärt, wirklich arme Menschen in einem sehr armen Dorf. Dennoch wirkte ihr Haus und die Art des dortigen Zusammenlebens auf mich durchaus nicht bedrückend. Das mag an der Ruhe und der friedlichen Stimmung im Innenhof oder an der stillen Art der dortigen Menschen gelegen haben, ich weiss es nicht. Mir fällt jedoch auf, dass materielle Armut auf mich nicht immer gleich und nicht immer bedrückend wirkt.
Als wir nach ungefähr einer Stunde aufbrechen wollten, bat uns Vickys Tante, doch unbedingt eine Nacht lang zu bleiben. Wir erklärten ihr, dass wir am nächsten Tag in Bodhgaya zu tun hätten und vertrösteten sie auf den nächsten Besuch. Auf dem Rückweg erlebte ich schliesslich noch das einzige Gewitter der gesamten Reise; als wir nach ca. anderthalb Stunden wieder glücklich in Bhagalpur waren, waren unsere durchnässten Kleider allerdings bereits wieder so gut wie trocken.
Wenn wir nicht gerade irgendwohin unterwegs waren, und ich nicht im Internetkaffee sass, verbrachte ich die letzten Tage in Bhagalpur vor allem auf dem Dach von Vickys Haus. Der 12-jährige Vikram versuchte mir ein wenig Hindi beizubringen während ich sein englisch verbesserte. Die Befangenheit der ersten Tage war deutlich weniger geworden, und ich begann mich tatsächlich mehr und mehr als Teil dieser Familie zu fühlen. Vickys Mutter begrüsste mich jeden Morgen mit einem lauteren und froheren „good morning", und die abendlichen Essensrituale wurden ebenfalls zusehends lockerer. Während meiner letzten Tage muss ich Guddu immer wieder versprechen, dass ich ihn nicht vergessen werde, wenn ich wieder zuhause in der Schweiz bin. Schliesslich machen wir einen Vertrag: „You don't forget me. I don't forget you"; jetzt scheint er beruhigt und wartet auf meinen nächsten Besuch. Ich sage „in two years - maybe", doch er überhört das „maybe" gefliessentlich, und allmählich ist es auch mir nicht mehr so wichtig. Obwohl die Reise weit ist, und ich kein Fän von Hitze und Lärm bin werde ich spätestens in zwei Jahren zurück kommen, das nehme ich mir vor – nicht so sehr wegen Indien, denn da gäbe es vielleicht noch angenehmere und „einfachere" Länder, aber wegen der Menschen, die ich dort seit Mitte Januar kennen gelernt habe.
Am Abend des 22. Februar, einem Dienstag, verlassen Vicky und ich Bhagalpur. Guddu, Sahid, Bapu und Sanje bringen uns zur Bahn nach Gaya. Nachdem wir festgestellt haben, wo unser Zug fahren wird, lädt der 15-jährige Sahid zum letzten Mal zu einer Party ein. Zur Feier des Tages gibt es sogar – eine Seltenheit während meiner Reise – einen Schluck Whisky. So wie bei meinem Abschied von Pakistan darf ich auch diesmal nichts bezahlen. Der Whisky löst Bapus Zunge, und er philosophiert ausgiebig über das Leben, die Liebe und das Geldverdienen während wir auf den Zug warten. Dieser trifft mit nur einer Stunde Verspätung kurz nach ein Uhr in der Früh ein. Noch einmal gibt es viele Worte, viel Lachen und Händeschütteln und Umarmen. Ich singe ein letztes Mal die vier Zeilen eines indischen Schlagers, den Vicky mir in Sikkim beigebracht hat. Dann setzt der Zug sich in Bewegung, und wir sind unterwegs nach Puri an der indischen Ostküste. Das letzte Kapitel meiner Indienreise beginnt.
Puri, Madras und "the love"
In Puri (ca. 12 Eisenbahnstunden südlich von Kolkata) bleiben wir drei Tage. Es ist Vickys erste Begegnung mit dem Meer. Eine Stunde nach unserer Ankunft stehen wir am Strand. Er staunt über das viele Wasser und fragt, in welche Richtung das Meer eigentlich fliesse, und ob es mehr als hundert Meter tief sei. Es ist schon Dunkel, sodass wir das Schwimmen auf morgen verschieben. Ich erzähle begeistert von der Grösse des Meeres, von Segel- und Containerschiffen, vom Äquator und vom Südpol. Ich bin nicht ganz sicher, ob Vicky begreift, denn er hat offenbar nur eine vage Vorstellung von der Erde. Dass es im Süden wieder kälter wird nimmt er zur Kenntnis, aber wirklich zu glauben scheint er es nicht.
Die folgenden Tage verbringen wir fast ganz zwischen unserem gemütlichen Guest House und dem Strand. Wir reden viel, hören Musik – vor allem Hindi-Pop und Songs aus Boliwood-Produktionen - und geniessen den relativ sauberen Sand, die Sonne und das Meer. Einmal fahren wir mit einem Fischerboot etwas hinaus. Sonst beschränken wir uns darauf, in den Wellen zu spielen, denn Vicky kann nicht schwimmen, und ich habe Respekt vor den evtl. vorhandenen Strömungen, über welche man mir sehr verschiedene Dinge erzählt hat. Nur einmal fahren wir ins Zentrum der Stadt, um uns den Tempel anzusehen, der als Puris Hauptattraktion gilt. Da Nicht-Hindus keinen Zutritt zu dem Tempel haben warte ich eine Stunde auf Vicky, trinke Kaffee und unterhalte mich mit einem Bramanen, d.h. einem hinduistischen Gelehrten. Während ich ihn über den Hinduismus auszufragen versuche, erzählt er mir begeistert über das Liebesleben seiner Nachbarn: „Four women and one man. I don't know, how he does it, but it seems to work. All five of them seem very happy.".
Am Samstag Abend fahren wir weiter nach Madras. Das bedeutet zwar noch einmal 24 Stunden Zugfahrt in Richtung Süden, doch so nahe wie jetzt werde ich dieser Stadt vielleicht lange nicht mehr sein. Wir bleiben nur zwei Tage in Madras, gerade genug Zeit, um dem St. George-Fort einen Besuch abzustatten, ein paar Strände auszukundschaften, einen Blick auf den Seehafen zu werfen und einige längere Spaziergänge durch die Stadt zu machen.
Vicky gefällt Madras wesentlich besser als das engere, schmutzigere Kolkata. „The houses are more nice and everything is more nice".
Mit den Menschen haben wir allerdings nicht nur Glück: Mit einem Taxifahrer werde ich fast handgreiflich, weil er darauf besteht, dass wir für eine Dienstleistung bezahlen, die wir nie gewollt und nie in Anspruch genommen haben. Die Situation ist nicht gefährlich, doch die Begegnung ist unangenehm. Auch die Händler am Strand scheinen agressiver als in Puri. Dafür gibt es in Madras richtigen Kaffee!
Am Dienstag Nachmittag stehen wir lange auf einer Brücke und schauen in den Hafen mit seinen Bergen von Containern und seinen Krahnanlagen. Wirklich grosse Schiffe sehen wir zwar keine, doch Vicky ist offenbar fasziniert. Er beschreibt und fragt viel. Danach gehen wir zu unserem kleinen Hotel zurück – ein Spaziergang von zwei oder drei Stunden. Unterwegs kommen wir an zahllosen kleinen Läden, keiner grösser als eine Telefonkabine, vorüber. Wieder reden wir viel, auch darüber, wie ich ihn unter dem Boditree gefunden und mit auf eine grosse Reise genommen habe. Ich habe diesen aufrichtigen, offenen Menschen tatsächlich sehr gerne – manchmal vielleicht zu gerne –, und ich hoffe sehr, dass wir auch nach meiner Abreise aus Indien in Kontakt bleiben werden. - Am Abend desselben Tages – eine Woche nachdem wir Bhagalpur verlassen haben – brechen wir nach Kolkata auf. Eine letzte, etwas mehr als 30-stündige Bahnfahrt.
Während wir auf unseren Zug warten beginnt Vicky mich wieder einmal über die Liebe auszufragen. Ich habe ihm während der vergangenen zwei Monate ein paar Mal davon erzählt, dass es im Westen durchaus üblich sei, dass 14- oder 16-jährige Jungen und Mädchen miteinander flirten, und die Gesellschaft Liebesbeziehungen in diesem Alter eher ermutige als sie, wie in weiten Gegenden Indiens bis heute üblich, zu verbieten. Anfänglich wollte er von dem Thema nicht viel wissen. „Use and throw" nannte er die Mentalität des Westens. Doch inzwischen ist sein Interesse offenbar erwacht. „I want to learn the love", sagt er voller Begeisterung. Wir beginnen zu reden. Während unser Zug einfährt und wir unseren Platz suchen erzähle ich ihm, wie der Samen zum Ei kommt, und welche Möglichkeiten der Schwangerschaftsverhütung es gibt. Einiges von dem, was ich ihm sage, scheint er bereits zu wissen; von vielem hat er jedoch noch nie gehört. Nachdem die biologischen Facts einigermassen geklärt sind will Vicky wissen, was er tun kann, wenn er ein Mädchen küssen will und sie will nicht, oder wenn er den vollen Sex mit ihr will und sie will nur ein wenig schmusen ... Als wir uns gegen ein Uhr früh endlich auf unsere Pritschen legen, um zu schlafen, wirkt er zufrieden.
Wir verbringen den ganzen Mittwoch im Zug. Der Tag wird etwas lang. Vicky döst viel. Ich sitze fast den ganzen Nachmittag in der offenen Tuer unseres Second Class Sleeper; während die warme Luft an mir vorbeizieht und ich mich darüber freue, dass niemand mich von diesem romantischen Platz wegzuholen versucht, denke ich an meine eigene Biographie in Sachen Liebe. Vicky hat mich am Abend zuvor seinen „teacher in the love" genannt. Die Liebe ist offenbar ein Thema, welches ihn weit mehr interessiert als die Gestalt der Erde und der Weltmeere und all die übrigen Dinge, von denen ich ihm im Laufe der letzten Wochen erzählt habe. Und hat er im Grunde nicht recht? Lernt er nicht das Wichtigste, wenn er „the love" lernt, auch wenn ich mir als Lehrer in diesem Bereich einigermassen seltsam vorkomme?
Am Donnerstag früh sind wir in Kolkata. Nachdem wir ein Guest House gefunden und unser Gepäck deponiert haben, gibt's zuerst einmal zwei heisse Kaffees an meinem Lieblingsstand an der Sudder Street. Danach kommt das indische Frühstück: Fladenbrot mit Linsen – 60 Rappen für zwei Personen. Und dann kommt die Entscheidung: Will / soll ich noch ein paar Wochen in Indien bleiben? Vielleicht noch die Projekte Besuchen, deren Adressen mir ein Freund von Frank vermittelt hat? oder soll ich einen Flug nach Kalifornien buchen und via Eugene, Portland, Boulder, Philmont, Boston und New York in die Schweiz zurückkehren? In Puri hatte ich eine Müntze geworfen. Sie sagte: Zurück via USA, aber wie so oft merkte ich danach, dass mir der Entscheid der Müntze nicht passt. Wie wäre es also mit einer dritten Alternative, einem Flug nach Bankok und ein paar Tagen mit Tso, meinem heiter melancholischen Reisegefährten aus Malaisia, mit dem ich im Dezember in MacLeod und Dharamsala gewesen war. Tso hatte mir gemailt. Er sei in ein paar Tagen wieder bei seiner japanischen Freundin in Teiland und könnte mich am Flughafen abholen ... Was also tun? Schweiz direkt, Bankok oder USA? Ich hatte während der letzten Tage vergebens versucht, das Karussell der Möglichkeiten anzuhalten und einen Entscheid in der Sache zu fällen. Jetzt wollte und musste ich entscheiden, und als ich in der kleinen Agentur stand, in der ich mich bereits vor einem Monat nach Flügen in die USA und die Schweiz erkundigt hatte, war es klar. Ich fliege „nach Hause". In Indien müsste ich mich ganz neu organisieren. Das schien mir zu anstrengend, und auf weitere Abenteuer in Teiland oder den USA hatte ich keine Lust. Eine halbe Stunde später hatte ich meinen Flug: In zwei Tagen, in der Nacht vom Samstag, 5. auf Sonntag 6. März, würde ich fliegen. Zuerst vier oder fünf Stunden lang in der verkehrten Richtung – nach Singapore und von dort nach 8 oder 10 Stunden Aufenthalt nach Frankfurt. Nicht gerade der bequemste, aber der billigste Flug. Wenn alles gut geht, wäre ich bereits am Sonntag Nacht in Basel.
Die Besichtigung der Strassenkinder und der Shoppingstress
Am Freitag sind Vicky und ich zu Gast beim CSP, dem Colkata Social Project. Martin Kaempchen hatte mir diesen Kontakt vermittelt; drei Wochen zuvor hatte Günther Grass dem Projekt, mit dem er seit bald 20 Jahren verbunden ist, einen Besuch abgestattet.[4] Das CSP betreibt sieben Schulen für Strassenkinder. Der Geschäftsführer der CSP, der uns um Viertel vor Neun in der Nähe unseres Hotels abholt und uns während unserer Besichtigungstour betreut, spricht von „informal education". Diejenigen SchülerInnen, deren Lebensumstände es erlauben, wechseln spätestens in der 5. oder 6. Klasse in die öffentliche Schule, die in Westbengalen, dem Staat, in dem Colcata liegt, einen weniger schlechten Ruf zu haben scheint als andernorts. Viele SchülerInnen schaffen diesn Übergang allerdings nicht, da für sie mit zehn oder elf Jahren das „Erwerbsleben" beginnt, und sie – freiwillig oder gezwungenermassen – anfangen, zum Familieneinkommen beizutragen.
Das erste Zentrum, welches wir besuchen, ist eine eigentliche Strassenschule. Die rund 30 Kinder sitzen auf einem breiten Trottoir. Sie werden von einem Lehrer und zwei Hilfskräften betreut. Der Verkehrslärm und das Rauschen einer Klimaanlage machen die Verständigung schwierig, aber irgendwie scheint doch so etwas wie Unterricht möglich. Die Kinder haben einige Hefte und Bücher, die sie jeden Vormittag mit in die Schule bringen. Eine kleine Wandtafel ist ebenfalls da. Einige der rund 600 vom CSP betreuten Kinder kennen ihre Eltern nicht. Diese leben oft schon seit Jahren auf der Strasse. Manche wohnen auch in einer einfachen Unterkunft.
Das zweite Zentrum, welches wir an diesem Vormittag sehen, befindet sich in einem Park. Die Stimmung ist friedlich. Statt Verkehrslärm gibt es hier Vogelgezwitscher. Ich spreche kurz mit zwei Stipendiaten des CSP. Sie besuchen die öffentliche Schule, wobei das Colcata Social Project sämtliche Kosten übernimmt. Insgesamt gibt es zur Zeit rund 40 Teenager, die ein derartiges Stipendium bekommen. Es sind SchülerInnen, die zuvor teils jahrelang vom CSP betreut wurden. Das CSP übernimmt nicht nur die direkten Schulkosten, sondern kümmert sich auch sonst um die StipendiatInnen, damit diese nicht arbeiten müssen. Die weiteren Zentren, die wir besuchen, sind teils in provisorischen, von irgend jemandem zur Verfügung gestellten Räumen, teils in einem eigenen Haus untergebracht.
Unser Besuch ist offenbar am Tag zuvor angekündigt worden, denn überall empfängt man uns mit Liedern und anderen Vorführungen. Eigentliche Gespräche kommen auf diese Weise leider kaum zu Stande. Ich bin noch immer daran, mich an meine Rolle als Ehrengast zu gewöhnen, als die Tour vorüber ist. Während der kurzen Fahrten zwischen den verschiedenen Zentren habe ich zwar einiges über die Geschichte und die momentane Situation des Projektes erfahren; einen Eindruck vom Leben der vom CSP betreuten Kinder habe ich an diesem Vormittag jedoch nicht gewonnen. Dazu bräuchte man sicher mehr Zeit, aber vor allem auch eine anders gestaltete Tour und vielleicht – wieder dieser Zweifel und der Neid – ein Paar funktionierende Augen.
Auch von Kolkata weiss ich im Grunde noch genau so wenig, wie vor 6 Wochen, als ich "die irrsinnigste und eindrucksvollste Stadt in Indien", wie ein Reisender sie in einem Indienhandbuch nennt, zum ersten Mal besucht habe. In diesem nicht genauer datierten - vielleicht also längst veralteten? - Bericht, einem zufälligen Fund im Internet, heisst es u.a.: "So absurd die am Bahnhof wartenden Miniholzkutschen, die aussehen wie aus einer anderen Welt oder einem Märchenland. Unbeschreiblich die Fahrt mit einer handgezogenen Rikscha über die Howrah-Bridge in die eigentliche Stadt. Verrückt zusammengemixte Menschenmassen, total überladene Doppeldeckerbusse, sich in der Kurve stark zu Boden neigend, schwer geschobene Handwagen für Güter aller Art, Träger mit zwei Körben - gehalten durch eine Schulterstange - , laute, stinkende Lastwagen wälzen sich über diese einzige Gangesbrücke. (...) Um die Howrah-Bridge findet sich ein quirlendes, ausgedehntes Marktstraßensystem 'Burrobazar', der größte Bazar von Calcutta. Vorbei an engen Gewürz-, Fisch-, Getreide-, Geflügel-, Obst- und Gemüsegassen fühlt man sich manchmal zurückversetzt ins Mittelalter (...). Alte, reich mit Schmiedeeisen verzierte Häuser, teeschlürfende Händler, Handwerker und Fabrikanten, ein total gelbgefärbter Curryhersteller und Kinder, überall spielend, und stolze Frauen auf ihren hohen Rikschaplätzen... . Im Hafen am Ganges reger Ladeverkehr neben Götterzeremonien am Wasser. Eine Pappgöttin, reich und bunt geschmückt, wird unter lautem Gejohle ins Wasser gestoßen. Holzkähne liegen vor Anker. Kleine Feuer flackern auf den Booten, den heiligen Fluß gespenstisch erhellend. (...)" – Das klingt so farbenprächtig, so pitoresk. Mein Kolkata wirkt dagegen viel banaler: Ich kann von dem unfreundlichen Verkäufer in einem grossen CD-Laden oder von der Tatsache erzählen, dass es dort gerade Mal zwei oder drei CDs mit westlicher Klassik gab. Ich könnte euch auch davon erzählen, dass Nichtinder, also Touris wie ich, in Kolkata aufgrund einer offenbar recht neuen polizeilichen Regelung nicht mehr im selben Hotelzimmer mit einem Inder übernachten dürfen, ein Umstand, der Vicky und mir einige mühsame Diskussionen eingehandelt hat, ohne dass wir dabei herausgefunden haben, ob man diese Regelung eingeführt hat, um die Einheimischen vor den sexuellen Übergriffen durch westliche Touristen zu schützen oder ob diese vor den kriminellen Machenschaften der Friendship Makers geschützt werden sollten. Ich könnte euch auch von einer Strasse mit 20 oder 30 immer gleichen Book Stores und meinen verzweifelten Versuchen erzählen, dort ein Taschenwörterbuch Englisch-Hindi Hindi-Englisch zu finden. Doch all dies scheint so prosaisch und unspektakulär. Ich fürchte, ich muss noch einmal hinfahren, um das Flackern der Feuer in den Booten auf dem Ganges und die schmiedeeisernen Verzierungen an den alten Häusern zu sehen oder zu riechen und zu fühlen und um mehr Farbe und mehr Leben in mein Bild von Kolkata zu bringen ... [5]
Abgesehen von der Besichtigung des CSP, einem Versuch, quasi in letzter Minute noch ein Stück des sozial engagierten Indien kennen zu lernen, verbrachte ich die letzten beiden Tage in Kolkata vor allem mit Shopping. Dabei gerate ich auch zuhause leicht in Panik, weshalb ich übrigens auch ganz froh war, dieses Jahr an Weihnachten so weit weg zu sein. Im Fall von Vicky und seinen Freunden ist das Schenken einfach. Sie haben noch fast nichts, da ist es nicht schwer mit einem Geschenk eine Freude zu machen und viele Geschenke scheinen auch sinnvoll. Aber bei uns! Bei uns ist die Schenkerei zu einem regelrechten Fluch geworden. Wir sagen zwar tausend mal, dass wir uns damit keinen Stress mehr machen wollen, dass wir dieses Jahr sicher nichts mehr schenken ... Ich sage es auch, aber wenn es dann so weit ist – an Weihnachten oder wie jetzt,am Ende einer langen Reise -, dann werde ich plötzlich unruhig. Eine Mischung aus schlechtem Gewissen und ehrlicher Schenkerfreude beginnen mich anzutreiben bis ich - wie der Kreisel am Ende der Schnur - von Geschäft zu Geschäft taumle und um meinen Ruf als anständiger Mensch, liebender Onkel, guter Götti und Bruder kämpfe.
Vicky kennt dieses typische Westdrama glücklicherweise nicht. Er weiss nicht, was es bedeutet, ein weiteres paar Hosen oder eine weitere Schnitzerei in unseren überfüllten Schränken und Regalen unterzubringen -, seine Regale sind noch leer und sein Optimismus als Konsument ist ungebrochen. Wenn ich zögere, sagt er leichten Herzens „it will be nice" und so kommt die Einkauferei allmählich in Schwung! Die Sache beginnt sogar richtig Spass zu machen, doch da ist es auch schon Samstag Abend, und die Zeit zum Shoppen ist vorbei.
Good bye India. Good bye and hello!
Um halb sechs Uhr sitze ich noch einmal vor dem kleinen Getränkeladen an der Sudderstreet. Hinter und neben mir stehen die Tüten mit unseren Neuerwerbungen. Das 6 oder 7-jährige Mädchen, welches uns in diesen Strassen schon öfter begegnet ist, klettert auf meinen Schoss. Ich geniesse ein letztes Bananenlassi, während Vicky mit einem Menschen diskutiert, der ein paar billige Flöten und Ballons zum Verkauf anbietet. Plötzlich halte ich eine grosse Bambusflöte in der Hand. Sie klingt gut. Wie hat Vicky das bloss gemacht? Die ganzen letzten Tage haben wir vergebens nach einem Musikgeschäft oder etwas derartigem Ausschau gehalten und jetzt, wo ich das Projekt begraben habe, taucht plötzlich dieser Händler mit seinem Ramsch und dieser Flöte auf. „This is India" sagt Vicky fröhlich, während er den Preis der Flöte unverdrossen von 600 auf 150 Rupien herunterhandelt. „This is India" denke ich und plötzlich merke ich, wie gut ich es in diesem Indien gehabt habe und wie wohl ich mich hier inzwischen fühle. Sogar das Gehupe und die zunehmende Hitze und Luftfeuchtigkeit in Kolkata, die vielen Menschen mit ihrer nach wie vor unverständlichen Sprache und alles andere, was mir in den letzten Wochen so oft auf den Geist gegeben hat, ist mir plötzlich lieb und teuer. Ich will nicht weg und doch weiss ich, dass ich fort muss, nicht nur, weil ich für heute Abend einen Flug gebucht habe, sondern auch, weil meine Zeit hier zumindest für den Moment abgelaufen ist.
Die Bambusflöte in meinen Händen fühlt sich angenehm weich und rund an. Das kleine Mädchen ist von meinem Schoss gerutscht. Ich habe ihm mittlerweile ebenfalls ein Bananenlassi mit einem dicken, echt amerikanischen Röhrchen gekauft, und wir lachen über unsere unanständig lauten Versuche, die letzten Tropfen dieses Jogurtgetränks aus unseren Gläsern zu saugen.
Auf dem Weg zum Flughafen denke ich an Martin und Saffar im Osten der Türkei. Ich denke an Zahid in Islamabad und an die ganze lustige Gesellschaft in Lahore. Ich denke an Tso und unsere Tage in MacLeod und an die Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit all der anderen Menschen, denen ich im Laufe der letzten Monate begegnet bin. Ich denke auch an die ängstlichen Mahnungen und Warnungen vor meinem Aufbruch: Es war, als ob ich in ein Kriegsgebiet aufbrechen würde. Kaum jemand reagierte mit Neugier auf meinen Reiseplan. Dafür warnten mich alle vor den Gefahren einer solchen Unternehmung. Danach scheint die Welt – besonders die Welt hinter der Türkei – vor allem eine Ansammlung von gefährlichen Krankheiten, religiösen FanatikerInnen, Drogendealern, Raubmördern und Taschendieben, Betrügern, maffiösen Polizisten, Landminen, ungeniessbarem Wasser und verdorbenen Lebensmitteln zu sein. Nun will ich ja nichts gegen die angemessene Vorbereitung einer Reise, wie ich sie vor hatte, sagen, doch angesichts der Wärme und Freundlichkeit, die ich in dieser scheinbar so feindseligen Welt erlebt habe, kommt mir diese übertriebene Ängstlichkeit und Vorsicht irgendwie beleidigend und beschämend vor.
Nach zwei gemütlichen Stunden im Kolkata International Airport verabschieden Vicky und ich uns vor der Sicherheitsschleuse. Er verspricht, zu schreiben oder anzurufen. Ich hoffe, dass er es wirklich tut. 15 Stunden später sitze ich im Flugzeug nach Frankfurt. Der Flug ist lang; ich fühle mich leer und traurig. Ich vermisse Indien, vermisse Vicky. Den Umweg über Singapore einschliesslich der Zeit, die ich dort auf meinen Anschlussflug gewartet habe, habe ich lesend und schlafend zugebracht.
Zwei Stunden vor Frankfurt komme ich ins Gespräch mit meiner Nachbarin, einer Frau aus Berlin, die mit ihrem Freund zwei Wochen Urlaub auf Bali gemacht hat. Ich erzähle ihr ein wenig von meiner Reise; dabei merke ich plötzlich, dass dies hier nicht das Ende einer Geschichte ist und sein darf. Es wird und muss eine Fortsetzung geben, auch wenn ich im Augenblick noch nicht genau weiss, wie diese ausschaut. Ich kann und will das, was ich erlebt habe, nicht einfach ad acta legen und zur Tagesordnung uebergehen! Das spüre ich auch heute, mehr als drei Wochen nach meiner Heimkehr. Doch vorerst gilt es, mein hiesiges Leben neu in Gang zu bringen! In diesem Sinne good bye India und good bye euch treuen LeserInnen. Danke, dass ihr mir zugehört, mitgefühlt und mitgedacht habt! Ich könnte zwar noch lange schreiben – zB über die Frage, inwieweit derartige Berichte tatsächlich "Wirklichkeit" wiedergeben oder über die Frage, inwiefern ... Doch für diesmal ist's genug. Lebt wohl und habt's gut!
Martin
[1] ("Contemplating the Navel". In Dharma Life Magazine - Buddhism for Today, issue 15, http://www.dharmalife.com/issue15/contemplating_navel.html
[2] der Fachausdruck für diese in der ganzen Familie zu verteilenden, irgendwie an das Brot und den Wein des christlichen Abendmahls erinnernden Opfergaben lautet Prasad.
[3] Nach meiner Rückkehr stöbere ich im Internet und finde dort folgendes zum Mangalagauri Tempel von Gaya: "Mangalagauri temple in Gaya has been mentioned in Padma Purana, Vayu Purana and Agni Purana and in other scriptures and tantric works. The present temple dates back to 1459 AD. The shrine is dedicated to Shakti or the mother Goddess in the predominantly Vaishnavite pilgrimage center of Gaya. Mangalagauri is worshiped as the Goddess of benevolence. This temple constitutes an Upa-Shakti Pitha - where it is believed that a part of the body of Shakti fell - according to mythology. Here Shakti is worshiped in the form of a breast symbol, a symbol of nourishment. - The temple is facing east, and is built on top of the Mangalagauri hill. A flight of steps and a motorable road lead to the temple. The sanctum houses the symbol of the Goddess and it also has some finely carved ancient relief sculptures. A small hall or mandap stands in front of the temple. The courtyard also houses a fire pit for the home. There are also two minor shrines dedicated to Shiva and images of Mahishasura Mardini, Durga and Dakshina Kali." (Quelle: http://www.durga-puja.org/mangalagauri-temple.html). – Ich stelle einmal mehr fest wie komplex das ist, was wir gemeinhin "Wirklichkeit" nennen.
[4][4] Siehe dazu und zu Kolkata insgesamt: Kolkata - bis die Augen überlaufen, von Christof Siemes, in "DIE ZEIT" 03.02.2005 Nr.6, auch unter: http://www.zeit.de/2005/06/G_9fnter_Grass
[5] http://destination-asien.de/indien/spitzl.htm
© 2005 Martin Näf, Basel