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An Angelika O., im März 1991

Ich bin seit drei Tagen auf dem Hasliberg; nach mehrheitlich trübem Wetter ist heute die Sonne gekommen, warm, hell, schön. Sehr wohltuend. Ich hab schlecht geschlafen, drei oder vier Nächte lang und spüre das die ganzen Tage durch.

Keine grosse Lust zu irgendwas und alles, was sich nach Anstrengung anfühlt, löst in mir melancholische und bedauerliche Gefühle aus. Möchte mich am liebsten verkriechen; hab gleichzeitig das Gefühl, die Tage hier nutzen zu müssen und zu wollen, um mit diesen und jenen Menschen zu sprechen, teilzunehmen, mitzufühlen und mitzutragen statt mich abzuschotten. Da ist Ives, der schokoladenbraune 15-jährige Junge im Turmhaus, Johanna, das wilde oder verwilderte Mädchen aus dem Schwarzwald, Kaspi, der Playboy aus dem Baselbiet, Klaus der ermattete Mitarbeiter, Martin, der neugierige, wache Praktikant, die ganze Schule, die sich rühmt, eine wahre Gemeinschaft zu sein, eine echte Alternative gegenüber dem Gewöhnlichen, eine Insel der Humanität, suptil auf die Gemüter der Kinder einwirkend, auf dass sie brav nachbeten, was man ihnen an wunderbaren Worten vorsagt. Die Schule, die für die Kinder einfach ein "Internat" ist, für die Meisten eher ein Übel, mit dem man sich halt abfinden muss, während sie selbst sich doch für was besseres hält.

Ich, unausgeschlafen hier oben zwischen den tausenden von Briefen, Zeitungsartikeln, Broschüren, Todesanzeigen aus dem Nachlass der Geheeb's, den Menschen mit ihren Sichtweisen, meinem tiefen Unbehagen gegenüber der immer wieder mir in die Nase stechenden Selbstgerechtigkeit, meinem Gefühl, davon nicht sprechen zu sollen, um nicht zu enttäuschen, meinen Verpflichtungen in Basel, den dortigen Projekten, meiner Unfähigkeit "nein" zu sagen oder anders: meiner nicht zu begrabenden Lust "Ja" zu sagen, dem bedrückenden Gefühl, endlich den verdammten Schmöker über den Psychopathen Geheeb, den mimosenhaften, empfindsamen Träumer, den grossen Utopisten und Kinder- Menschen- und Menschheitsfreund schreiben zu müssen, meinem grossen Widerwillen dieser Sache gegenüber ...

Draussen klingelt das Tele... nicht für mich. - Ja: Die Zeitung. "Endlich" heisst. Unterbetitelt "ein freies Bildungswesen in der Schweiz" oder "Zeitung für ein ...". Soll endlich das bringen, was die olle Maria Montessori und euer Rudolf, mein Paul, die Ellen und all die andern schon lange wollten! Eine völlige Neugestaltung der Erziehung in all ihren Bereichen und auf all ihren Gebieten, wie sie damals sagten. Ach, die guten, wie sie sich gemüt haben: Paul Oestreich, der einsame, verbitterte Kämpfer, Geheeb, die zarte Seele, Wyneken, der Hagestolz, Otto, der gemütlich deutsche! Und was ist aus allem Mühen und Knorzen geworden. Tot sind allesamt, zu ein Bisschen Staub und Erde geworden oder zu CO2. Soll man sich da noch einsetzen.

Fühle mich ja ein wenig als Versager. Da könnte man einen Menschen glücklich machen mit so wenig, wie es scheint, und tut's einfach nicht. Dabei kann ich ja nicht einmal sagen, dass ich "Liebe" nicht brauchen könnte: daheimsein, gehalten und gestreichelt, geschupst, geboxt, ermuntert, ermutigt, getröstet, angeflucht und zärtlich angeblickt zu werden: wie wohl tut dieses alles dem innern und dem äussern Menschen und macht ihn neu und jung!

Statt der grossen, brausenden, eindeutigen Liebe lebe ich zwischen verschiedenen kleinen, zarten, unsichern Lieben und Liebesarten -, alles schön, alles gut und rührend, nur eben: so ganz und unzweideutig katastrophemutige Liebe fehlt. Es säuseln zarte Winde und milde Sonne strahlt vom Himmel. Auch schön, nur eben.

Ich bin wie eine Luftmatrazze am andern Morgen. Etwas abgemattet, schlaff. Das pralle ist entwichen! Ich scheine heute nur davon zu reden: alles andere interessiert nur am Rande! Ja. Geheeb vielleicht noch, mit dem ich gestern und Vorgestern nolens volens viel zu tun hatte. Ach jetzt in irgendwelche Arme-, irgendwelche? nein - schon in bestimmte Arme - bestimmte Arme liegen, festgehalten werden, ab und zu ein wenig Zärtlichkeit und Drücken, ein Käsebrot, kein grosses, dickes, ein Glas Wein. Die warme Decke, noch einmal der Arm, die frische Luft durch's off'ne Fenster, ein grosses, warmes Bett, der Mensch noch da, doch nicht zu nah! Und dann die ganze Nacht in tiefem Schlaf und ru'igem Traum! So ist es jetzt im Paradis! Erst wenn ich ausgeschlafen habe, wach ich auf, der Welt erneut gegeben! Das ist ein Leben! Stattdessen steht bevor: 3 oder 4 Telefone zur Organisation der nächsten Tage; Nachtessen im Essaal mit 12 oder 14 Menschen an einem grossen Tisch (manchmal sehr schön, aber nichts für einen müden Kopf und ein müdes Herz). Danach ein Treffen mit 12 oder 15 MitarbeiterInnen der Ecole zum Thema "Elementar-Erlebnisse / innere Reform der Ecole" (weniger Künstlichkeit, weniger Institution. Mehr elementares Erleben). Danach vielleicht noch ein wenig mit Martin Teichmüller reden. Dann ins Bett. Hingegen morgen: ausschlafen! Aufstehen! Sonne! (hoffentlich weiss sie davon, dass sie von mir erwartet wird).

Liebe Angelika. Ich höre auf. Gerne würde ich mit Dir mal genauer über unsere Zeitungsprojekte und unsere Gefühle und Gedanken dazu sprechen: wie steht's mit unserern Motiven und unserer Motivation jenseits dieser oder jener Tagesstimmung. Was beabsichtigt ihr mit dem Projekt, bei dem Du mitarbeiten solltest? Was reizt dich daran? Wie ist's mit dem Welt Retten? Nur dumm ist das ja auch nicht, oder wie siehst Du das "eigentlich"?

Dann auch, falls Ähnlichkeiten in der Ausrichtung in Sicht sind: wie ist's mit den Möglichkeiten, hie und da zusammenzuarbeiten, hie und da zusammen am Strick zu ziehen? Wieviel nicht Anthroposophie hat denn bei Euch - falls es inzwischen ein "Euch" geworden ist - Platz? Muss ich mich vorher taufen lassen oder geht's auch so, wenn ich meine Birkenstockschuhe anziehe? Und dann: Dich sehen? Mit Dir in Berlin an irgendeinem Küchentisch sitzen und snaken. Scheint fast unerreichbar fern, die Idee, doch was heute fern scheint kann morgen schon zum Greifen nah sein. Greifen? Greifen? Anfassen? Hand in Hand durch dieses Häuserwirrnis, Hinterhöfe suchend und die kleinsten Kneipen, um an einem Tischchen sitzend im Kaffee zu rühren und die Schwierigkeit des Liebens wiedermal so recht zu spüren.1 Weitergehen, böse, traurig, ärgerlich, auch lachend, froh, lebendig. Ein Buch besorgen, etwas Essen gehen, vielleicht auch, nach dem Grunewald, noch ins Theater. Die letzten Märker nehm ich dankend dem Pleitegeier aus dem krummen Schnabel. Danach erneut die Küche und ein Bett. Vielleicht. Schau jetzt nicht hin. Man wird ja sehen. Nach Berlin? An Ostern? Schau nicht hin. Man wird es sehen.

Es grüsst, ruft "grüss dich" Dir aus fernem Wortwald zu Dein - ja wenn man's wüsste, man wüsste mehr! Doch so? - Kann Liebe nur auf einer Seite sein? Und: spiele mit dem Feuer nicht, dem Feuer nicht, dem Feuer nicht! Nur ein Gedicht. Wer Feuer sah, der hat gelogen. Man weiss von nichts und liest die Zeitung. So grüss ich Dir, ich Ofenrohr und überhaupt: verzettelt komm ich an per Brief -, vielleicht -? Wer weiss! Ich grüsse Dir!