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An Mathias B., 10. Januar 1998, Basel

Lieber Mathias! Für die schon wieder fällige Glückwünsche zum neuen Jahr komme ich inzwischen ja etwas spät: Nimm sie halt einfach so - nicht an dieses bestimmte Datum gebunden - entgegen: Als Glückwünsche ohne Grund und zeitliche Begrenzung! Glückwünsche für Dich und Susanne und die Kinder und alle, die Dir lieb und teuer sind!

Ich hatte Dich vor Weihnachten einmal auf meinem Beantworter. Wenn ich mich richtig erinnere, hast Du mich gefragt, ob ich an bestimmten Vaerting-Unterlagen interessiert sei. Nun, was es auch genau war, ich sage vorerst einmal "nein". Ich habe Dir ja schon öfter gesagt, dass ich zuerst ein Gefühl dafür kriegen muss, was ich in diesem Projekt-(Abschnitt) eigentlich will, damit ich mich nicht im Sammeln und in der wachsenden Fülle immer neuen Materials verliere. Ich werde mich - da kannst Du sicher sein - zum gegebenen Zeitpunkt mit Dir in Verbindung setzen, sei es wegen Wagenschein, wegen Vaerting, Müntz, Spira oder Buber oder wegen sonst einer Geschichte, von der ich denke, Du könntest dazu etwas wissen. Doch im Moment ... wie gesagt "nein danke" -, die Zeit ist noch nicht reif.

"Die Zeit ist noch nicht reif" ... hmmm. Vielleicht ist sie auch schon überreif, aber ich zaudere mit der Ernte. Ja, Matthias, wenn es nicht unanständig wäre - unanständig gegenüber dem Schicksal und dem Schweizer Nationalfonds, die es so gut mit mir meinen, und unanständig gegenüber einem so in Anspruch genommenen Menschen, wie Du es bist -, wenn es nicht unanständig wäre, ich wollte am liebsten ganz hemmungslos fluchen und schimpfen über die Öde und Sinnlosigkeit der ganzen Forscherei und mein damit so nutzlos hingebrachtes Leben ... Oje! Es ist schon ein Kreuz: "Kaum ist man heiisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht erschlaffen ...", das hat Hesse schon richtig gesehen. - Ich stehe mitten zwischen all meinen toten Damen und Herren - hier die Dotoressa mit einem nichtsagenden Telegramm von Geheeb in ihren Händen, dort der rehefütternde Waldschrat und Mystiker Geheeb, der mit seinem undurchsichtigen Wesen so viele bezirzte, dort der taube Herr Ferrière mit seinem militärischen Glauben an die Menschheit und die neue Erziehung, dort der Herr Ragaz, ein Eiferer vor dem Herrn, mutig und kämpferisch, aber penetrant in seinem Eifer auch er! -, hier der Herr Wartenweiler, dessen Ruhm nur lokal ist, ein ewig junger Wandervogel in den Fusstapfen des dänischen Erwachsenenbildners Grundtwig ... alle sitzen und liegen sie um mich her, dazwischen Bücher und Papiere mit lauter interessant klingenden Titeln, und wenn man sie öffnet - nicht immer, aber meistens - ödes Wortgeklapper, Repetition der ständig gleichen Phrasen ... Brrr! Dabei über mir das düstere Gefühl, das ich mich doch freuen und  dankbar sein sollte: Nur forschen und schreiben können! "Sei dankbar und freue Dich!"

Ich trinkt mit dem Pflichtgefühl und dem Ehrgeiz einen Tee, und sie reden über mich; ihre Stimmen dringen leise von oben zu mir hinab, und ich höre leichte Missbilligung in ihnen, in süssliches Mitgefühl verpackte Missbilligung. "Andere können es doch auch! Und Er ist doch im Grunde so talentiert und weiss auch viel ... Gott, ja, das Schreiben fällt ihm immer so schwer, dabei: Soll er doch einfach mal schreiben! Es ist ja schon Schade ...". Verständnis heuchelnde Missbilligung und Füsse Scharren über meinem Kopf! - Ich warte indess auf einen Menschen, der mich aus meinem Sumpf zieht -, ich warte auf das Forscherteam, mit dem ich mich plötzlich ganz verbunden fühle - "ein Herz und eine Seele!" -, nicht dieses distanzierte Klugschwätzen, wie ich es in Bern immer erlebe, dieses Beschäftigtsein mit Nichtigkeiten!

Ich warte auf die grosse Liebe, über welche dann auch alle anderen Mühseligkeiten abfliessen könnten -, die  grosse Liebe, die meine Lebensgeister weckt und wach hält, sie herausfordert, sie liebt und um sich will, sie anpöbelt und mit ins Theater nimmt, sie auskitzelt und sie dazu bringen will, gemeinsam nach Rumänien auszuwandern -, ein Geist  der mit mir und meinen Lebensgeistern durch die grossen Fragen der Menschheit und die kleinen Fragen meines Lebens wandert.

All das staut sich wiedermal in meinem Busen und macht mich mehr als alles andere Klönlustig! Klönsüchtig, klönwillig, ja klönnötig! - Weniger poetisch ausgedrückt könnte man auch sagen: Es scheisst mich an! - Das Leben ist doch immer wieder ein ziemlicher Kampf. ... Dabei spielt wirklich die Unklarheit in Bezug auf meine Arbeit, das derzeitige Fehlen jeglicher positiven Motivation und jeglicher Strategie eine wichtige Rolle: Wenn ich hier wieder klarer bin, dürfte es mir insgesamt auch wieder "besser" gehen, doch diese Klarheit wird wohl noch ein wenig auf sich warten lassen ... sie kommt; sie muss kommen -, aber ... die Sache braucht auch Zeit ...

Auf ein gutes Jahr - für Dich und mich und alle um uns her! - Martin